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Für alle die Einfachen und Niedrigen, die aus den bunten Provinzen des Reiches in Wien zusammen strömen, für alle die Jugend, die aus Dörfern und kleinen Städten in die Großstadt zieht, um da zu arbeiten, zu dienen, zu darben und sich zu schinden, ist hier ein Trost. Junge Mädchen, die in den Wohnungen der Bürgersleute am fremden Herd stehen, junge Bursche, die in den Kasernen exerzieren, eine ganze junge Menschheit, die in der ungeheuren Stadt kein Zuhause hat, die im Wirbel dieses brausenden Lebens verlaufen und einsam ist, findet hier, im rauchig-dunstigen Saal ein Stückchen Heimat.
Musik, die bescheidene Tanzmusik der armen Leute, die anspruchslose M-ta-ta-M-ta-ta-Musik gibt hier Illusionen und verwandelt die Szene. Sie spielt einen Ländler, eine kleine fröhlich sich schmiegende Melodie, eine Melodie, die sich wie ein Kind rund um sich selbst im Kreis dreht. Wieder absetzt, und sich wieder rund um sich selbst weiter dreht, vergnügt, zufrieden, und mit einer langsam aus dem ewigen Gleichmaß sich steigernden Kraft. Da stampft der Boden von den Tritten harter Bauernstiefel, ein Juchschrei steigt da und dort aus der Menge, als wolle ein junges Männerherz die heimatlichen Berge grüßen. Und jetzt ist hier Steiermark, Salzburg, Tirol, irgend ein Alpenland, das seine Kinder umfängt.
Die Musik spielt eine Kreuzpolka, eine in kurzen Rhythmen daher hopsende Weise, eine mit hastigen Atemstößen ins Blech schmetternde Melodie, ein Übermut, der spöttisch und melancholisch zugleich ist, und tiefer gefärbt, von einer heißeren Sinnlichkeit.
Jetzt drehen sich mit steifen Rücken und kurzen Leibchen die Gestalten, die Uprka so wundervoll gemalt hat. Jetzt ist hier Böhmen, ist hier das sonnige Hügelland von Mähren und die üppig prangende Ebene der Hanna.
Einen Czárdás stimmt das Orchester an, und jetzt ist hier Ungarn. Das wechselt und wühlt durcheinander. Das verträgt sich und gönnt einander die fünf Minuten Heimatszauber. Hier lehnt sich keiner gegen das Lied des andern auf, und jeder kennt hier, ohne daß es ausgesprochen werden müßte, ohne daß es diesen einfachen Gemütern jemals einfiele, dergleichen zu denken oder es auszusprechen, die heimatlose Verlaufenheit, die Sehnsucht nach Hause, nach der Wurzelscholle, kennt sie an sich und an anderen. Und ob nun die Musik einen Walzer spielt, einen Ländler, eine Kreuzpolka oder einen Czárdás, allen diesen Menschen hier ist eines gemeinsam: daß sie fremd sind in dieser riesigen Stadt, von deren Arbeitsmühlen sie verschlungen, in ihrem Wesen entfärbt, zerrieben und verbraucht werden. Da ist in ihnen allen das Verlangen, Gesichter zu sehen, die ihnen irgendwie von Kindheit an vertraut sind, die sie an Kindertage, an Vaterhaus und Heimatdorf irgendwie erinnern. Da ist in ihnen das Verlangen, Worte zu hören, die aus den kargen Kinderjahren noch in ihnen nachklingen. Muttersprache. Und in ihrer Jugend ist das Verlangen, die Arme auszubreiten nach einem Genossen, nach einem Gefährten dieser Jugend, das Verlangen, von starken Armen umschlungen und angefaßt zu werden.
Einfach, wie nirgendwo anders sonst, enthüllen sich hier die einfachen menschlichen Triebe. Die Lust des Weibes am Manne. Die Lust des Mannes am Weibe. Von ihrer aufrichtigen Kraft ist die Atmosphäre dieses Saales ganz erfüllt. In der Musik hat diese Lust ihre Stimme bekommen, erhebt ihren Ruf und lockt zu Paaren, was für die Stunden eines Abends, für die Freuden einer Nacht zusammengehört. Unschuld gibt es hier nicht, wenigstens nicht in unserem Sinne, nicht im gesellschaftlichen Sittlichkeitsbegriff. Aber diese jungen Mädchen aus dem Volk, deren Wangen noch frisch und leuchtend sind von der frischen Luft ihrer heimatlichen Felder, deren Arme an der Außenseite noch braun gebrannt sind von der Sonne, in deren Licht sie gearbeitet haben, diese jungen Mädchen mit dem straffen Gang und der biegsamen Haltung ihrer frischen, gesunden Leiber, mit den sanften, neugierigen und wie unter Liebesträumen berauschten Augen, haben die Unschuld und Sündlosigkeit der Natur. Eine prachtvolle Hingegebenheit ist in ihrem Tanze. Sie verrichten ihn wie ihre Arbeit, gleichmäßig, ausdauernd, unermüdlich, und von dem gleichmäßig drehenden Rhythmus nach und nach betäubt. Eine merkwürdige, beinahe andächtige Nachdenklichkeit ist in ihren Mienen, wenn sie an die Brust ihres Tänzers geschmiegt vorüber gleiten. In ihrer Umarmung ist Erwarten und zugleich ein Vorherwissen. Und manche von ihnen hat jetzt schon in ihrem Antlitz einen Schimmer jenes sanften Duldens, jener stillen Ergebenheit, womit die Frauen so oft in langen Schmerzen das kurze Glück ihrer Frühlingstage büßen.
Man kann Jahre lang, Jahrzehnte lang in solch einen Saal nicht hineingeschaut haben; wenn man dann aber von ungefähr wieder einmal beim »Fünfkreuzertanz« vorbeikommt, und hinzutritt, ist es dieselbe Jugend, die sich hier dreht. Dieselben Gesichter scheinen es zu sein, die sich einander nun zuneigen. Dieselben Bursche, im Soldatenrock, fesch, kraftvoll, wütend in ihrer triebhaften Freude, wie junge Stiere. Dieselben Bursche, im Sonntagskleid der Handwerker und Fabriksarbeiter, aber von der dumpfen Enge ihrer Werkstätten, vom Alkohol und von der Verruchtheit der Großstadt schon in ihrem Wesen und in ihren Mienen entfärbt.
Es scheinen immer noch dieselben Mädchen zu sein, aus allen Gegenden der Monarchie zusammengetrieben, jung aufgeblüht, bereit, sich darzubringen. Und die anderen, von denen ein paar Jahre in Wien schon alle Blüte abgestreift haben, die nun statt ihrer neuen, färbigen Kopftücher Damenhüte von unwahrscheinlicher Eleganz und märchenhafter Verschollenheit tragen, in ihrer Art schon hoffnungslos verfälscht und in der Offenherzigkeit ihrer frühen Instinkte schon von Laster und Lüge angehaucht sind.
Über alle aber schlägt in blechernen Weisen schmetternd die Musik zusammen, und es scheint auch dieselbe Musik von einst noch zu sein. Der ganze Saal dampft von Jugend, Begierde, Rausch und Taumel. Und es ist wie ein unabänderliches Gesetz, wie ein Ewigkeitsrhythmus in diesen immer gleichen Menschen, in dieser immer gleichen Musik, die den Armen, Heimatsfremden und Sehnsüchtigen auf diesen Brettern hier einen Traum von Glück, Heimat und Liebe gibt. Unzählige werden in der Stadt drinnen niedergetreten, zerstampft, vernichtet, verschwinden spurlos, und niemand weiß von ihnen. Aber unaufhörlich erneuert sich die Jugend, unaufhörlich tritt sie in erneuter Kraft und Ahnungslosigkeit zum Tanze an, schwingt sich immer wieder im gleichen Takte. M-tata, Mm-tata, M-tata, Bum!