Felix Salten
Florian – Das Pferd des Kaisers
Felix Salten

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Zwei Tage später wurde Florian in den Marstall hinübergeführt. Ein Abschied ohne Sang und Klang. Vom Marstall war ein Bursch namens Wenzel in den Stall der Reitschule gekommen. Anton schnallte eine Decke über Florian, rief nach Bosco, und so machten sie sich mit Wenzel als Führer auf den Weg.

Im Marstall öffnete sich Anton eine neue, eine märchenhafte Welt. Hunderte und Hunderte von Pferden standen hier in endlosen prächtigen Stallungen, Lipizzaner, die Anton wie Freunde begrüßte, Kladruber, Irländer und Araber, Reitpferde, ungarische, englische und russische Tiere. Braune, Falben, kohlschwarze Rappen. Schwer gebaute und zarte Pferde. Ponies, denen die wilden Mähnen tief in die Stirne fielen. Hochbeinige, braune Maultiere, reizende weiße und perlgraue Esel, die das dunkel gezeichnete Kreuz auf dem Rücken trugen. Was war gegen diese ungeheure Fülle der spanische Stall mit seinen dreißig Lipizzaner Hengsten?

»Ein Schmarrn«, entfuhr es Anton, der hier schwelgte und die adlige Kunst jener Hengste vergaß.

Bosco eroberte seinen Platz bei Florian. Man wollte ihn verscheuchen, er kümmerte sich nicht darum und ließ sich nach dem ungewohnten langen Marsch zu Florians Füßen ins Stroh fallen. Dort blieb er liegen. Er war bei Florian und blieb bei Florian.

Der Oberststallmeister kam, als Florian zum erstenmal eingespannt wurde.

Das andere Pferd im Gespann, gleichfalls ein Lipizzaner Schimmel, hieß Capitano und war um drei Jahre älter. Er beschnupperte Florian neugierig im Gesicht, zeigte seine Sympathie für ihn, und Florian ließ sich das freundlich gefallen.

Nun standen beide, Capitano und Florian, nebeneinander an die Deichsel eines Kutschierwagens gedrängt, nickten feierlich mit dem Kopf, scharrten den Boden und harrten des Zeichens, das ihnen gestatten würde, zu laufen.

Graf Bertingen wartete, bis die Pferde sich ganz beruhigt hatten, Kopf neben Kopf, Rücken neben Rücken und Kruppe neben Kruppe standen. Dann verglich er sie sorgfältig miteinander.

»Sie passen«, sagte er, »ich hab' mir's gedacht, daß sie ein gutes Gespann abgeben werden. Vollkommen gleiche Höhe, gleiche Körperlänge, und wenn auch der Capitano eine graue Kruppe und graue Gamaschen hat, das schadet weiter nichts. Jetzt kommt's nur noch drauf an, wie der Florian sich hält, ob er gleich begreift, oder ob noch lange gearbeitet werden muß!«

Damit erkletterte er den Wagen, nahm die Zügel zur Hand und drehte die Bremse auf.

Bosco fing jauchzend zu bellen an, drehte sich und sprang zu Florians Nase empor. Anton wollte ihn einfangen, aber Bertingen sagte: »Lassen Sie den Hund!« schnalzte mit den Lippen, und die beiden Schimmel zogen an.

Florian hatte die Ohren rückwärts gedreht, horchte auf jedes Zeichen des Lenkers, hielt die Trense zwischen den Zähnen, schäumte mit nickendem Haupt und trabte gleichmäßig mit Capitano. In seiner Art, die Beine zu heben, sie knapp eines vor das andere zu setzen, verriet er den kadenzierten Schritt der Hohen Spanischen Schule.

Der Oberststallmeister fuhr in den riesigen Höfen Schleifen auf Schleifen.

Florian spürte die Peitschenschnur leise auf seinem Rücken, auf seinen Flanken. Ihm, der in der Spanischen Reitschule am losen Zügel alle Gangarten gemeistert hatte, war die Peitsche keine Mißhandlung. Nur eine sanfte Sprache war sie ihm, von jeher eine Verständigung mit dem Lenker.

Er und Capitano wechselten rasche Blicke. Capitanos Auge schien zu sagen: »Du gefällst mir, bravo, du kannst deine Sache.« Florian aber geriet in immer bessere Stimmung. Ihm gefiel das, neben einem Kameraden fröhlich zu traben, wetteifernd in Schritt und Haltung. Gesellig war das! Und so angenehm, hier in der freien Luft, im Wechsel von Sonne und Schatten.

Bosco hatte bald genug, rannte zu der Gruppe, wo Anton des Wagens harrte, streckte sich hin und ließ die Zunge hängen.

Im schärfsten Trab kam der Oberststallmeister angefahren. Ein winziger Ruck seiner Hand, und die beiden Pferde standen wie angewurzelt. Heftiges Kopfnicken, daß der Schaum in großen Flocken umherfetzte, kraftvolles Schnauben, das gut zu hören war, und sachtes Scharren der Hufe. Sonst nichts, kein Versuch, auch nur den kleinsten Schritt zu machen. Vibrierendes Insichverhalten. Deutliches Wissen: Jetzt muß man stehen, ohne Ruck stehen.

Der Oberststallmeister schlang den Zügel um den Fußtritt des Kutschbocks, zog die Bremse fest, wartete noch einen Augenblick und sprang dann vom Wagen.

Er trat zu Florian, klopfte ihm den Hals, hatte nur Lob für ihn. »Er geht wirklich gut. Wie ein altes Wagenpferd. Ganz weich im Maul. Sehr aufmerksam und sehr willig.«

Graf Bertingen sah sich um: »Ist der Gruber schon da?«

»Zu Befehl, Exzellenz«, rief ein stattlicher Mann, der in drappfarbener Alltagslivree elegant aussah. Konrad Gruber war der Leibkutscher des Kaisers. Seit länger als einem Vierteljahrhundert saß er auf dem Bock, wenn Franz Joseph im Wagen fuhr. Vor dreiundzwanzig Jahren hatte Gruber den Kaiser einmal allein in einem fiakerähnlichen Wagen geführt. Ohne Leibjäger, ohne Adjutanten. Irgendwohin. Da war in abgelegener, unbewachter Straße ein Mann auf den Wagen losgestürmt, die Hand drohend erhoben. Unentschieden, was er in dieser Hand schwang, Pistole oder Bombe. Ein Peitschenhieb Konrad Grubers hatte den Mann in die Augen getroffen, daß er geblendet niederstürzte. Ein zweiter Peitschenhieb brachte die Pferde in rasenden Galopp. Niemand wußte um diesen Vorfall. Nur Franz Joseph, Konrad Gruber und die Staatspolizei, die den Mann für immer verschwinden ließ.

Etliche Monate später erhielt Konrad Gruber über die Köpfe der Hofbehörden hinweg das goldene Verdienstkreuz mit der Krone. Er war in der kaiserlichen Gnade, war in seinem Amt unerschütterlich, hatte schon den zweiten Obersthofmeister gesehen, den dritten Oberststallmeister erlebt, war von niemand abhängig, und keinem fiel es ein, sich gegen den Leibkutscher zu stellen. Konrad Gruber kannte seine Macht und ihre Grenzen. Er war klug, wortkarg und nicht im geringsten angriffslustig. Nur bei den Wagen und den Pferden Franz Josephs ließ er sich weder dreinreden noch kommandieren. Das war seine ganz persönliche Angelegenheit, da behauptete er mit eisernem Gesicht, ohne die Miene zu verziehen oder zu reden, seine Autorität.

»Nun, mein Lieber«, sagte Graf Bertingen zu ihm, »probieren jetzt Sie einmal das neue Paar.«

Grubers feistes Antlitz, das von Verstand und Entschlossenheit beredsam modelliert worden war und ihn einem Prälaten ähnlicher erscheinen ließ als einem Kutscher, zuckte im Abglanz eines unterdrückten Lächelns. »Zu Befehl«, murmelte er kaum hörbar.

Er ging ganz langsam zu den beiden Pferden, prüfte ihr Geschirr, nahm sie bei den Köpfen und schaute ihnen ernst in die großen, dunklen Augen. Er sah imponierend aus, als er jetzt Florian zärtlich über Stirne und Nase strich. Die Neigung seines mächtigen Körpers, dick zu werden, hielt er durch eifriges Turnen und energische Massage in Schranken. Seit er den Wagen des Kaisers lenkte, hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken; er war unvermählt geblieben, um sich mit dem ganzen zähen Fanatismus seiner Natur für den Dienst aufzusparen.

Im Nu saß er auf dem hohen Kutschbock, hatte Zügel und Peitsche ergriffen, die Bremse gelöst und fuhr in schnellem Trab davon. Die Pferde waren vor dem Anziehen leicht in die Hinterhand geknickt und vorne ein wenig emporgestiegen. Es sah wild und feierlich zugleich aus.

Florian lief wie am Schnürchen.

Konrad Gruber wendete und steigerte die Schnelligkeit des Trabens. Florian dachte nicht ans Galoppieren.

In einem der kleinen Höfe lag ein Blatt Papier am Boden. Gruber hatte das angeordnet. Grell von der Sonne beschienen lag es da und schrie beinahe vor blendender Weiße.

Als Gruber darauf zulenkte, hob ein Lufthauch das Blatt. Es bewegte sich wie ein lebendiges Wesen.

Florian erschrak, tat einen Sprung, wollte durchgehen, aber von der Stahlfaust Grubers gehalten, konnte er nur zur Seite drängen. Ein Peitschenhieb traf ihn auf Hals und Rücken. Scharf wie eine Messerklinge, brennend wie Höllenfeuer. Der erste Schlag, den der edle Florian in seinem ganzen Leben empfangen hatte.

Das furchtbare Erschrecken darüber löschte sofort den Schreck vor dem Papier aus.

Gruber wendete den Wagen, beschrieb den kleinsten Kreis und hielt nochmals auf das Blatt Papier zu.

Wie er Florian keine Zeit gelassen hatte, bodenscheu zu werden, so ließ er dem in ganz kurzem Tritt stampfenden Tier auch keine Sekunde, sich gegen den Peitschenhieb zu empören.

Die Schnur kitzelte Florian in der Flanke.

Er verstand sofort, kannte jetzt die Macht dieser Schnur, und von Capitano ermuntert, fiel er in den gehörigen Trab. Ganz glatt ging es nun zu dem Blatt Papier. Florian stieß nur ein kurzes Schnauben aus, als er, vom Kutscher gelenkt, darauf treten mußte. Das war alles.

Gruber wollte bravo sagen. Aber er preßte die schmalen Lippen zusammen, daß sein Mund nur wie ein dünner Querstrich in seinem großen, glatten, kupferfarbenen Antlitz saß.

Er fuhr in den nächsten weiten Hof, ließ die Pferde laufen, ließ sie einen Bogen beschreiben und kehrte wieder in den kleinen Hof zurück, der soeben der Schauplatz seiner Erzieherstrenge gewesen war.

Nun lagen zwei Blätter dort auf der Erde, und da die bewegte Luft Gruber Hilfe leistete, begannen die beiden Blätter einen Tanz, gerade als die Pferde zu ihnen kamen. Florian wußte, was ihm drohte, wenn er jetzt wieder dem weißen Schrecken ausweichen wollte. Seine rasch arbeitende Überlegung klärte ihn auf, daß er von den tanzenden Blättern weniger zu fürchten hatte als von dem Menschen, dem er diente. Er bezwang sich, schnaubte, weil er das nicht unterdrücken konnte. Und in ungestörtem Trab ging er auf beide Papiere los, ging über beide hinweg.

Drei-, viermal umkreisten die Pferde nach dem Willen Grubers den kleinen Hof, traten ebenso oft auf die weißen, raschelnden Blätter. Capitano gleichmütig, Florian mit nickendem Kopf, mit heftig bewegten Ohren, mit furchtsam rollenden Augen unter lebhaftem Schnauben. Doch hielt er den Trab.

Florian hatte schließlich die Sache begriffen und ging nun so gleichmütig über das vermeintliche Schrecknis hinweg wie Capitano.

Zufrieden fuhr Konrad Gruber zum Stall; stieg vom Bock und befahl: »Ausspannen!«

»Nun?« fragte Graf Bertingen, weil der Kutscher gar nichts sagte. »Was meinen Sie?«

Gruber antwortete: »Gut, Exzellenz.« Dann grüßte er, indem er demonstrativ ergeben den Zylinder zog, und verschwand.

Der Oberststallmeister trat zu Florian. »Patschnaß«, sagte er.

Doch Anton hatte den Striemen wahrgenommen, der von Florians Hals den Rücken entlang bis zum Kreuz lief. Entsetzt fragend war sein Blick auf den Grafen gerichtet. Bertingen wandte sich stumm ab.

Anton bekam jedoch bald Anlaß, besser von Gruber zu denken.

Wenn der Kaiser aus der Hofburg nach Schönbrunn zurückgekehrt war, oder wenn in den Marstall telephoniert wurde, der Kaiser bleibe in Schönbrunn und benötige keinen Wagen, dann befahl der Leibkutscher, Capitano und Florian vor den Phaeton zu spannen.

Und nun ging die Fahrt hinaus, durch die Stadt oder über die Ringstraße, in den Prater. Die Hauptallee entlang, rund um das Lusthaus und zurück.

Anton wurde in eine schlichte, drappfarbene Livree gesteckt, bekam den Zylinderhut mit der Goldborte und der goldenen Seitenkokarde aufgesetzt und durfte mit.

Konrad Gruber hatte an dem stillen, bescheidenen Burschen Gefallen gefunden.

Er selbst war schweigsam und schätzte die Schweigsamkeit Antons. Er war ein Fanatiker des Dienstes, und deshalb zollte er der enthusiastischen Hingabe, mit der Anton arbeitete, stumme Anerkennung. Konrad Gruber liebte die Pferde und nur die Pferde; deshalb rührte ihn die Liebe, die Anton für Florian hegte. Anton war pflichttreu wie kein anderer, war wie kein anderer bescheiden, war ganz und gar selbstlos. Das rechnete ihm Gruber hoch an.

Und als sich dann herausstellte, daß Anton ein Steiermärker, also ein engerer Landsmann Grubers war, schenkte er ihm volles Vertrauen.

Bosco wurde jedesmal trübsinnig, wenn Florian und Capitano ausfuhren, wenn Anton den Wagen bestieg und den Hund zum Stall zurückscheuchte. Sooft Anton die drappfarbene Livree anlegte und den Zylinderhut aufsetzte, gebärdete sich Bosco melancholisch. Er wußte, nun waren Stunden bangen Alleinseins auszuhalten, saß vor der Stalltür und weinte leise vor sich hin, bis die beiden Freunde entschwanden.

Doch eines Tages wies Konrad Gruber mit der Peitsche auf Bosco und sagte: »Der Hund soll mit!«

Anton, vollständig verblüfft, zögerte und hob Bosco auf, der noch viel verblüffter war, als er in den Wagen gestellt wurde. Nur ein einziges kurzes Jauchzen stieß er aus, dann erkletterte er die kleine rückwärtige Bank, saß dort aufrecht in den Keulen und betrachtete mit kluger Miene bald das Traben Florians, bald das Gewirr der Wagen und Menschen ringsumher in den Straßen. So fuhr er nun regelmäßig mit in den Prater.

Seit diesem Tag begann Anton den finster gewaltigen Konrad Gruber aus seinem ganzen frommen Herzen zu lieben.

Gruber lenkte die beiden schönen Pferde durch den tobenden Verkehr der Stadt mit einer Behutsamkeit, als gälte es, Todesgefahren fernzuhalten.

Florian und Capitano lagen so ganz ergeben, so zu unbedingtem Gehorchen bereit in seinen Händen, spürten die kleinste Regung seiner Absichten so fein und so zuverlässig, daß es für Anton immer eine große Freude blieb, das zu erleben. Doch die größte Freude empfand er, wenn der Wagen nach dem Praterstern den Eisenbahnviadukt passiert hatte und die breite, schnurgerade Hauptallee vor ihnen lag. Die grünen, schattigen Wipfel alter Kastanienbäume, das glatte, graue Band der Straße, das sich schier endlos dahinzog. Gruber hielt den Wagen inmitten der Fahrbahn und diktierte den Pferden ein rasendes Tempo. Da gab es die kurzen Schritte nicht mehr. Die dünnen Beine wurden weit nach vorn geschleudert und fraßen den Boden in gewaltigen Bissen. Florian und Capitano flogen nur so dahin und hatten ganz sichtbar ihre tolle Lust an der eigenen Schnelligkeit. Der rascheste Fiaker, die flinksten ungarischen Jucker, die schneidigsten Russen wurden überholt. Das war Grubers Entschluß; das war die Leidenschaft von Florian und Capitano. Es gelang immer. Zum Jubel Antons. Wenn den Pferden die Pause gegönnt wurde, rund um das Lusthaus oder auf dem Rückwege ein gutes Stück langsamen Schritt zu gehen, tanzten die Lipizzaner so zierlich, als kämen sie eben frisch und vergnügt aus dem Stall.

Bosco aber, dem das scharfe Tempo ein wenig Übelkeit verursacht hatte, erholte sich von dem Zustand des Schwindligwerdens, indem er ein dutzendmal hintereinander gähnte.

Als der Phaeton wieder einmal bereit stand, kam der Oberststallmeister hinzu. »Ich will selbst sehen, ob wir soweit sind«, sagte er zu Gruber.

Anton erhielt den Wink, sich hinten im Wagen hinzusetzen. Zaghaft nahm er seinen Platz ein. Den Hund wollte er davonjagen. Er traute sich nicht, den armen Bosco, der schon sehnsüchtig den Wagen umwedelte, mitfahren zu lassen.

Doch Gruber mochte meinen, der Unterschied zwischen ihm und dem Grafen Bertingen sei nicht so erheblich. Es mag aber auch sein, daß er mit Bosco Erbarmen hatte, genug, im Augenblick, als die Pferde anzogen, setzte er den Hund neben Anton.

Es ging über die Ringstraße, in den Prater. Doch diesmal gab es in der Hauptallee kein herrliches Schnelllaufen, obwohl Florian und Capitano den Versuch gemacht hatten, das erfrischende Tempo einzuschlagen. Als Bertingen vom Kutschbock stieg, streifte er den Hund mit einem markiert erstaunten Blick, sah Anton nicht eben liebreich an, sagte jedoch kein Wort. Zu Gruber, der ihn erwartet hatte, sprach er: »Nun, mein Lieber, ich glaube, wir sind soweit.«

»Morgen werden die beiden Seine Majestät fahren«, erwiderte Gruber, als wäre das eine längst beschlossene Sache.

Später fragte er Anton so nebenbei: »Wie kutschiert er denn, der Exzellenz?«

Anton zuckte die Schultern: »Die Pferde gehn von selbst.« Gruber schwieg und zeigte nicht, daß er sich freute.

Am andern Morgen, sehr zeitig, hielt der offene Wagen mit den vergoldeten Radspeichen zu Schönbrunn an der inneren Treppe. Capitano und Florian waren vorgespannt. Konrad Gruber im drappfarbenen Mantel, den Zweispitz auf dem Kopf, hielt die Zügel.

Die Pferde stampften, daß es vom Gewölbe widerhallte. Ihre Ohren bewegten sich fortwährend, als harrten sie ungeduldig des Zeichens, das ihnen erlaubte, loszurennen.

Franz Joseph erschien, gefolgt vom Generaladjutanten und vom Leibjäger.

Der Kaiser war mürrisch und gönnte dem neuen Gespann keinen Blick.

Der Generaladjutant zeigte eine tiefernste Miene. Er sah überhaupt nichts.

Der Leibjäger sprang wie der Blitz zum Kutschbock empor, kaum daß sein Herr im Wagen saß.

Und flugs trabten die Pferde durch den Korridor, bogen im schärfsten Winkel nach links hinaus zum Schloßhof.

Ihre beiden nickenden Häupter waren kaum sichtbar, als der Wachtposten schon »Gewehr heraus!« rief.

Dreimal rief er das, denn der dreimalige Salut gebührte dem Kaiser. Dreimal ein langgedehnter, beinahe ein klagender Schrei, der im weiten Hof zerflatterte. Er war noch nicht verklungen, als schon das Kommando ertönte, als die Trommel den Generalmarsch schlug und die Wachtkompanie in Front präsentierte. Dann senkte sich die Fahne. Es war eine militärische Zeremonie, feierlich, prunkvoll, von starkem Eindruck.

Langsam rollte der Wagen inmitten des Ehrenhofs dem breit geöffneten Gittertor zu. Florian tanzte den spanischen Tritt beim Klang des Trommelwirbels, bewegte die Ohren, als erwartete er, Musik zu hören, wiegte den runden, weißen Leib in den Gelenken der Beine, die knappen Raum griffen. Capitano bemühte sich, es Florian in allem gleichzutun.

Mit tiefem Beugen des Halses, dann wieder mit feurig hochgeworfenem Kopf vollführten die beiden Pferde den Auszug aus dem Schönbrunner Schlosse als ein triumphales Schauspiel. Im Vorbeifahren musterte Franz Joseph die Wachtkompanie und lehnte sich, als der Wagen hinaus zur Straße kam, in die Kissen zurück. Konrad Gruber hatte wieder die Lippen zusammengepreßt. Er wußte genau, was er tun wollte.

Der Kaiser hatte Florian nicht beachtet, hatte Capitano nicht gesehen. Gruber war gekränkt und entschlossen, die Aufmerksamkeit Franz Josephs zu erzwingen. Ganz sacht beschleunigte er das Tempo. Unmerklich blieb für die Insassen des Wagens der zarte Übergang zu vermehrter Schnelligkeit. Schräg durch den Volkspark jenseits der Brücke lag eine Fahrbahn, nur dem Kaiser gestattet, die eine Abkürzung zur allgemeinen Straße bildete. Konrad Gruber passierte sie schon rascher als je mit andern Pferden. Hinausgelangt zur Rudolfsheimer Hauptstraße, die in die Mariahilferstraße mündete, begannen die Pferde zu rasen. Sie stoben nur so dahin, hatten einen gestreckten Trab von wunderbarer Gleichmäßigkeit.

Der Kaiser merkte dieses Dahinsausen sehr bald. Er gewahrte die Geschwindigkeit an der Art, wie die Menschen, die grüßend den Hut zogen oder gaffend stehenblieben, verschwanden, als hätte sie ein Sturm weggefegt.

Franz Joseph lächelte. Er konnte sich mit den neuen Automobilen nicht befreunden; aber er liebte es, so im Sturm dahinzujagen, mitten durch die Menge, der er nahe und doch unerreichbar blieb, die ihn betrachten wollte, doch nichts als einen flüchtigen Schimmer seines Profils zu sehen bekam.

Er schwieg. Nur sein Antlitz nahm einen milden Ausdruck an und wurde endlich heiter.

Im Nu war der Gürtel überquert, war man in der Mariahilferstraße.

Daß der Kaiser sich in guter Stimmung befand, spürte der Generaladjutant, spürten der Leibjäger und Konrad Gruber. Die gute Stimmung des schweigenden Kaisers spürten sogar die beiden Pferde, die jetzt in herrlicher Schnelligkeit über die Ringstraße fegten. Als sie in das äußere Burgtor einbogen, wurden sie vom Rufen der Wache, vom Wirbeln der Trommeln begrüßt. Gleichmäßigen Schrittes tanzten sie anmutig und feierlich durch die grünende Weite des Heldenplatzes. Leute rannten von den Seitenwegen zur Straße heran, schwenkten die Hüte oder standen entblößten Hauptes am Rand des Fahrdamms. Den mittleren Torbogen des alten Burgbaues durchtanzten sie, kamen auf den Franzensplatz, den großen inneren Burghof, der einem Festsaal glich. Hier wurden sie wieder von dem Gewehrruf der Hauptwache empfangen, vom Wirbel der Trommeln, vom Säbelblitzen und vom leisen Seidenrauschen der gesenkten Fahne. Im Schwung eines halben Achters umkreisten sie das Denkmal Franz I. und hielten im Flur des Reichskanzleitraktes, stampfend und schäumend.

Der Kaiser stieg aus und wandte sich sogleich zu den Pferden.

»Das ist der Florian«, sagte er, was Florian mit lebhaftem Kopfnicken selbst zu bejahen schien.

»Zu Befehl, Majestät«, gab Gruber Bescheid.

Der Kaiser lachte: »Er hat schon vor dir geantwortet, Gruber. Und wie heißt der andere . . . ach richtig, Capitano, ich weiß. Die zwei gehn wie die Teufel! Die behalten wir. Nicht wahr, Gruber?«

Knapp erwiderte Gruber: »Zu Befehl, Majestät.«

Einen Schritt trat der Kaiser zurück, um Florian zu betrachten. »Der ist wirklich tadellos! Wunderschön! Der Beste war er in der Spanischen Reitschule. Der Allerbeste. Erfolge wie der Caruso. Und auf einmal will er nicht mehr. Launenhaft wie alle großen Künstler. Na, Gruber, wir zwei haben den Nutzen davon, ich und du.«

»Zu Befehl, Majestät.« Gruber sagte fast niemals etwas anderes. Mochte Franz Joseph schelten oder scherzen, das war sein Recht. Der Kutscher nahm sich nie etwas heraus.

Im Flur stand der Generaladjutant am Fuß der Treppe stramm. Der Leibjäger, den federbuschgeschmückten Zweispitz in der Hand, wartete entblößten Hauptes neben dem Wagen. Konrad Gruber brauchte sein Haupt nicht zu entblößen. Er saß auf dem Kutschbock, hielt die Zügel, gab auf die Pferde acht und war von allem befreit, wodurch er etwa das kleinste Tempo versäumen konnte.

»Sehr gut, Gruber«, lächelte Franz Joseph zu ihm empor. »Es hat mich sehr gefreut, so zu fahren wie heute. Warte drüben im Stall, und laß die zwei da ausruhen!«

»Zu Befehl, Majestät.«

Gruber wußte ohnehin, wie die Order für diesen Tag lautete. Daß der Kaiser persönlich den Auftrag wiederholte, war ein seltenes Zeichen höchster Gunst.

Ganz langsam fuhr er in das Marstallgebäude zurück.

 

Das lebhafte Treiben, das im kaiserlichen Marstall herrschte, bot für Anton ein unterhaltsames Vergnügen. Andauernd erlebte er Überraschungen, die seine Schaulust beifällig hinnahm. Verwirren konnte ihn überhaupt nichts. Mit allem, was Pferde anging, fühlte er sich eng verbunden, dem Marstall aber traute er jedes Wunder zu. Er empfand niemals Neugier, blieb allein, widmete sich vor allem Florian, spielte mit Bosco und pflegte die andern Pferde, die ihm außerdem zugewiesen waren, gewissenhaft, doch ohne besondere Liebe. Florian war der einzige, den er liebte. An den vielen Stallknechten ging er höflich vorüber, hatte keine Freunde und suchte auch keine Freundschaft. Von den vielen Kutschern, die er grüßte, wenn der Anlaß das verlangte, existierte für ihn nur ein einziger: Konrad Gruber. Der aber dachte nicht daran, dem Anton die Pferde, die Maultiere und Esel oder die Prunkwagen, die historischen alten Karossen zu zeigen. Und Anton fiel es niemals ein, sich da umzutun oder sich von jemand führen zu lassen. So lernte er nur allmählich die große Arbeit kennen, die hier geleistet wurde, nur das, was er zufällig zu sehen bekam. Da waren Wagen für das Gefolge und für die Hofbeamten. Coupés, die geschlossen waren und leichte, offene Viersitzer oder breite Visavis-Wagen. Da gab es große, weitbauchige, geschlossene Kaleschen, die an Sonntagen des Morgens die Sängerknaben aus dem Piaristenkloster holten und in die Hofkapelle zum Hochamt brachten. Küchenwagen gab es mit hohem Lenkersitz und dahinter nur einem offenen Bretterverschlag. Ähnliche, aber kleinere Fuhrwerke waren da, vor die große braune Maultiere gespannt wurden. Diese Muli trugen ein fremdartiges Geschirr, hatten rote Netze mit roten Quasten daran über Ohren und Hals geworfen, und an dem dünnen Kummet klingelten leise kleine silberne Schellen. Das nahm sich immer wenig ernsthaft aus, glich immer einem Kostümscherz.

Antons große Aufmerksamkeit wurde von Grubers Bemühungen, Sechserzüge und Achterzüge zusammenzustellen, in Anspruch genommen. Gruber postierte regelmäßig Florian neben Capitano an die Spitze des Gespanns. Waren es sechs Pferde, die den Wagen zogen, dann ritt Gruber auf Florian, gab es acht Pferde, dann kutschierte er.

Die Lipizzaner Schimmelhengste, die dazu verwendet wurden, die Gruber genau aufeinander abstimmte, hielten gute Kameradschaft. Zu sechst oder zu acht vor einen Wagen gespannt zu sein, galt ihnen immer als ein Fest. Sie empfanden das Feierliche der Gelegenheit und gefielen sich in ihren stolzesten Gebärden. Sie freuten sich, gemeinsam einen Dienst zu tun, den sie zwar nicht begriffen, dessen Zweck sie nicht ahnten, der sie aber zusammenführte. Und das genügte ihnen.

Florian fühlte sich beglückt, wenn er mit Capitano an der Spitze solch eines Zuges die Höfe des riesigen Marstallgebäudes durchfuhr. Er war der Erste. Er hatte das ruhig sichere Empfinden, der Erste zu sein. Und aus diesem Empfinden war er liebenswürdig, war freundlich zu den Kameraden, war eifrig im Gehorchen, war mit aller Welt zufrieden, war eigentlich bescheiden.

Es ist der gleiche Ehrgeiz, der in der Seele von Menschen und Tieren fiebert. Nur ein Unterschied trennt da das harmlose Tier vom Menschen. Ränke, Schliche, Intrigen, vor allem Lügen bleiben den Tieren fremd. Bei den Menschen geschieht es oft, daß einer sich zum ersten Platz drängt, stiehlt, schlängelt, dem gerechterweise nur die dritte oder vierte Stelle gebührt. Er biegt oder bricht die Gerechtigkeit, er versteht es, sich durch Dreistigkeit, Protektion oder kommishaften Geschäftssinn nach vorn zu schieben. Doch er weiß, was er getan hat, er hegt in seinem Innern eine dumpfe, niedergehaltene Kenntnis seines eigenen minderen Wertes. Das läßt ihn auch auf dem errungenen ersten Platz weder glücklich noch liebenswürdig, am allerwenigsten bescheiden sein. Er ist stets unsicher, seiner selbst und der öffentlichen Meinung unsicher. Dieses Unbehagen will er vor sich selbst, will er der Welt gegenüber nicht merken lassen und versucht es mit großsprecherischen Phrasen über den eigenen Rang, besonders aber mit einem herausfordernden Hochmut zu überdecken. Immer ist Hochmut albern, und immer ist er ein Zeichen für mangelnde Talente. Geistvolle und begabte Menschen kennen den Hochmut nicht. Tiere, zum Unterschied von Menschen, kennen nur einen einzigen Weg, den ersten Platz zu erringen, den offenen Wettkampf. Der Auerhahn, der Hirsch behauptet seinen ersten Rang mit dem Recht des Fähigen. Er weicht, wenn einer kommt, der mehr Fähigkeiten aufweist. Tiere sind einfach und ehrlich. Bei ihnen gibt es keine Fälschungen, keine Hochstapelei, nicht einmal die leiseste Regung zu solchen niedrigen Dingen. Dem von Natur Überlegenen unterwerfen sie sich bedingungslos.

Florian war der Erste. Durch friedlichen Wettkampf im Dienste des Herrn. Durch die natürliche Entscheidung, die der Mensch nur gefällt hatte, weil er nicht anders konnte. Der Erste war Florian in der Spanischen Reitschule gewesen und blieb es hier an der Wagendeichsel. Nach ihm wurden die übrigen Pferde gemessen und gewertet. Sie stellten sich selbst, wenn auch unmerklich, in ihrem Rang hinter Florian, hatten eine fröhliche, eine zufriedene Anerkennung für diesen gefunden, bezeigten ihm Freundschaft und empfingen von ihm alle Zeichen herzlicher, bescheiden zuverlässiger Freundschaft.

Anton war jedesmal seelenvergnügt, wenn Florian als erster einem Sechsgespann vorantrabte. Gruber saß als Reiter im Sattel, und es ging flott durch die weiten Höfe. Bosco rannte voraus. Er bellte bei solchen Anlässen nicht. Er hatte so etwas wie Respekt vor den drei Paar Schimmeln, die da hintereinander trabten, vor Gruber, der dann ein Reiter und kein Kutscher war. Der Foxterrier sprang auch nicht wie sonst zu Florians Nase empor. Ganz ruhig lief er im Hundetrab, etliche Schritte vor Florian. Aber wenn dann der Wagen zum Stall zurückkam, wenn Florian abgeschirrt wurde, wenn er Anton in die Box folgte, konnte sich Bosco nicht mehr halten und brach in lautes Jauchzen aus.

Das Gespann zu acht hatte immer nur einen langsamen Schritt. Gruber kutschierte mit sorgsamer Genauigkeit. Er achtete auf jede Bewegung der zweiunddreißig Beine, der acht Hälse und Köpfe, der acht standartengleichen Roßschweife. Bosco ging dann, als spazierte er mit seinem Herrn an der Leine.

Wurden Florian und Capitano vor den Wagen mit den goldenen Radspeichen gespannt, erschien Gruber mit dem golden geborteten Zweispitz, so saß Bosco auf seinen Keulen dabei, betrachtete die Zurüstung aufmerksam, mit gespitzten Ohren, mit schiefem Kopf und ließ den Wagen einfach davonfahren, ohne den Versuch zu machen, mitzulaufen.

Dann gab es endlose, leere Stunden, während welcher Bosco anfangs nicht von Antons Seite wich. Nach und nach aber wurde er sorgloser, strolchte in allen Ställen umher, vagabundierte durch die Höfe. Was vier Füße hatte hier im Marstall, das kannte Bosco bald viel genauer als Anton. Er wußte, daß dort in jenem Stall, wo die Rappen standen, eine rotbraune Bulldogge hauste, ein Kerl, der grimmig aussah, aber sehr freundlich sein konnte. Bei der ersten Begegnung hatte Bosco eine scharfe Auseinandersetzung mit ihm. Da Bosco sich tapfer hielt, wurde der Boxer nett, und ihre weiteren Beziehungen gestalteten sich durchaus angenehm. Bei den Maultieren gab es ein paar Stallpinscher, eisengraue Burschen mit harten, langen Haaren und schwarzschnauzigem, tiefernstem Gesicht. Bosco verstand, daß diese Hunde gar keine Lust zu Spielereien hatten und nicht mit sich spaßen ließen. So beschränkte er sich ihnen gegenüber auf den Austausch kühler Höflichkeiten. Ein lebhafter Spitz gefiel ihm besser, und der legte auch für Bosco großes Wohlgefallen an den Tag. Die Foxterrier als seine Verwandten brachten ihm alle Gewohnheiten verwandtschaftlichen Umgangs entgegen, intimen Haß, brüderlichen Neid, Feindseligkeiten des gleichen Blutes und zärtliches Verstehen, das für vieles entschädigte. Bosco hatte während der Jahre in Lipizza und in der Spanischen Reitschule seinesgleichen kaum je beachtet. Nach dem engen Stall und dem kleinen Hof hinter dem Schwibbogen umgab ihn jetzt der Marstall mit seinen freien Plätzen, seinen massig hohen Gebäuden und Wohnungen, mit der Menge von Pferden, Hunden, Wagen und Menschen wie eine Stadt. Boscos Erdentage hatten sich geweitet. Seine Anhänglichkeit an Florian und Anton blieb so innig wie je. Von diesen beiden Geschöpfen war er, je mehr die Zeit hinging, nicht zu trennen. Niemand kümmerte sich um den kleinen flinken Fox, und niemand dachte denn auch daran, in das Schicksal dieses Hündchens einzugreifen. Bosco war ein Nichts und war in seinem Nichts glücklich. Eine Veränderung hätte er nicht überlebt.

 

Ein Tag der Wirrnis, des Zankes, der Aufregung kam für den ganzen Stall.

Kaiser Franz Joseph lag krank in Schönbrunn. Er hatte sich eine Erkältung zugezogen. Die Nachrichten lauteten ernst. Und wenn sie, wie das von gewissen Seiten gern geschah, übertrieben wurden, lauteten sie hoffnungslos.

Die Partei des Thronfolgers begann sich geschäftig zu regen. Leute, die auf Franz Ferdinand hofften, trugen den Kopf höher, den Nacken steifer. Sie befahlen, wo sie sonst schwiegen, regierten, wo sie bisher sich duckten. Sie wirtschafteten, als wäre der Thronwechsel schon vollzogene Tatsache.

Die alten Diener des alten Kaisers ließen das ängstlich, eingeschüchtert, traurig und verzichtend geschehen.

Am Morgen dieses Tages lief Anton zu Konrad Gruber in die Stube.

Gruber hatte sich eben rasiert und starrte den Eindringling stumm fragend an.

»Der Florian ist fort . . . und der Capitano auch«, stammelte Anton.

Grubers stumme Miene begehrte nähere Auskunft.

»Ich hab' sie anspannen müssen«, ergänzte Anton.

Und weil noch immer keine Antwort kam, fügte er zur eigenen Rechtfertigung hinzu: »Befehl vom Herrn Hofrat.«

Schweigen.

Zögernd sagte nun Anton: »Für . . . den Erzherzog Franz Ferdinand . . .«

Ein Wink, und Anton verließ rasch das Zimmer.

Gruber sprang zum Telephon und klingelte Schönbrunn an.

Nein, der Herr Oberst von der Kabinettskanzlei genügte ihm nicht. Er wollte den Generaladjutanten sprechen. Sofort!

Als er dessen Stimme vernahm, meldete er das Geschehene. Ruhig, besonnen, maßvoll, doch im Unterton war die verhaltene Entrüstung deutlich.

Der Generaladjutant lachte: »Nicht zu glauben diese Ungeduld, und gottlob arg verfrüht.«

Gruber wagte die Erkundigung: »Es geht besser?« Seine Stimme bebte.

»Majestät sind heute außer Bett, aber niemand etwas sagen! Schluß.«

Konrad Gruber mußte sich setzen. Ihm wankten die Knie. Er wischte sich die Stirne, atmete tief und fing zu beten an. Den Kopf zu den gefalteten Händen gebeugt, lautlos. Nur die Lippen bewegten sich.

Als er später seine Toilette vollendete, klingelte das Telephon. Befehl aus Schönbrunn im Auftrag des Kaisers: Florian und Capitano augenblicklich zurückfordern. Diese Pferde, wie überhaupt alle Leibpferde Seiner Majestät, dürfen zu keinem andern Dienst verwendet werden.

Der Oberst aus der Kabinettskanzlei wiederholte: »Zu keinem andern Dienst!«

Fertig angezogen, verließ Gruber seine Wohnung und begab sich zum Haupttrakt, um den Herrn Hofrat aufzusuchen.

Auf dem Weg dahin gewahrte er, daß ihn manche der Kutscher, Stallknechte und niederen Beamten weniger respektvoll als sonst, manche gar nicht mehr grüßten. Er merkte sich jeden einzelnen genau.

Der Hofrat ließ ihn warten. Absichtlich lange. Gruber verstand, er sollte sich als Abgetaner empfinden.

Als er dann vor dem Schreibtisch stand, kramte der Hofrat eine ganze Weile in Papieren herum, ehe er gleichgültig fragte: »Was wollen Sie?«

Ohne Umstände sprach Gruber: »Sind die beiden Schimmel Seiner Majestät vom Belvedere verlangt worden?« Das Belvedere war die Residenz Franz Ferdinands.

Der Hofrat blickte belustigt zum Fenster hinaus: »Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig.«

»Irrtum!« Gruber hatte eine gelassene, überaus präzise Art der Rede. »Falls Sie sich erlaubt haben . . .«

»Was unterstehen Sie sich?« fuhr der Hofrat auf. Er brüllte: »Wer sind Sie? Sie ganz gewöhnlicher Kutscher! Sie scheinen nicht zu wissen, daß Ihre Herrlichkeit ein Ende hat! Und wollen frech sein? Hinaus mit Ihnen!«

Konrad Gruber verharrte ungerührt und regungslos, als hätte der Hofrat einen Steinblock angebrüllt. Nach einer kurzen Pause sagte er mit der gleichen Ruhe: »Ihre Herrlichkeit ist zu Ende, falls Sie sich erlaubt haben, aus eigenem Antrieb über meinen Kopf hinweg die Lieblingspferde Seiner Majestät ins Belvedere zu schicken.«

Leichenblaß hörte ihn der Hofrat an. Wenn Gruber derart bestimmt und ohne Furcht sprach, dann wußte er sicherlich mehr als irgendeiner hier im Marstall. Dann war vielleicht das Wunder geschehen, und der achtzigjährige Franz Joseph stand gesund von seinem Krankenlager auf.

»Ich überbringe den Befehl Seiner Majestät des Kaisers«, sagte Gruber eiskalt. »Das Gespann ist sofort zurückzufordern. Die beiden Schimmel dürfen zu keinem andern Dienst verwendet werden. Das gleiche gilt für alle andern Leibpferde Seiner Majestät.«

Ohne Gruß ging er hinaus.

Der Amtsdiener hatte den Hofrat brüllen gehört, hatte horchend auch die Worte Grubers vernommen und sich vor diesem, als er langsam das Vorzimmer durchschritt, devot verbeugt.

Voll verzweiflungsvollem Eifer telephonierte der Hofrat mit dem Belvedere, telephonierte überallhin, wo sich, nach den Auskünften, die ihm geworden waren, der Erzherzog Franz Ferdinand aufhalten konnte.

Überstürzt gab er den Auftrag, schnellstens den gewöhnlichen Leibwagen des Erzherzogs mit der gewöhnlichen Bespannung nach Breitensee zu schicken. Den anderen Wagen hatte er von dort schon heimwärts beordert.

Rasch lief die Schilderung dieser Vorgänge durch den Marstall.

Was sich in Schönbrunn begeben hatte, wußte niemand. Aber alle wußten, Franz Joseph hatte befohlen. Das genügte.

Gruber stand vor dem Stall, um die Rückkehr seiner Pferde zu erwarten.

Anton saß bescheiden auf einer kleinen, tragbaren Bank vor der Tür, Bosco zu seinen Füßen.

Nach und nach war eine ganze Menge Menschen aus den Ställen, aus den Wagenremisen, aus den Kanzleien hervorgesickert und hatte sich um Gruber geschart. Als er aber zeigte, daß er keinem Gespräch zugänglich war, sondern allein sein wollte, hielten sie sich in einiger Entfernung von ihm.

Der Wagen kam. Florian und Capitano tanzten in kurzem, bedächtigen Trab heran. Sie erregten ein Aufsehen, als erblickte man sie zum erstenmal.

Während Anton die beiden Hengste ausspannte, nahm Gruber den Kutscher aufs Korn. Es war Pawlitschek, der den Thronfolger meistens führte, und an den Franz Ferdinand sich gewöhnt hatte. Gruber sagte kein Wort. Er gelobte sich nur, Franz Ferdinand werde sich an einen andern Kutscher gewöhnen müssen, und Pawlitschek werde künftig mit Küchenwagen fahren.

Plötzlich klang dicht neben ihm die Stimme des Hofrats: »Nun sind sie ja wieder da, die Leibpferde Seiner Majestät. Jetzt ist alles in schönster Ordnung, nicht wahr?« Gruber hörte nicht, wollte ihn nicht hören.

Der Hofrat schluckte, blickte mit einem süßen Lächeln umher, trat dann ganz nahe zu Gruber und redete in einem demütig schmeichelnden Ton: »Es war ein Versehen, nichts weiter als ein Versehen. So etwas kann doch vorkommen. Ich bitte Sie, bereiten Sie mir keine Unannehmlichkeiten. Wir sind doch immer ganz gut ausgekommen.«

Gruber kehrte ihm schweigend den Rücken, folgte Anton in den Stall und schloß die Türe.

Eine Woche nachher wurde der Hofrat in den Ruhestand versetzt. Ohne Auszeichnung, mit allen Merkmalen der Ungnade des Oberststallmeisters. Den Kutscher Pawlitschek steckte man einfach zum Schwerfuhrwerk.

Aus dem Belvedere jedoch erzählte man eine Geschichte, die teils mit Schadenfreude, teils mit Rührung angehört wurde.

Franz Ferdinand sei durch diesen Vorfall keineswegs in Zorn geraten. Ganz still, tief erschüttert habe er die Hände zum Himmel erhoben. Das Intermezzo mit den Pferden blieb ihm gleichgültig. Die überraschende vollständige Genesung Franz Josephs verstörte sein Gemüt. »Ich komme nie dran!« rief er. »Nie! Er lebt ewig! Er wird jedenfalls länger leben als ich!«

 


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