George Sand
Lavinia – Pauline – Kora
George Sand

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Pauline

1.

In einem kleinen, recht häßlichen Städtchen, das auf der Karte aufzusuchen, und wäre es auch auf einer Cassini'schen, ich Niemand zumuthe, ereignete sich vor drei Jahren ein Vorfall, der, obgleich er an sich nicht allzu interessant war, doch viel von sich reden machte, und dessen Folgen von großer Bedeutung waren, obschon Niemand etwas davon erfahren hat.

Es war in einer düstern, kalten, regnerischen Nacht. Eine Postchaise fuhr in den Hof des Gasthauses zum gekrönten Löwen. Eine Frauenstimme verlangte Pferde – »schnell! schnell!« – Der Postillon entgegnete in äußerst langsamem Tone, daß das leicht zu sagen wäre, daß es aber keine Pferde gäbe, weil die Epidemie – jene Seuche, die auf gewissen Stationen an wenig verkehrreichen Straßen in Permanenz ist – in der letzten Woche siebenunddreißig derselben weggerafft habe, und endlich, daß man noch in der Nacht weiterfahren könne, daß man aber warten müsse, bis das Gespann, welches die Kutsche gebracht hatte, ein wenig verschnauft habe.

»Wird das lange dauern?« fragte der Lakai, der, in Pelze gehüllt, auf dem Bocke saß.

»Es ist das Werk einer Stunde,« entgegnete der Postillon, der sich bereits des einen seiner Stiefel entledigt hatte. »Wir werden sofort anfangen, unsern Hafer zu verzehren.«

Der Diener fluchte. Ein junges, niedliches Kammermädchen, das den mit zerzausten Tüchern umhüllten Kopf aus dem Kutschenschlage steckte, murmelte irgend eine rührende Klage über die Langweiligkeit und die Anstrengungen der Reise. Die Person jedoch, welcher diese beiden Dienstboten zur Begleitung dienten, trat langsam aus dem Wagen auf das feuchte, kalte Pflaster, schüttelte ihren mit Marderpelz gefütterten Mantel und schlug den Weg nach der Küche ein, ohne ein einziges Wort zu sprechen.

Es war eine junge Frau von feuriger, hinreißender Schönheit, der die Anstrengung ein bleiches Aussehen gegeben hatte. Sie schlug das angebotene Zimmer aus, und während ihre Dienerschaft vorzog, in der Berline zu übernachten, setzte sie sich auf den klassischen Stuhl vor dem Herde, den unangenehmen, widerwärtigen Zufluchtsort des resignirten Reisenden. Die Magd, welche beauftragt worden war, Wache zu halten, stützte den Kopf auf den Tisch, krümmte, auf einer Bank sitzend, den Oberkörper zusammen und begann zu schnarchen. Die Katze, die sich unmuthig erhoben hatte, um der Reisenden Platz zu machen, kauerte sich von Neuem in die warme Asche. Mißtrauisch und unmuthig heftete sie ihre grünen, leuchtenden Augen einige Minuten lang auf die Unbekannte. Nach und nach aber zog sich die Pupille zusammen und verkleinerte sich, bis sie nur noch einem schmalen, schwarzen Strich auf smaragdgrünem Grunde glich. Sie versank wieder in das egoistische Wohlbehagen ihrer Lage, machte einen krummen Buckel, schnurrte, um ihr Wohlgefallen zu bekunden und schlief endlich zwischen den Tatzen eines großen Hundes ein, der Dank jener unaufhörlichen Zugeständnisse, welche der Schwächere zum Glück für die Gesellschaft stets dem stärkeren abnöthigt, das Mittel gefunden hatte, mit ihr in Frieden zu leben.

Die Reisende suchte vergeblich einzuschlummern. Tausend verworrene Bilder zogen durch ihre Träume und schreckten sie aus dem Schlafe auf. All jene Erinnerungen aus der Jugendzeit, die sich bisweilen der geschäftigen Einbildungskraft bemächtigen, wogten durch ihr Gehirn und bestrebten sich, es zweck- und ziellos zu ermüden, bis endlich ein vorherrschender Gedanke sie verdrängte.

– Ja, es war eine trübselige Stadt, dachte die Reisende, eine Stadt mit winkligen, düstern Gassen und holprigem Pflaster, eine häßliche, armselige Stadt, gerade wie diese hier, die ich durch die feuchten Dünste, welche sich an den Spiegelscheiben meines Wagens niederschlugen, zu Gesichte bekam. Nur finden sich hier ein oder zwei, vielleicht gar drei Straßenlaternen, und dort gab es nicht eine einzige. Nach dem Abendgeläute ging jeder Fußgänger nur mit seiner Stocklaterne aus. Sie war abscheulich, diese armselige Stadt, und dennoch habe ich dort Jahre der Jugend und der Kraft verlebt! Ich war eine ganz andere damals... arm an Stellung, aber reich an Kraft und Hoffnung. Wol litt ich viel! mein Leben verzehrte sich im Dunkel und in der Unthätigkeit – was aber kann mir jene Schmerzen ersetzen, mit denen die Kraft der eigenen Seele mich durchschauerte? O Jugend des Herzens! was ist ans dir geworden? ...

Nach dieser etwas pomphaften Apostrophe, welche exaltirte Köpfe, ohne allzuviel Grund vielleicht, aber in Folge eines angeborenen Bedürfnisses, ihrer Existenz einen dramatischen Anstrich zu geben, bisweilen an das Geschick verschwenden, lächelte die junge Frau unwillkürlich, als ob eine innere Stimme ihr erwiedert habe, daß sie noch immer glücklich sei. Dann suchte sie einzuschlafen, bis die Stunde verflossen wäre.

Die Küche des Gasthauses wurde nur von einer eisernen, an der Decke hängenden Laterne erleuchtet. Das Gestell dieses Lichtspenders zeichnete einen breiten, schwankenden, sternförmigen Schatten auf die Wände des Gemaches und warf seinen bleichen Schein aus die rauchgeschwärzten Balken der Decke.

Die Fremde hatte den Raum betreten, ohne etwas in ihrer Umgebung zu unterscheiden, und dann hatte der schlaftrunkene Zustand, in welchem sie sich befand, sie verhindert, eine Beobachtung des Ortes vorzunehmen, an welchem sie weilte.

Plötzlich legte das Niederrollen einer kleinen Aschenlawine zwei melancholisch knisternde Scheite bloß. Eine kleine Flamme flackerte auf, sprühte, erbleichte, belebte sich wieder und wuchs endlich zu solcher Größe, daß sie das Innere des Herdes erleuchtete. Die zerstreuten Blicke der Reisenden, die mechanisch dem Schwanken des Lichtscheins folgten, fielen plötzlich auf eine Inschrift, die sich licht von einem der Kamingesimse abhob. Sie zuckte zusammen, fuhr mit der Hand über die schweren Lider, raffte einen flammenden Zweig auf, um die Buchstaben zu erkennen, und ließ ihn wieder fallen, indem sie mit bewegter Stimme ausrief:

»O Gott! wo bin ich? Ist das ein Traum?«

Bei diesem Ausruf erwachte jählings die Magd, wandte sich nach der Reisenden um und fragte, ob sie von ihr gerufen worden sei.

»Ja, ja!« rief die Fremde. »Kommen Sie hierher. Sagen Sie mir, wer hat diese zwei Namen an die Wand geschrieben?«

»Zwei Namen?« sagte die Magd verwundert. »Was für Namen?

»O!« sagte die Fremde mit einer gewissen Schwärmerei zu sich selbst, »ihren Namen und den meinen: Pauline und Laurentia! Und jenes Datum: 10. Februar 182 ..! – Sprechen Sie, sagen Sie mir, warum die Namen und das Datum dort stehen.«

»Madame,« entgegnete die Magd, »ich habe nie Acht darauf gegeben, und überdies kann ich nicht lesen.«

»Aber wo bin ich denn? wie heißt diese Stadt? Ist es nicht Villiers, die erste Station hinter L ...?«

»Nein doch, Madame. Sie befinden sich in Saint-Front, auf der Straße nach Paris, im Gasthaus zum gekrönten Löwen.« »O Himmel!« rief die Reisende fast überlaut, indem sie jählings aufsprang.

Die erschrockene Magd hielt sie für wahnsinnig und wollte entfliehen. Die junge Frau aber hielt sie mit den Worten zurück:

»O, ich bitte Sie, bleiben Sie und reden Sie mit mir! Wie kommt es, daß ich mich hier befinde? Sagen Sie mir, ob ich träume! Wenn ich träume, wecken Sie mich!«

»Aber Sie träumen nicht, Madame, und ich ebenso wenig, denke ich,« entgegnete die Magd. »Sie wollten also nach Lyon? Nun, mein Gott, Sie werden vergessen haben, es dem Postillon zu sagen, und er wird ganz natürlicherweise geglaubt haben, sie reisten nach Paris. In jetziger Zeit gehen alle Postwagen nach Paris.«

»Aber ich selbst habe ihm erklärt, ich führe nach Lyon.«

»Ach, Madame, Baptist ist taub, daß er einen Kanonenschuß nicht hören würde, und dabei schläft er die meiste Zeit auf seinem Pferde. Die Thiere aber sind die Straße nach Paris gewohnt« – – –

»In Saint-Front!« wiederholte die Fremde. »Seltsame Fügung, die mich zu den Orten zurückführt, die ich meiden wollte! Ich wählte einen Umweg, um nicht hierher zu kommen, und weil ich zwei Stunden geschlafen habe, führt mich nun der Zufall wider mein Wissen hierher! Nun, vielleicht ist es Gottes Wille. Sehen wir zu, ob ich hier Freude oder Schmerzen finden soll. – Sagen Sie mir doch, meine Liebe,« fügte sie hinzu, indem sie sich an das Mädchen wandte, »kennen Sie hier in der Stadt Fräulein Pauline D ...?«

»Ich kenne hier Niemand, Madame,« erwiderte das Mädchen. »Ich bin erst seit acht Tagen in dieser Gegend.«

»Dann rufen Sie mir eine andere Magd, irgend Jemand – ich will es wissen! Da ich einmal hier bin, will ich über alles Nachricht haben. Ist sie verheiratet? ist sie todt? Gehen Sie, gehen Sie, erkundigen Sie sich danach. So eilen Sie doch!«

Die Magd wandte ein, daß alle Dienerinnen zu Bett gegangen wären, und daß der Stallbursche und die Postillone nur über ihre Pferde Bescheid wüßten. Die allzeit fertige Freigebigkeit der jungen Dame bestimmte sie aber, den »Chef« zu wecken, und nach viertelstündigem Warten, das der Reisenden unendlich lang dünkte, erfuhr dieselbe endlich, daß Fräulein Pauline D ... noch nicht verheirathet sei und noch immer in der Stadt wohne. Sogleich befahl die Fremde, ihren Wagen in die Remise zu bringen und ein Zimmer für sie in Stand zu setzen.

Sie legte sich in Erwartung des Tages zu Bett, konnte aber nicht schlafen. Die Erinnerungen, welche lange Zeit eingeschlummert oder zurückgedrängt worden waren, gewannen jetzt all ihre Gewalt wieder über sie. Alle Gegenstände, auf welche ihr Blick im Gasthause zum gekrönten Löwen traf, erkannte sie wieder. Obgleich der alte Gasthof seit zehn Jahren bedeutende Verbesserungen erfahren hatte, war die Zimmerausstattung doch beinahe dieselbe geblieben. Noch immer hingen an den Wänden Stickereien, auf denen die schönsten Scenen aus der »Asträa« dargestellt waren; die Schäferinnen hatten mit weißen Fäden ausgebesserte Stellen im Gesichte, und die zerfetzten Schäfer baumelten an Nägeln, die ihnen durch die Brust geschlagen waren. Dazwischen hing eine abenteuerliche Zeichnung der Wirthstochter, die den Kopf eines römischen Kriegers darstellte und von vier schwarz bemalten Holzstäbchen umrahmt war. Auf dem Kamin vergilbte unter einer Glocke aus gesponnenem Glase eine Wachsgruppe, die das Christkindlein in der Krippe darstellte.

»Ach!« sagte die Reisende zu sich selbst, »hier in diesem selben Zimmer habe ich vor zwölf Jahren mehrere Tage gewohnt, als ich mit meiner guten Mutter hier ankam. Hier in diesem trübseligen Städtchen habe ich sie vor Kummer dahinwelken sehen und hätte sie beinahe für immer verloren. In diesem selben Bett habe ich in der Nacht vor meiner Abreise geschlafen! Welch eine Nacht des Schmerzes und der Hoffnung, des Bedauerns und der Erwartung! Wie sie weinte, meine arme Freundin, meine sanfte Pauline, als sie mich an jenem Kamine umarmte, wo ich sofort einschlief, ohne zu wissen, wo ich war! Wie weinte auch ich, als ich ihren Namen mit dem Datum unserer Trennung unter den meinen an die Wand schrieb! Arme Pauline! Was für ein Dasein wird sie seit jenem Tage geführt haben? Das Dasein einer alten Jungfer in der Provinz! Das muß entsetzlich sein! Sie – so hingebend, so überlegen allem, was sie umgab! Und dennoch wollte ich sie meiden, ich hatte mir selbst das Wort gegeben, sie niemals wiederzusehen! – Vielleicht kann ich ihr ein wenig Trost bringen, auf einen Tag ihr trauriges Leben erheitern! – Aber wenn sie mich zurückstieße! Wenn sie der Gewalt der Vorurtheile verfallen wäre! – O Gott! das ist nur zu wahrscheinlich,« fügte die Reisende betrübt hinzu, »wie kann ich daran zweifeln? Hat sie nicht plötzlich den Briefwechsel mit mir abgebrochen, als sie von dem Entschluß hörte, den ich gefaßt hatte? Sie wird befürchtet haben, durch die Berührung mit einem Leben wie dem meinen sich zu beflecken oder zu erniedrigen! O Gott! Pauline liebte mich so sehr, und sie sollte über mich erröthen! – ich weiß nicht, was ich denken soll .... Jetzt, wo ich mich ihr so nahe fühle, wo ich sicher bin, sie in denselben Umständen, in denen ich sie gekannt habe, wiederzufinden, kann ich nicht mehr dem Wunsche widerstehen, sie zu besuchen! Ja, ich werde sie besuchen, sollte sie mich auch zurückweisen! Thut sie es, so falle die Schmach auf sie zurück! Ich habe dann die berechtigten, argwöhnischen Zweifel meines Stolzes überwunden, bin dann der Religion der Vergangenheit treu gewesen – nur sie wird eidbrüchig geworden sein!« Unter diesen Gedanken sah sie den Morgen hinter den zackigen Dächern der schiefen Häuser, die sich aller Anmuth bar aneinander reihten, grau und kalt heraufsteigen. Sie erkannte den Glockenschlag wieder, welcher vor Zeiten auch ihr die Stunden der Ruhe oder der Träumerei verkündet hatte; sie sah die Bürger mit den klassischen Nachtmützen aus Baumwolle sich ermuntern, und alte Gesichter, deren sie sich noch dunkel erinnerte, verdrießlich an den Fenstern der Häuser auftauchen. Sie hörte den Hammerschlag des Schmieds innerhalb der Mauern eines steinalten Gebäudes erschallen, sah die Landleute in blauen Mänteln und mit Wachstuchkappen auf dem Kopfe zum Markte kommen – alles nahm seinen Gang und bewahrte seinen Anstrich wie in den vergangenen Tagen. Und jede dieser unbedeutenden Einzelheiten durchbebte das Herz der Reisenden, obgleich ihr alles entsetzlich häßlich und ärmlich erschien.

»Wie!« rief sie aus, »hier habe ich vier Jahre leben können, vier ganze Jahre, ohne zu sterben! ich habe diese Luft geathmet, mit diesen Leuten da gesprochen, habe unter diesen moosbedeckten Dächern geschlafen, diese unwegsamen Straßen durchschritten! und Pauline, meine arme Pauline lebt noch immer inmitten alles dessen, sie, die so schön, so liebenswürdig, so klug war, sie, die wie ich in einer Welt des Luxus und des Glanzes geherrscht und geglänzt haben würde!«

Sobald die Uhr der Stadt die siebente Stunde verkündet hatte, machte sie in aller Eile Toilette, und während ihre Diener die Herberge vermaledeiten und die Unbequemlichkeiten der Reise mit jenem Unwillen und jener Anmaßung ertrugen, welche die Lakaien von gutem Hause charakterisirt, vertiefte sie sich in die winkligen Straßen, die sich vor ihr aufthaten, schritt mit der Gewandtheit einer Pariserin auf den Fußspitzen dahin und ließ die Bürger des Städtchens, für die ein unbekanntes Gesicht ein bedeutendes Ereigniß war, vor Erstaunen die Augen aufreißen. Das Haus Pauline's hatte nichts Pittoreskes, obgleich es sehr alt war. Es hatte aus jener Epoche, in der es erbaut war, nur die Kälte und Unbehaglichkeit der innern Einrichtung beibehalten, im übrigen aber zeigte es keine Spur romantischer Tradition, kein zierliches oder bizarres Sculpturornament, nicht den geringsten Schimmer mittelalterlichen Wesens. Alles hatte ein düsteres, trübsinniges Aussehen, von dem aus Kupfer ciselirten Gesichte des Thürklopfers an bis zum Antlitz der nicht weniger häßlichen, grämlichen, alten Magd, die die Thür öffnete, die Fremde mit einem geringschätzenden Blicke maß und ihr den Rücken drehte, nachdem sie trocken geantwortet hatte:

»Sie ist zu Hause.«

Die Reisende empfand eine zugleich süße und doch schmerzliche Bewegung, als sie die Wendeltreppe hinaufstieg, der ein glattgescheuertes Seil als Geländer diente. Das Haus erinnerte sie an die wonnigsten Jahre ihres Lebens, an die reinsten Begebnisse ihrer Jugend. Indem sie aber diese Merkmale der Vergangenheit mit dem Luxus ihrer gegenwärtigen Lebensstellung verglich, konnte sie nicht umhin, Pauline zu beklagen, die verdammt war, hier wie das grüne Moos, das auf den feuchten Mauern wucherte, zu vegetiren.

Geräuschlos stieg sie die Treppe hinauf und stieß die Thür auf, die sich lautlos in den Angeln drehte. Nichts in dem weiten Gemache, das die Inhaber mit dem Titel Salon belegten, hatte sich verändert. Der sauber gescheuerte Fußboden aus rothen Ziegelsteinen, das bräunliche, sorgfältig von Staub frei gehaltene Getäfel, der Spiegel, dessen Rahmen einmal vergoldet gewesen war, die schweren Möbel, die irgend eine Ahnfrau der Familie mit gehäkelten Decken versehen hatte, und zwei oder drei vom Onkel, dem Pfarrer der Stadt, hinterlassene Heiligenbilder – alles war genau an derselben Stelle und in demselben Zustand kräftigen Alters geblieben seit jenen zehn Jahren, während welcher die Fremde Jahrhunderte durchlebt hatte. Daher berührte sie alles, was sie sah, wie ein Traum.

Das weite, niedrige Gemach bot dem Auge ein mattes, farbloses Bild, das jedoch nicht ohne Reiz war. In den unbestimmten Linien dieser Perspective lag etwas Ernstes, Nachdenkliches, wie in den Gemälden Rembrandt's, auf denen man im Halbdunkel nur das alte Gesicht eines Philosophen oder Alchemisten bemerkt, das bräunlich und erdfarben wie die Mauern, und fahl und kränklich aussieht, wie der geschickt gesparte Sonnenstrahl, der es umgaukelt. Nur ein einziges Fenster mit kleinen, in Blei gefaßten Scheiben, in welchem Blumentöpfe mit Basilicum und Geranium standen, erleuchtete diesen weiten Raum; im Lichtschein des Fensterrahmens aber zeichnete sich ein mildschönes Antlitz ab, das mit Absicht gerade in diese Beleuchtung gerückt schien, um ganz allein in Folge seiner Schönheit ans dem Gemälde hervorzutreten: das war Pauline.

Sie war sehr verändert, und da die Reisende ihr Gesicht nicht sehen konnte, zweifelte sie lange, ob sie es wirklich wäre. Als sie Pauline verlassen hatte, war dieselbe um einen ganzen Kopf kleiner, und jetzt war sie groß und von so außerordentlicher Zartheit, daß man hätte meinen sollen, sie müsse bei der geringsten Bewegung zerbrechen. Pauline trug ein braunes Kleid mit einem kleinen Halskragen von peinlicher Weiße und geradezu klostermäßiger Gleichförmigkeit der Falten. Ihr schönes kastanienbraunes Haar war an den Schläfen mit affectirter Sorgfalt geglättet. Sie widmete sich einer althergebrachten, langweiligen Beschäftigung, die jedem denkenden Organismus verhaßt ist: mit einer kaum sichtbaren Nadel stickte sie sehr kleine, regelmäßige Punkte auf ein Stück Batist, dessen Gewebe sie Faden für Faden abzählte. Das Leben des größern Theils der Frauen Frankreichs verfließt bei dieser feierlich-langweiligen Beschäftigung.

Als die Reisende einige Schritte vorwärts gethan hatte, unterschied sie im Lichtschein des Fensters die glänzenden Linien des Profils Pauline's; die regelmäßigen, ruhigen Züge, die großen, umflorten müden Angen, die reine, glatte, eher offene, als edle Stirn, den zarten Mund, der nicht fähig schien, zu lächeln. Noch immer war sie bewunderungswürdig schön und lieblich, aber hager und von ebenmäßiger Blässe, die bereits chronisch geworden zu sein schien. Im ersten Augenblick gerieth ihre alte Freundin in Versuchung, sie zu beklagen, aber beim Anblick der unergründlichen Klarheit und Heiterkeit dieser melancholischen, leicht über die Arbeit gebeugten Stirn fühlte sie sich weit mehr von Achtung als von Mitleid ergriffen.

Stumm und unbeweglich blieb sie daher in ihren Anblick versunken stehen. Aber als ob ihre Anwesenheit sich Paulinen durch eine instinctive Bewegung des Herzens verrathen hätte, wandte sich diese plötzlich nach ihr um und sah sie starr an, ohne ein Wort zu sprechen oder die Farbe zu wechseln.

»Pauline! erkennst du mich nicht?« rief die Fremde. »Hast du das Gesicht Laurentia's vergessen?«

Da stieß Pauline einen Schrei aus, erhob sich und sank kraftlos wieder auf ihren Sitz zurück. Laurentia lag schon in ihren Armen, und beide weinten.

»Du erkanntest mich nicht wieder?« sagte endlich Laurentia.

»O, was sprichst du da?« entgegnete Pauline. »Ich erkannte dich wol, aber ich war darüber nicht erstaunt. Du kennst das nicht, Laurentia! Nämlich Leute, die in der Einsamkeit leben, haben bisweilen seltsame Gedanken. Wie soll ich dir das erklären? Es sind Erinnerungen, Bilder, die sich in ihrem Geiste festsetzen und dann ihren Augen sichtbar zu werden scheinen. Meine Mutter nennt das Visionen. Ich weiß wol, daß ich nicht toll bin, aber ich glaube, um mich in meiner Vereinsamung zu trösten, gestattet Gott zuweilen, daß die Personen, die ich liebe, mir plötzlich während meines Träumens und Sinnens erscheinen. Ja, sehr oft sah ich dich dort an der Thür stehen, wie jetzt eben, und mich mit zweifelhafter Miene anschauen. Ich pflegte nichts zu sagen und mich nicht zu bewegen, damit die Erscheinung nicht verschwände. Ich war erst erstaunt, als ich dich sprechen hörte. O, da hat deine Stimme mich erweckt! sie drang mir zum Herzen! Theure Laurentia! du bist es also wirklich? Sag mir doch, daß du es bist!«

Nachdem Laurentia ihrer Freundin zögernd jene Befürchtungen auseinandergesetzt hatte, in Folge deren sie sich während mehrerer Jahre versagt hatte, ihr Nachricht zu geben, schloß Pauline sie weinend in die Arme.

»O, mein Gott!« sagte sie, »du glaubtest, ich verachte dich, ich schäme mich deiner! ich, die ich dir immer die größte Achtung und Verehrung bewahrt habe, ich, die ich wohl wußte, daß eine Seele wie die deine sich in keiner Lage des Lebens verlieren könne!«

Laurentia erröthete und erbleichte, als sie diese Worte vernahm. Sie erstickte einen Seufzer und küßte Pauline's Hand mit einem Gefühl tiefer Verehrung.

»Allerdings,« fuhr Pauline fort, »setzt deine jetzige Lebensstellung die engherzigen, unduldsamen Ansichten aller Personen, mit denen ich verkehre, in Aufruhr. Nur eine einzige bewahrt bei ihrer Strenge einen Rest von Zuneigung und Bedauern – das ist meine Mutter. Sie tadelt dich – das mußt du wol erwarten; aber sie sucht dich zu entschuldigen, und man sieht, daß sie nur mit Schmerzen das Anathema über dich ausspricht. Du weißt, ihr Geist ist nicht vorurtheilsfrei, aber ihr Gemüth ist gut, die arme Frau!«

»Was soll ich nun thun, damit ich gut aufgenommen werde?« fragte Laurentia.

»Ach Gott!« entgegnete Pauline, »sie würde leicht zu täuschen sein – sie ist blind.«

»Blind? O mein Gott!«

Laurentia war wie betäubt bei dieser Nachricht. Bei dem Gedanken, wie fürchterlich unter diesen Umständen das Leben auf Pauline lasten müsse, blickte sie ihre Freundin mit dem Ausdruck tiefen, durch die Achtung jedoch verhüllten Mitgefühls unverwandt an. Pauline errieth sie, drückte ihr zärtlich die Hand und sagte mit ergreifender Natürlichkeit:

»Alle Uebel, die Gott uns sendet, enthalten auch etwas Gutes. Ich hätte mich vor fünf Jahren beinahe verheirathet, ein Jahr später verlor meine Mutter das Gesicht. Nun sieh, wie gut es ist, daß ich ledig geblieben bin, um sie zu pflegen! Wer weiß, ob ich es gekonnt hätte, wäre ich verheirathet gewesen.«

Von Bewunderung durchdrungen, fühlte Laurentia, wie ihre Augen sich mit Thränen füllten.

»Es ist klar,« sagte sie, durch Thränen lächelnd, zu ihrer Freundin, »daß du durch tausend andere, ebenso heilige Sorgen abgehalten worden wärest, und daß sie noch mehr zu beklagen gewesen wäre, als jetzt.«

»Ich höre sie sich regen,« sagte Pauline.

Und eilig, aber gewandt genug, um nicht das mindeste Geräusch zu machen, schritt sie in das anstoßende Zimmer.

Laurentia folgte ihr auf den Zehenspitzen und sah die alte, erblindete Frau auf einem Bette ausgestreckt, das die Gestalt eines Korbwagens hatte. Sie war fahlgelb und blaß. Die unheimlich leblosen Augen gaben ihr ganz und gar das Aussehn eines Leichnams. Von unwillkürlichem Schrecken ergriffen, wich Laurentia zurück. Pauline näherte sich ihrer Mutter, neigte sanft ihr Antlitz zu dem häßlichen Gesicht herab und fragte leise, ob sie schliefe. Die Blinde antwortete nicht und kehrte das Gesicht nach der Wand. Pauline breitete sorgfältig die Kissen über die abgemagerten Glieder, zog leise den Vorhang zu und führte ihre Freundin in den Salon zurück.

»Laß uns plaudern,« sagte sie, »meine Mutter steht gewöhnlich erst sehr spät auf. Wir haben einige Stunden Zeit, um uns wiederzuerkennen. Wir werden wol auch ein Mittel finden, ihre alte Freundschaft für dich wieder zu beleben. Vielleicht genügt es schon, ihr mitzutheilen, daß du da bist! Aber sage mir, Laurentia, wie konntest du glauben, daß ich dich .... O, ich werde das Wort nicht aussprechen! Dich verachten! Welch eine Beleidigung thust du mir da an! Aber bei alledem ist es meine Schuld. Ich hätte vorhersehen sollen, daß dir Zweifel über meine Zuneigung kommen mußten, ich hätte dir meine Beweggründe auseinandersetzen sollen .... Ach Gott! es war schwer, sie dir begreiflich zu machen! Du würdest mich der Schwäche beschuldigt haben, während es mich im Gegentheil unendlich viel Mühe kostete, auf den Briefwechsel mit dir zu verzichten und dir nicht in jene unbekannte Welt zu folgen, in der mein Herz unbewußt dich so oft aufsuchte! Und dann wagte ich auch nicht, meine Mutter anzuklagen. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, dir die Kleinlichkeit ihres Charakters und die engen Vorurtheile ihres Geistes einzugestehen. Ich war das Opfer derselben, aber ich schämte mich, sie dir zu berichten. Wenn man so weit von jedem Freunde entfernt, so allein, so traurig ist, wird jeder schwere Schritt zur Unmöglichkeit. Man nimmt sich in Acht, man scheut sich vor sich selbst und begeht einen Selbstmord aus Furcht vor dem Tode. Jetzt, da du bei mir bist, finde ich all mein Vertrauen, all meine Offenheit wieder. Ich werde dir alles erzählen. Aber zunächst laß uns von dir reden, denn mein Leben ist so eintönig, so nichtig, so glanzlos neben dem deinen! Wie viel mußt du mir zu erzählen haben!«

Der Leser darf voraussetzen, daß Laurentia nicht alles erzählte. Ihre Erzählung war sogar weit weniger lang, als Pauline erwartete. Wir umschreiben sie in wenigen Zeilen, die zum Verständniß der Situation genügen werden.

Zuerst muß bemerkt werden, daß Laurentia zu Paris in mittelmäßigen Verhältnissen geboren worden war. Sie hatte eine einfache, aber tüchtige Erziehung genossen. Als sie fünfzehn Jahre alt war, mußte sie, da ihre Familie verarmt und ins Elend gerathen war, Paris verlassen und sich mit ihrer Mutter in die Provinz zurückziehen. So kam sie nach Saint-Front, wo es ihr gelang, vier Jahre lang als Unterlehrerin in einem Mädchenpensionat ihren Unterhalt zu erwerben, und wo sie mit der ältesten ihrer Schülerinnen, mit Pauline, die, wie sie, fünfzehn Jahre zählte, enge Freundschaft schloß.

Dann trat der Umstand ein, daß Laurentia in Folge der Protection irgend einer Wittwe von Stande nach Paris berufen wurde, um dort die Erziehung der Töchter eines Banquiers zu leiten.

Wenn ihr wissen wollt, wie ein junges Mädchen seinen Beruf ahnend erblickt und entdeckt, wie sie ihn allen Vorstellungen und allen Hindernissen zum Trotz erfüllt, so lest die reizenden Memoiren Hippolyte Clairon's, einer berühmten Schauspielerin des vorigen Jahrhunderts.C. I. H. Leyris de la Tude, genannt Hippolyte Clairon (1723 bis 1803) betrat schon im 12. Lebensjahre die Bühne. Ihre Memoiren erschienen Paris 1798 (neue Aufl. Paris 1822), eine Uebersetzung derselben von I. H. Meister, Zürich 1798. Anm. d. Uebers.

Laurentia machte es, wie alle diese prädestinirten Künstler: sie durchlebte alle die Nöthe, alle die Leiden des unbekannten oder verkannten Talents. Nachdem sie endlich alle Wechselfälle eines beschwerlichen Lebens, das der Künstler sich selber schaffen muß, durchlaufen hatte, wurde sie eine schöne, verständnißvolle Schauspielerin. Erfolg, Reichthum, Huldigungen, Ruhm – das alles kam nun plötzlich und mit einem Male. Von da ab genoß sie eine glänzende Stellung und eine Beachtung, die in den Augen der Leute von Geist durch ihr edles Talent und ihren erhabenen Charakter gerechtfertigt wurde. Ihre Verirrungen, ihre Liebesverhältnisse, ihre weiblichen Schmerzen, ihre Enttäuschungen und ihre Reue erzählte sie Pauline nicht. Es war noch zu früh: Pauline hätte sie nicht verstanden.


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