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Mein Symbolum ist kurz und lautet folgendermaßen: Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen.
Dies ist eine harte Rede, werden viele denken; sie ist aber wirklich nicht so hart, als sie es bei dem ersten Anblicke scheint. Man verstehe sie nur recht, so wird die scheinbare Härte sich bald verlieren.
Meine Meinung ist gar nicht, als wenn der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge; sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll.
Sobald er Kraft und Unparteilichkeit genug fühlt, dieses zu tun, ist er auf dem Wege, ein guter Erzieher zu werden. Es liegt freilich in der Natur des Menschen, den Grund von allen Unannehmlichkeiten, ja von seinen eigenen Fehltritten außer sich zu suchen.
Ich setze es als bekannt voraus, daß der Grund von den Fehlern der Zöglinge wirklich oft in den Erziehern liege. Wäre dies nicht, müßte man die Ursache derselben schlechterdings allemal den Kindern oder der Lage zuschreiben, in welcher sich die Erzieher befinden, so wäre es freilich eine ungerechte und törichte Forderung, dem Erzieher zuzumuten, sie in sich selbst zu suchen. Welcher vernünftige Erzieher wird dies aber wohl glauben? Bist du nun überzeugt, daß der Grund von den Fehlern der Zöglinge wirklich oft in den Erziehern liege, so wünsche ich, dir es glaublich zu machen, daß dies auch bei dir oft der Fall sei, der du es liesest.
Hast du nicht vielleicht bemerke, daß die Zöglinge, die gegen dich unfolgsam sind, anderen willig gehorchen? oder daß die nämlichen Zöglinge, die bei deinem Vortrage flatterhaft sind und nichts lernen, wenn sie in die Lehrstunden anderer kommen, Aufmerksamkeit zeigen und gute Fortschritte machen?
Solltest du diese Bemerkung wirklich gemacht haben, so täusche dich nicht, sei aufrichtig gegen dich selbst und gestehe dir ein, daß du selbst an dem schuld sein kannst, was du an deinen Zöglingen tadelst. Sage nicht, ich bin mir doch bewußt, daß ich meine Pflichten redlich erfülle. Dies kann wohl sein, aber vielleicht verstehst du noch nicht recht, die Kinder zu behandeln.
Vielleicht hast du in deinem Betragen etwas Zurückstoßendes, das die Kinder mißtrauisch und abgeneigt macht. Vielleicht fehlt dir die Lehrgabe. Du bist zu schläfrig oder dein Vortrag ist zu trocken und zu abstrakt. Hast du ferner nicht wahrgenommen, daß die nämlichen Zöglinge, die zu gewissen Zeiten auf deinen Vortrag merken und deine Winke befolgen, zu anderen Zeiten flatterhaft und unfolgsam sind? Kann dich dies nicht auch belehren, daß der Grund von ihren Fehlern in dir zu suchen sei? Ich begreife nicht, antwortest du, wie dies daraus folge. Bin ich nicht der nämliche, der ich gestern war? Wenn meine Zöglinge nun nicht die nämlichen mehr sind, muß der Grund von diesen Veränderungen nicht in ihnen liegen?
Es kann sein. Ehe du dies aber annimmst, so untersuche nur erst, ob du wirklich noch der nämliche seiest, der du gestern wärest. Gar oft wirst du finden, daß du ein ganz anderer Mann geworden bist. Vielleicht leidest du an Unverdaulichkeit oder hast dir durch Erkältung den Schnupfen zugezogen, oder ein unangenehmer Vorfall hat deine Seele verstimmt, oder du hast etwas gelesen, was dich noch beschäftigt und hindert, deine ganze Aufmerksamkeit auf dein Geschäft zu wenden usw. Ein einziger von diesen Zufällen kann dich zu einem ganz anderen Manne gemacht haben. Gestern tratest du mit heiterer Seele und feurigem Blicke unter deine Kleinen; dein Vortrag war lebhaft, mit Scherz gewürzt, deine Erinnerungen waren sanft und liebevoll, die Lebhaftigkeit deiner Zöglinge machte dir Freude. Und heute? Ach, du bist der Mann nicht mehr, der du gestern warst. Deine Seele ist trübe, dein Blick finster und zurückstoßend, deine Erinnerungen sind herbe, jeder jugendliche Mutwille reizt dich zum Zorne. Hast du dies nicht zuweilen an dir wahrgenommen? Nun, so sei aufrichtig und gestehe dir, daß der Grund, warum deine Zöglinge heute nicht so gut sind, als sie gestern waren, in dir liege.
Ein durch die Eigenliebe geblendeter Mensch, der schlechterdings nicht Unrecht haben will, der eher alle seine Zöglinge für Dummköpfe und Bösewichte erklärt, als daß er an seine Brust schlüge und sich eingestünde, daß er gefehlt habe; er ist – zur Erziehung unfähig.
Zugestanden, daß dein Zögling Fehler hatte, ehe du ihn bekamest. Warum hat er sie noch? Du bekamst z. B. deinen Zögling als ein schwächliches Kind, mit dem wenig anzufangen war, warum ist er denn noch nicht stärker? Hast du nicht von schwächlichen Kindern gehört, die durch eine vernünftige Behandlung gestärkt wurden? Kennst du die Mittel, schwächliche Kinder zu stärken? Hast du davon Gebrauch gemacht? Dein Zögling ist zuvor verzogen worden – er ist eigensinnig, widerspenstig, lügenhaft; warum ist er dies aber noch, nachdem er so lange unter deiner Leitung war? Hast du ihn auch die Folgen seines Eigensinns fühlen lassen, um ihn dadurch zum Nachdenken zu bringen? Hast du es ihm gehörig fühlbar gemacht, daß du ein Mann, er ein Kind ist, daß du ihm an Kraft, Erfahrungen und Einsichten überlegen bist und ihn so zur Überzeugung zu bringen gesucht, daß er von dir abhänge und deine Vorschriften befolgen müsse? Hast du dir auch immer die gehörige Mühe gegeben, zu untersuchen, ob das, was er dir sagte, wahr sei, und ihn durch Aufdeckung seiner Lügen zu beschämen? Du erzählst, wie du deine Zöglinge behandelst, welche Ermahnungen du ihnen gibst, durch welche Vorstellungen du sie zu leiten suchst, und klagst, daß du mit alledem doch nichts ausrichtetest. Dies kann wohl sein; es kann auch sein, daß ich an der Vorstellung deiner Behandlungsart gar nichts auszusetzen finde; sollte ich dich aber handeln sehen, so würde ich vielleicht doch bemerken, daß die Ursache von dem schlechten Erfolge deiner Bemühungen in dir liege.
Es ist nicht genug, daß man etwas Gutes sagt und vernünftig handelt, sondern es kommt auch noch darauf an, wie man spricht und wie man handelt. Wer Ohren hat zu hören, der höre!
Der Ton, in dem man mit jungen Leuten spricht, ist von großer Wichtigkeit. Sie sind geneigt, mehr durch das Gefühl als durch die Vernunft sich leiten zu lassen. Wer also den rechten Ton treffen kann, der der jugendlichen Natur am angemessensten ist und auf sie den meisten Eindruck macht, der richtet bei ihr mit wenigen Worten weit mehr aus als ein anderer, der sich nicht in den rechten Ton stimmen kann, mit einer langen Rede.
So ist der Ton, in welchem manche Erzieher mit ihren Zöglingen, zumal wenn diese von vornehmer Herkunft sind, sprechen, zu schüchtern, zu blöde, es fehlt ihnen das Durchgreifende. So wie nun das Roß an dem Beben der Schenkel seines Reiters bald die Furchtsamkeit desselben merkt und ihm den Gehorsam versagt, so fühlen junge Leute an dem schüchternen Ton, in welchem der Erzieher mit ihnen spricht, bald, daß er ihnen nicht gewachsen sei, und achten nicht viel auf ihn.
Bei anderen Erziehern ist der Ton, in welchem sie reden, zu trocken, zu einförmig. Wenn man sie höret, so sollte man glauben, sie läsen ihre Ermahnungen aus einem Buche ab.
Solche Ermahnungen fruchten auch nichts. Man kann von Kindern nicht erwarten, daß sie auf einen zusammenhängenden Vortrag viel merken, den Sinn desselben fassen und darüber nachdenken sollen. Der Ton, die Mienen, der ganze Anstand des Redners muß ihnen den Inhalt der Rede begreiflich machen, sonst wirkt sie wenig. Endlich ist der Ton mancher Erzieher zu gebieterisch, jede Ermahnung, jede Erinnerung hat die Form eines despotischen Befehls.
Was wird die Wirkung davon sein? Abneigung und Widerspenstigkeit. Der zur Freiheit bestimmte Mensch fühlt eine natürliche Abneigung gegen jede harte, willkürliche Behandlung, und man kann es ihm nicht zur Last legen, wenn er sie gegen seinen despotischen Erzieher äußert.
Nun sollte ich noch von dem Korporalstone sprechen, den manche Erzieher sich angewöhnt haben, die ihren Ermahnungen und Vorschriften durch Rippenstöße und Stockschläge Nachdruck zu geben suchen. Da aber dagegen schon so viel gesagt worden und die Unschicklichkeit desselben allgemein anerkannt ist, so halte ich es für überflüssig, davon weiter Erwähnung zu tun. Unterdessen rate ich jedem jungen Manne, der die Jugend nicht anders als mit Rippenstößen und Schlägen zu lenken weiß, daß er der Erziehung gänzlich entsage, weil er dabei doch nicht froh werden und nichts Gutes wirken wird. Er bemühe sich, eine Korporalstelle oder die Stelle eines Zuchtmeisters zu erhalten, da wird er auf seinem Platze sein.
Das bisher Gesagte wird hinreichend beweisen, daß viele Erzieher sich deswegen die Ursache von den Fehlern ihrer Zöglinge beizumessen haben, weil ihnen die Geschicklichkeit fehlt, ihnen dieselben abzugewöhnen.
Oft lehren sie ihnen aber auch wirklich dieselben.
Nun werden die meisten Leser denken, dies ist bei mir der Fall nicht, ich lehre meinen Zöglingen ihre Pflichten und suche sie durch meine Ermahnungen zu guten und tätigen Menschen zu bilden. Ich glaube es gern. Ich nehme es als bekannt an, daß unter meinen Lesern keiner sei, der seine Zöglinge zur Trägheit, Lügenhaftigkeit, Unverträglichkeit und anderen Untugenden ermahne. Daraus folgt aber noch nicht, daß sie diese Untugenden nicht lehrten. Kann man die Untugend nicht durch sein Exempel lehren? Wirkt dies nicht stärker auf die Jugend als Ermahnung? Du empfiehlst z.B. den Fleiß und bist doch selbst träge, gehst mit Verdrossenheit an deine Geschäfte, klagst über deine vielen Arbeiten, äußerst oft den Wunsch, von deinen Geschäften befreit zu werden; du ermahnst sie zur Wahrheitsliebe und lügst doch selbst; sagst, daß du einen Freund besuchen wollest, und schleichst dich in das Wirtshaus zum Spieltische, setzest deine Lehrstunden unter dem Vorgeben aus, daß du krank wärest, und bist doch nicht krank; forderst von deinen Zöglingen Verträglichkeit und zankst doch immer mit den Personen, die mit dir in Verbindung stehen. Du kommst mir vor wie ein Sprachlehrer, der die Theorie der Sprache recht gut vorzutragen weiß, aber sie selbst fehlerhaft spricht und schreibt. Wenn seine Schüler ein Gleiches tun, kann man denn nicht von ihm sagen, daß er sie die Fehler gegen die Sprachregeln gelehrt habe? Kann man ferner nicht auch Fehler und Untugenden durch die Behandlungsart lehren?
Ich glaube es allerdings. Wenn du z.B. jeden Mutwillen, jede Unbesonnenheit, jedes Versehen deines Zöglings strenge ahndest, was hast du ihn gelehrt? Die Lügenhaftigkeit. Seiner jugendlichen Natur ist es nun einmal notwendig, bisweilen mutwillig zu sein, unbesonnen zu handeln, dies und jenes zu versehen; weiß er nun, daß du dies alles strenge ahndest, was wird er tun? Er wird seine Fehltritte vor dir zu verbergen suchen, ableugnen, ein Lügner werden. Mißbrauchst du das Zutrauen, das dir dein Zögling beweist, plauderst du die Geständnisse aus, die er dir als seinem Freunde tut, hältst sie ihm wohl gar öffentlich vor und beschämst ihn deswegen – was lehrst du ihn? Verschlossenheit. Kannst du im Ernste verlangen, daß dieser junge Mensch dir seine Geheimnisse anvertrauen soll, da du sie nicht zu bewahren weißt? Daß er Offenherzigkeit gegen dich zeigen soll, wenn du sie ihm zum Verbrechen machst? Nur der Einfältige, der Schwachkopf wird dies tun; der Knabe, der sich fühlt und die Unregelmäßigkeit deines Benehmens beurteilen kann, wird dir sein Zutrauen entziehen und es Personen schenken, bei denen seine Geheimnisse besser aufgehoben sind.
Wenn du den Tätigkeitstrieb deiner Zöglinge nicht zu befriedigen suchst; wenn du, um sie zu beschäftigen, ihnen nichts in die Hände gibst als Bücher und Federn, was lehrst du sie? Eine ganze Reihe von Untugenden, deren ausführliches Verzeichnis ich hier niederzuschreiben nicht geneigt bin. Der Tätigkeitstrieb ist nun einmal da und ist ein wohltätiges Geschenk des Schöpfers, ist die Stahlfeder, die er in die junge Maschine gesetzt hat. Bücher und Federn vermögen ihn nicht zu befriedigen; denn zum Gebrauche derselben gehört Nachdenken, welches ein Geschäft der Vernunft ist, die bei den Knaben noch in der Entwicklung steht; und wenn auch gleich Bücher und Federn in vielen Fällen ohne Nachdenken können gebraucht werden, so ist doch der beständige Gebrauch derselben zu einförmig, als daß er Knaben, die Abwechslung lieben, angemessen sein sollte. Folglich haben Knaben, die man an die Bücher und den Schreibtisch fesselt, Langeweile. Gelingt es nun bei einigen, daß sie sich daran gewöhnen, so ist der Tätigkeitstrieb erstickt, sie werden faul und träge; gelingt dies, welches bei den meisten der Fall zu sein pflegt, nicht, so bricht der gehemmte Tätigkeitstrieb durch und verfällt auf Ausschweifungen, wovon die heimlichen Sünden gemeiniglich die ersten zu sein pflegen. Wer hat sie diese gelehrt? Der Erzieher.
Der Erzieher macht sich drittens auch der Fehler und Untugenden seiner Zöglinge dadurch schuldig, daß er ihnen dieselben andichtet. Wenn man die Schilderung hört, die manche Erzieher von ihren Zöglingen machen, so möchte man sich entsetzen und alle Lust verlieren, sich dem so wohltätigen Geschäfte der Erziehung zu widmen. Da ist nicht der geringste Trieb, etwas Nützliches zu tun, unausstehliche Trägheit, Unbesonnenheit, Unverträglichkeit, Tücke, Bosheit, es ist eine Schar roher, ungeschlachter Buben, bei denen nichts ausgerichtet werden kann.
Der gebildete Erzieher lächelt dabei, weil er wahrnimmt, daß diese Untugenden größtenteils in dem Gehirne des Erziehers sitzen, der das für Untugenden erklärt, was doch notwendige Eigenschaften der Kindheit sind.
Was würde man von einem Vater halten, der sein dreiwöchiges Kind unreinlich schelten wollte, weil es die Windeln verunreinigt; oder von einem Gärtner, der darüber im Frühlinge Klage führte, daß er auf allen seinen Kirschbäumen nicht eine einzige Frucht, lauter Blüten fände? Würden wir sie nicht mitleidig belächeln?
Viele Erzieher handeln aber nicht vernünftiger. Sie machen es ihren Zöglingen zum Verbrechen, wenn sie so handeln, wie die kindliche Natur zu handeln pflegt und handeln muß, und fordern von ihnen ein Betragen, das nur die Wirkung der gebildeten Vernunft, die bei ihnen noch klein ist, sein kann; sie suchen Früchte zur Zeit der Baumblüte.
Wer die Eigenheiten der kindlichen Natur in die Klasse der Untugenden setzt, wieviel wird dieser nicht zu klagen haben!
Oft werden die Erzieher auch dadurch die Schöpfer der Untugenden ihrer Zöglinge, daß sie eine willkürliche Regel annehmen, nach welcher sich die jungen Leute richten sollen, und jede Abweichung von derselben ihnen als Untugend anrechnen. Wenn die Regel nun albern und widernatürlich ist und die jungen Lernte dies fühlen, so werden sie auch keine Neigung haben, sie zu befolgen, jeden Augenblick davon abweichen und so als Übertreter in des Erziehers Augen erscheinen.
Dies begegnet besonders den stolzen Erziehern, die sich für unfehlbar halten, ihre Zöglinge als Sklaven betrachten, die ihnen blinden Gehorsam schuldig wären, bei allen ihren Handlungen auf sie Rücksicht nehmen und bei jeder Gelegenheit die strengste Unterwürfigkeit gegen sie beweisen müßten. Ein solcher Erzieher duldet keine Einwendung, keinen Widerspruch, dies wäre Beleidigung, Mangel an Hochachtung. Wenn er sich zeigt, soll alles Spiel ruhen, tiefes Stillschweigen erfolgen, alles in einer ehrfurchtsvollen Stellung vor ihm stehen.
Der freimütige, unbefangene Knabe, der keine Verstellung gelernt hat und geneigt ist, sich an jeden, den er für gut hält, anzuschmiegen, wird diese Forderungen unerträglich finden. Furcht vor Mißhandlungen wird ihn vielleicht bewegen, sich einige Augenblicke nach den unbilligen Forderungen seines Zuchtmeisters zu richten; bald wird er sich aber vergessen, sich in seiner natürlichen Gestalt zeigen und deswegen als ein nichtswürdiger Bube behandelt werden.
Endlich vergrößern Erzieher bei ihren Zöglingen oft die Zahl der Untugenden, indem sie die Eigenheiten derselben dazu rechnen. Wenn man in einer Erziehungsanstalt die Stiefel sämtlicher Zöglinge nach einem Leisten wollte machen lassen, so würde es sich finden, daß sie nur für die wenigsten paßten und den übrigen entweder zu groß oder zu klein wären. Und was wäre nun in diesem Falle wohl zu tun? Die Füße, für welche die Stiefel nicht passen, für fehlerhaft erklären? an den Füßen einiger Zöglinge etwas abschneiden, an anderen etwas hinzusetzen?
Ihr lacht? Ihr wollt wissen, was ich mit dieser sonderbaren Frage wolle? Ich will es gleich sagen. So wie jeder Knabe seine eigene Form des Fußes hat, so hat auch jeder seinen eigenen Charakter und seine eigenen Talente. Wollt ihr nun die Knaben mit ihren verschiedenen Charakteren und Talenten auf einen Fuß oder, wie man auch zu sagen pflegt, über einen Leisten behandeln, so wird diese Behandlungsart immer den wenigsten angemessen sein; wollt ihr nun dieses den Knaben als Untugend anrechnen und sie eurer Behandlungsart anzupassen suchen, so handelt ihr mit ebenso weniger Überlegung als derjenige, der die Füße nach den ihnen bestimmten Stiefeln formen wollte. Ihr gebt euren Zöglingen wegen begangener Fehltritte öffentliche Verweise. Dies mag für gewisse Fühllose, bei welchen vorhergegangene Ermahnungen fruchtlos waren, von guter Wirkung sein; wenn ihr dies aber bei allen tun wollt, so wird der ehrgeizige Ferdinand sich für beleidigt halten und geneigt sein, die größten Unbesonnenheiten zu begehen; der weichmütige Wilhelm hingegen wird bittere Tränen weinen und mutlos werden. Ihr lehrt den Fritz und Karl. Jener faßt sogleich alles, was ihr ihm sagt, und die Arbeit, die ihr ihm gebt, ist in einer Viertelstunde vollendet. So ist es nicht mit Karl. Dieser gute, ehrliche Knabe hat einen sehr langsamen Kopf, faßt sehr schwer den Vortrag, bringt an der ihm aufgegebenen Arbeit eine Stunde zu, und am Ende ist sie doch nicht so gut wie die, die Fritz lieferte. Darüber gebt ihr ihm Verweise, die er nicht verdient hat.
Ihr unterrichtet den Heinrich und Ludwig im Lateinischen und in der Mathematik. Heinrich kann schlechterdings die lateinischen Sprachregeln nicht fassen, in der mathematischen Lehrstunde hingegen ist er der beste Schüler; und Ludwig bringt euch lateinische Aufsätze, an denen ihr nur wenig zu verbessern findet; aber die Mathematik – für diese hat er keinen Sinn. Gleichwohl verlangt ihr von beiden, daß sie im Lateinischen und in der Mathematik gleiche Fortschritte machen sollen; verweist dem Heinrich seine Faulheit in der lateinischen und dem Ludwig seine Verdrossenheit in der mathematischen Lehrstunde und – tut beiden unrecht. Ihre Faulheit und Trägheit sitzt in eurem Gehirne.
Habe ich denn gesagt, daß man den Grund von allen Untugenden und Fehlern der Zöglinge dem Erzieher beimessen müsse? Nichts weniger als dieses. Nur von dem Erzieher fordere ich, daß er selber den Grund davon in sich suchen solle, damit, wenn er wirklich in ihm läge, er ihn wegräumen könne. Daraus folgt aber noch nicht, daß andere ihm die Schuld davon beilegen sollen.
Der Anfang der Weisheit ist die Selbsterkenntnis; wo diese fehlt, wird man die Weisheit in keiner Lage finden und den Gleichmut und die Zufriedenheit, die aus derselben entspringen, allenthalben vermissen. Freund! der du dich der Erziehung widmest, sei also stark und entschließe dich, wenn du an deinen Pflegesöhnen Fehler und Untugenden bemerkst, wenn die Bearbeitung derselben dir nicht gelingen will, den Grund davon immer in dir zu suchen. Du wirst gewiß vieles finden, das du nicht geahnt hast, und wenn du es findest, so freue dich und laß es dir ein Ernst sein, es wegzuschaffen. Es wird dir gewiß gelingen, und dann, dann, welche angenehme Veränderung wirst du in und außer dir verspüren! Die dir anvertraute Jugend wird dir in einem anderen Lichte erscheinen, ihre Munterkeit wird dich aufheitern, ihre Torheiten und Unbesonnenheiten werden dich nicht mehr beleidigen, du wirst sie mit mehr Nachsicht und Schonung behandeln; das Herbe und Bittere in deinem Tone, das Finstere in deinem Gesichte wird sich verlieren, die Aufwallungen des Zornes, zu denen du geneigt bist, werden sich nach und nach mindern, der Bequemlichkeit, die du dir angewöhnt hattest, wirst du entsagen, so manchen andern Fehler, der auf deine jungen Freunde üble Eindrücke machte, wirst du ablegen, du wirst deinem Vortrage immer mehr Lebhaftigkeit und Annehmlichkeit verschaffen. Hast du einige Zeit so an dir gebessert – was wird der Erfolg sein? Du wirst dich zu einem guten Erzieher gebildet haben.
Deine Pflegesöhne werden dich mit ihrer Liebe und ihrem Zutrauen belohnen; deine Winke werden sie befolgen, deine Bemühungen werden gelingen, ihre Fehler und Untugenden werden nach und nach weichen.
Will es dir in manchen Fällen doch nicht gelingen, kannst du gewisse Fehler und Untugenden doch nicht wegschaffen – gut! so hast du doch die Beruhigung, mit Überzeugung zu dir sagen zu können: ich habe das Meinige redlich getan, die Schuld von dem Mißlingen meiner Bemühungen kann ich mir nicht beimessen.