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17

Liebstes Lieschen,

nach meinem langen, aufregenden Brief von gestern abend wirst Du danach lechzen, weiteres zu hören; vielleicht erreichen Dich meine heutigen Nachrichten zugleich mit den gestrigen. Ich hoffe es; denn das würde Dir manchen Tag voll trügerischer Hoffnung und unnötiger Sorge um Dein verbanntes Schwesterchen ersparen. Wie habe ich gelitten!

Wir glaubten, wir könnten uns wenigstens ein bis zwei Tage von der unliebsamen gestrigen Szene erholen, aber da kam heute nachmittag ein langes Telegramm von Herrn Doktor, das alles noch zehnmal schlimmer machte. Nie im Leben habe ich so viel geweint, nicht einmal an dem traurigen Septembertage, als ich von zu Hause fortging und Euch alle, herzlos wie ich bin, im Stiche ließ, um bei unbekannten, reichen Leuten in diesem verrückten fremden Land zu leben. Das Schlimmste ist, daß ich mich hier in meinem eigenen Zimmer einschließen muß, um nach Herzenslust weinen zu können, denn die ganze Familie verabscheut jeden natürlichen Ausdruck von Gefühlen. Es ist schrecklich! Das Weinen schafft nur halb so viel Erleichterung, wenn niemand da ist, der einen bemitleidet und tröstet. Daher bin ich jetzt, nachdem ich mir fast die Augen ausgeheult habe, kaum ruhiger geworden. Ich kann meine Sorgen keinen Augenblick vergessen, weil ich fortwährend darauf achten muß, daß ich nicht davon rede. Kein Wunder, daß so viele Leute in diesen alten puritanischen Kreisen verrückt werden! Vielleicht wird auch mein lieber, guter Oliver zusammenbrechen, wenn er einmal vierzig oder fünfzig ist. Es sieht fast so aus, als ob heute etwas passiert wäre, was den Anfang zu diesem schrecklichen Ende machen könnte. Dem sechzehnjährigen Jungen ist plötzlich die furchtbare Verantwortung auferlegt worden, über seine Zukunft, die Zukunft seiner Familie und sogar die meiner armen kleinen Wenigkeit zu entscheiden. Du fragst: ›wieso, wie ist das möglich?‹ Liebling, so etwas geschieht hier aus reiner Güte; man möchte die elterliche Autorität um keinen Preis mißbrauchen und stets liberal und rücksichtsvoll bleiben. In Wirklichkeit aber steckt ein schrecklicher Selbstbetrug dahinter, mit dem man seine sittliche Schwäche bemäntelt. Diese Menschen hier, die einem volle Freiheit lassen wollen, sind in Wirklichkeit nur feige und unentschlossen bei jeder wirklich wichtigen Frage und ohne wahres Vertrauen zu irgend einer Anschauung. Alles in allem hat Frau Alden doch recht: der Herr Doktor hat einen bedauerlich schwachen Charakter. Er hält sich für wohlwollend und ist sehr großzügig in Geldsachen, aber er gibt seine Rechte auf und geht seinen Pflichten aus dem Wege. Er verzichtet einfach, und das ist Verrat am Leben. Sie ist wenigstens bei all ihrer Selbstsucht und Engherzigkeit unbedingt menschlich. Man kennt sich aus mit ihr und kann mit ihr rechnen. Jetzt schreibe ich Dir das böse Telegramm des guten Doktors an seinen Sohn. Ich kann es schon auswendig:

 

Angelegenheit nun sehr erschwert stop willst Du Schule aufgeben und nächsten Winter mit uns verbringen stop Privatlehrer könnte Dich für Universität vorbereiten nicht nötig auf Williamscollege zu bestehen stop Du kannst nach Harvard Oxford Heidelberg gehen oder wohin Du willst stop Verlassen der Heimat gefährlich doch auch gefährlich zu Hause zu vertrocknen stop Zwei sehr bedeutende amerikanische Zeitgenossen leben im Ausland John Sargent und Henry James stop Will Dich nicht gegen Deinen Willen losreißen aber auch nicht zulassen daß Du diese Gelegenheit versäumst wenn sie Dich lockt stop Triff deine Wahl ohne Übereilung könntest Dich uns in Halifax oder Quebec anschließen

Vater

 

So ein langes Telegramm – es muß mehrere Dollar gekostet haben – und kein Wort über mich dabei! Auch Frau Alden wird völlig übergangen! Wie es nun auch kommt, auf jeden Fall ist es nichts mehr mit der wundervollen Seefahrt und all den gefährlichen, interessanten Abenteuern und Möglichkeiten, auch die Seekrankheit soll ich nicht kennenlernen. Ich bin dazu verurteilt, hier zu sitzen und alt zu werden, dazu vielleicht noch meinen lieben Zögling hergeben zu müssen. Trotzdem könnte ich nicht wünschen, er bliebe hier. Also Oxford oder Heidelberg? Nein, wenn auch Heidelberg mit seinem gewissenlos zerstörten Schloß auf den Bildern wunderschön aussieht, gäbe ich doch Bonn den Vorzug. Da fließt der edle Rhein vorüber, und auch unser Kaiser ist nach Bonn geschickt worden, es muß daher wohl das denkbar beste sein. Auf alle Fälle ein herrliches Abenteuer für Oliver! Lehr- und Wanderjahre voll poetischer, romantischer, farbiger Erlebnisse! Dort würde sein wunderbarer Geist wahrhaft kultiviert, gelehrt, humanistisch, wissenschaftlich und universal gebildet werden, wie der unseres großen Goethe! Nein, ich brachte es nicht über mich, selbstsüchtig zu wünschen, er möchte den Vorschlag seines Vaters ablehnen. Meine größte Befriedigung soll immer in seinem Glück liegen.

Ich hatte die Depesche dem Boten selbst abgenommen, denn die Bestellung außerhalb der Stadt kostet fünfundzwanzig Cents mehr; da werden alle Telegramme zuerst zu mir gebracht, weil ich alles bezahle. (Natürlich schreibe ich das in mein Haushaltsbuch.) Sofort rannte ich atemlos damit zu Oliver. »Ein Telegramm für dich! Sicher von Herrn Doktor! O bitte, sieh doch gleich nach, was drin steht!« Aber er nahm es ruhig an sich, las es ein-, zweimal für sich, ohne etwas zu sagen, und steckte es in die Tasche. »Ich zeige es Ihnen nachher, wenn ich darüber nachgedacht habe. Jetzt nicht. Ich gehe erst noch ein bißchen zum Paddeln.« Und damit stieg er geradeswegs die Holzstufen hinunter, die der Doktor an der Steilseite des Hügels anbringen ließ, damit Oliver einen näheren Weg zur Schule hat.

Ich war nicht böse auf ihn, denn als er sich so heftig abwandte und mit ganz trockener Kehle sprach, merkte ich, wie aufgeregt er war. Ich kenne dieses Gefühl ja so gut: man hat dann das zwingende Bedürfnis, allein zu sein und seine Entschlüsse in Beziehung zum ganzen Leben, zu Vergangenheit und Zukunft und zu der allumfassenden, gleichmäßigen, allheilenden Natur zu setzen; deshalb wartete ich, so geduldig ich konnte und, liebes Lieschen, ich betete sogar! Ja, ich betete; denn obwohl es mir immer ein Rätsel sein wird, wieso das Beten Sinn haben kann, und wieso Gebete je erhört werden können, so ist doch, wenn wir ratlos sind, das Gebet das einzige Mittel, unsere Gedanken zu Gott zu erheben und uns die Ergebung in seinen Willen zu erleichtern. Endlich kam nun Oliver zurück, ganz ruhig, aber etwas erschöpft – es ist ja so entsetzlich heiß draußen – und warf sich in einen der Korbsessel auf dem Balkon des Schulzimmers.

»Da ist das Telegramm«, sagte er, »was halten Sie davon?« »Ach, Oliver«, rief ich, als ich es gelesen und richtig begriffen hatte, »was für eine schrecklich große Entscheidung wird dir da überlassen! Was willst du tun?«

»Ich weiß noch nicht. Ich muß erst mit Mutter sprechen und hören, was sie dazu sagt. Aber ich habe mir die Sache nach allen Seiten hin gründlich überlegt und bin mir über einiges schon klar. Zunächst habe ich gar keine Lust, nach Harvard, Oxford oder Heidelberg zu gehen. Williams ist gut genug für mich; das ist ein einfaches, vernünftiges College in den Bergen, wo eine Menge anständiger Kerle aus allen Teilen des Landes hingehen. Ich mag mich nicht in einer großen, eleganten Universität herumdrängen, wo alles nur Spiegelfechterei und Snobismus und Dekoration ist. Die modernsten Ergebnisse der Naturwissenschaft oder Geschichte kann man überall in Büchern nachlesen; und wenn ich irgend einen berühmten Professor unbedingt hören möchte, so kann ich das später immer noch. Damit ist der eine Teil von Papas Plan schon erledigt.

Andererseits mache ich mir nicht das geringste aus Mutters Einwendungen gegen Lord Jim und die Jacht und Vaters Einfluß auf mich. Sie ist voreingenommen, sie hat einfach unrecht, und wenn Leute unrecht haben, braucht man keinerlei Rücksicht auf sie zu nehmen. Die Gefahren, von denen Mutter da redet, gibt es gar nicht. Selbst wenn ich so werden wollte wie Papa oder Lord Jim, brächte ich es nicht fertig, und außerdem möchte ich es gar nicht. Aber ich bin eben gern mit ihnen zusammen. Es ist herrlich, und ich lerne eine Menge, gerade weil sie die Dinge mit so ganz andern Augen ansehen, und Lord Jim aus England stammt und einmal gewöhnlicher Arbeiter war; er kennt die harten Seiten des Lebens und ist trotzdem ein Gentleman und furchtbar nett zu mir. Ich möchte schrecklich gern wieder auf die Jacht, aber nur so, wie Papa es zuerst vorschlug: bis nach Quebec und dann mit der Bahn zurück. Das ist der zweite Punkt, über den ich mir klar bin.

Und nun kommt Mutter dazwischen und sagt, wenn ich das täte, dürfte ich nie wieder heim. Dann müßte ich also von der Schule abgehen und das letzte Jahr schwimmen lassen. Aber ich bin doch Kapitän der Rugby-Mannschaft, und die Jungen zählen darauf, daß ich in diesem Jahr die großen Spiele gegen die andern Schulen gewinne; und da soll ich mich nun drücken und unsere Schule in der Klemme lassen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu das Recht habe, bloß meines Vergnügens wegen. Das ist also ein zweifelhafter Punkt; und eine andere Frage ist, ob ich, selbst wenn ich von der Schule abgehen wollte, überhaupt mit einem Privatlehrer arbeiten möchte. Was meinen Sie, wer sollte das sein? Wenn Lord Jim Griechisch und Latein könnte, würde ich mich gern darauf einlassen; aber ein richtiger Privatlehrer wäre wahrscheinlich mehr so wie Mr. Trill« – habe ich Dir schon erzählt, liebes Lieschen, daß Seine Ehrwürden Mr. Algernon Trill von St. Barnabas Oliver griechische Privatstunden gibt? – »irgend so ein langhaariger Kerl mit einer Brille, der seinen schmutzigen Zeigefinger hebt, viel Wesens aus Kleinigkeiten macht und mich nicht auf meine eigene Art arbeiten läßt. Darauf käme zwar nicht viel an, denn ich glaube, ich könnte die Aufnahmeprüfung fürs College schon jetzt bestehen, ohne überhaupt im nächsten Jahr zu arbeiten. Aber will ich mich denn ein ganzes Jahr in fremden Erdteilen herumtreiben, ohne meine gewohnten Bücher, ohne Rugby, ohne Sport oder anderes körperliches Training – denn im Winter können Lord Jim und ich doch nicht schwimmen?«

Ich versicherte ihm, daß es in Nizza oder Cannes oder auch in Griechenland genug Tennis- und Golfturniere gäbe, wo er mitmachen könnte, und daß er an Bord jederzeit Gelegenheit hätte, Gymnastik zu treiben oder den Segelsport zu lernen und seetüchtig zu werden wie der junge Kapitän. Vergeblich stellte ich ihm vor, daß sie doch auch Landausflüge nach Athen, Rom, Baalbek und den Pyramiden machen würden; das ließ ihn alles kalt. Nur wie ich von Naturschönheiten sprach, vom Golf von Neapel, der Blauen Grotte von Capri, den griechischen Inseln, den Dolomiten, dem Monte Rosa und der Jungfrau, konnte ich so etwas wie Interesse bei ihm wecken. Mein lieber Zögling ist eben doch ein echter Amerikaner; die Vergangenheit bleibt fremd und tot für ihn. Außerdem ist er ein Junge, und das Rugby-Spiel in seiner Schule kommt ihm wichtiger vor als die Geschichte der Menschheit.

Und noch etwas ist sehr merkwürdig bei ihm; ich hatte es vorher niemals ganz verstanden: Man hätte erwarten sollen, daß er böse und ärgerlich über seinen Vater würde, so wie ich, weil der Doktor ihm eine entsetzliche Verantwortung auflud, während es doch gerade die Pflicht eines Vaters ist, auf Grund seiner Erfahrung über die Erziehung seiner Kinder zu entscheiden. Aber nichts dergleichen! Bei aller seiner Aufregung war Oliver im tiefsten stolz und zufrieden und beherrschte die Situation wie ein geborener Befehlshaber. Siehst Du, so ist das männliche Geschlecht! Die Männer wollen sich gern stark vorkommen, Entscheidungen fällen, Gefahren auf sich nehmen, wollen wetten und spielen, Frauen verführen, ohne an die Folgen zu denken, und sich ohne Sinn und Zweck bekriegen. Das ist die Natur, die ihre Geschöpfe blind ins Verderben treibt. Auch wir Frauen wollen unseren Willen durchsetzen, aber unter dem Schutze irgend einer Autorität: Gottes oder unseres Mannes oder wenigstens der öffentlichen Meinung. Wir hätten Angst davor, allein zu stehen, aber ein rechter Mann hat das gerade gern. Männer sind so viel romantischer als Frauen, die, um der Wahrheit die Ehre zu geben, geborene Haustiere sind; Männer aber werden erst zahm, wenn sie ihre Jugend verloren oder verpaßt haben.

Ich erkannte das heute ganz klar an Oliver. Nach dem Abendessen – er sieht seine Mutter nur bei den Mahlzeiten – als wir ins Wohnzimmer hinübergingen, gab er Frau Alden das Telegramm und sagte, er hätte es ihr nicht zeigen wollen, solange Annie im Zimmer war. Überlege Dir: was für eine Gefühlskälte! Als ob er es seiner Mutter nicht schon früher hätte bringen können! Aber es behagte ihm, es heimlich in der Tasche zu haben und seine Umgebung ahnungslos zu lassen, daß alles von seinem Willen abhing. Und nun stellte er sich noch besonders rücksichtsvoll, so, als möchte er Familienangelegenheiten vor den Dienstboten geheim halten und käme pflichtgemäß, um seine Mutter zu Rate zu ziehen, obgleich er doch im stillen schon entschlossen war, ihre Meinung nicht im geringsten zu berücksichtigen. So sind die Männer von Natur – einfach Tyrannen!

Frau Alden begriff das sofort und trat nicht dagegen auf. Sie war eisig. Sie las das Telegramm, ohne mit den Wimpern zu zucken, als wäre es die Abendzeitung; dann warf sie es verächtlich auf den Tisch, ging wie gewöhnlich in ihre Ecke, nahm das große, dünne Buch auf – das illustrierte »Leben Washingtons« – das sie angeblich liest (das Lesezeichen liegt seit einer ganzen Woche an derselben Stelle), legte es offen auf den Schoß, faltete die Hände darüber; und endlich, als niemand sprach, sah sie ihren Sohn an und sagte ruhig:

»Was willst du tun?«

»Ich bin noch nicht entschlossen. Ich will es mir heute nacht überlegen. Morgen früh gebe ich dir Bescheid.« Er nahm das Telegramm in einer Art vom Tisch auf, die ich etwas prahlerisch fand; es war, als führe er ein Kartenkunststück vor, oder nähme in einem scharfen Spiel dem Gegner den Ball ab. Er steckte es fast trotzig in die Tasche, als wäre es eine Unabhängigkeitserklärung. Da tat mir doch für Frau Alden das Herz weh. Es war grausam von Oliver, so abzugehen, ohne sie um Rat zu fragen; er gab dadurch offen zu, daß sie von nun an in seinem Leben nichts mehr bedeutet. Aber diese Grausamkeit war nur die andere Seite seiner Reinheit, seiner Strenge gegen sich selbst. Er mußte diese Entscheidung allein treffen, allein mit Gott; es konnte keine leichte Entscheidung sein. Sie durfte nicht vorschnell und zugunsten seines Vergnügens fallen.

Du weißt, daß mein Zimmer auf der einen Seite des Schulraums liegt und seins auf der andern; es sind Verbindungstüren zwischen den drei Räumen. In der Nacht hörte ich ihn mehrmals in das Schulzimmer gehen und das Licht an seinem Schreibtisch andrehen. Ich konnte den dünnen Lichtstreifen unter meiner Tür sehen und gelegentlich hören, wie er mit dem Stuhl rückte oder umherging oder auf den Balkon trat – es war Vollmond – und es kam mir vor, als bliebe er stundenlang draußen. Endlich – denn ich dämmerte nur ab und zu etwas ein – hörte ich, wie er leise an meine Tür kam und einen Papierstreifen hereinschob. Dann trat er auf den Vorplatz, ging die Treppe herunter und kam kurz danach wieder herauf. Ich konnte mir denken, was er machte; er schob einen ebensolchen Papierstreifen unter die Tür seiner Mutter und legte den langen, dicken Brief, den er an seinen Vater geschrieben hatte, auf den Tisch unten in der Halle, damit ich ihn am Morgen frankieren und zur Post geben könnte. Es wurde schon Tag, und als ich noch eine Weile gewartet hatte, um sicher zu sein, daß er endlich zu Bett gegangen war, stand ich auf und nahm leise das Stück Papier an mich. In der Dämmerung konnte ich Olivers runde, knabenhafte Handschrift entziffern, aber die Zeilen waren unregelmäßig und liefen abwärts, was sie sonst nicht tun:

 

Habe mich entschlossen zu bleiben. Erwartet mich nicht zum Frühstück. Ich war die ganze Nacht auf und möchte jetzt schlafen. Bitte, sagen Sie Mrs. Mullins, daß sie Milch und zwei rohe Eier für mich bereit hält, bis ich herunterkomme.

 

Dieses letzte Zeichen ist das Monogramm, das er stets als Unterschrift benutzt. – Jungen lieben immer solche Spielereien mit ihren Namen und Initialen. Ich habe Oliver gesagt, daß das Monogramm (da man nicht erkennen kann, welcher Buchstabe der erste ist) das Alpha und Omega unseres Heilandes bedeutet. Aber er achtete gar nicht darauf und benutzt es weiter.

Also nun war alles entschieden. Vor neuen Wendungen waren wir sicher. Aber doch konnte ich nicht schlafen. Mir war, als könne nie wieder Friede in dieses Haus einziehen. Ich stand auf, nahm mein Bad, machte mein Haar, obwohl es noch entsetzlich früh war – kaum fünf – und schrieb Dir diesen Brief. Es ist mir in all diesem Durcheinander ein rechter Trost zu wissen, daß Du, liebes Lieschen, noch zu Hause bist und hoffentlich Dein armes, kleines Schwesterchen jederzeit wieder aufnimmst! Denn wer weiß? Vielleicht komme ich wirklich wieder zu Dir, und wir werden in unserm Alter in der krummen alten Rathausgasse sitzen und den lieben, langen Tag miteinander schwatzen.

P. S. Etwas Wunderbares ist vorgefallen. Du wirst zwar sagen, es käme von meiner Nervosität und Schlaflosigkeit, aber ich habe, während ich hell wach war, ein übernatürliches Erlebnis gehabt, eine Vision geradezu. Ich war mit diesem Brief fertig und wollte eben zum Frühstück hinuntergehen, da es fast acht Uhr war und wir immer sehr pünktlich sind. Da merkte ich, als ich auf Zehenspitzen durch das Schulzimmer ging, daß Olivers Tür offen stand. (Er leidet nämlich so unter der Hitze, daß er an seiner Tür einen langen Haken hat anbringen lassen, der sie etwas offen hält, damit es in diesen drückend heißen Nächten Zugluft im Zimmer gibt.) Ich mußte nun einfach stehen bleiben und hineinschauen, ob alles in Ordnung war.

Auf einmal sah ich an der gegenüberliegenden Wand, trotz des gedämpften und ungewissen Lichtes, das durch die Läden und Vorhänge fiel, vollkommen klar und deutlich ein lebenswahres Bild des gekreuzigten Christus vor mir! Ich wußte genau, daß kein derartiges Bild dort hängt. Religiöse Bilder sind das letzte, was Frau Alden und Oliver in ihren Zimmern dulden würden. Wenn sie überhaupt andere Bilder als Familienphotographien an der Wand haben, dann höchstens etwas wie »Ein schottischer Schäfer und sein Hund«, oder »Ansicht des Yosemite-Tales«.

Ich sah noch einmal scharf hin, um herauszubekommen, ob es nicht einfach eine optische Täuschung war und sich diese Linien und Farben nicht wie bei einem Vexierbild zu ganz andern Formen zusammensetzen ließen. Aber nein: obgleich der Kopf gesenkt war und das Gesicht im Schatten lag, konnte doch nichts deutlicher sein als der eine magere, lange, aber muskulöse Arm, der an ein goldenes Kreuz genagelt war; dann scharf umrissen der Rumpf mit den genau sichtbaren Rippen und dem eingezogenen Leib, schlank und hohl wie bei einem Windhund. Ich konnte genau die verkrampften Finger erkennen und sogar den Nagel, der die Handfläche durchbohrte. Das war nicht der klassische, glatte, rosige Christus der modernen, religiösen Kunst, sondern eine jener unheimlichen, mittelalterlichen Figuren, abgehärmt, mager, steif und von seltsamen Proportionen, wie Du sie in Tirol oder Bayern auf den Bildstöcken am Wegrand sehen kannst; elend und ergreifend, wahrhaft religiös und ganz deutsch.

Plötzlich wurde ich auf den Rahmen aufmerksam. Es war der Rahmen von Olivers Spiegel, der über seinem Toilettentisch hängt! Ja, was ich sah, war nur ein Spiegelbild von Oliver selbst. Das Bett mitsamt seinem Kopfende erschien in dem gegenüberhängenden Spiegel. Oliver lag hochaufgerichtet da, der eine Arm ruhte ausgestreckt auf der breiten Messingstange über seinem Kopf, die in meiner Vision das goldene Kreuz gebildet hatte. Und was ich für den Nagel gehalten hatte, war nur eine Schwiele, die vom Rudern herrührte, denn seine Hände sind außen zwar glatt und weich, aber innen hart und hornig vom Sport. Er hatte seine Jacke und seine Decke abgeworfen und war bis zu den Hüften nackt; aber nicht nackt wie wir durchschnittlichen Stubenhocker, wenn wir »ausgezogen« sind; nein, dieser schlanke Körper war bräunlich und von der Sonne in verschiedenen Farben getönt, genau wie ein uraltes Elfenbein-Kruzifix, das vielleicht einmal weiß war, nun aber dunkel geworden ist und sich im Lauf der Zeit oder durch einen Zufall mit Patina überzogen hat. Sonderbar, zu denken, daß es der Sport, also ein Vergnügen, gewesen sein soll, der alle Linien und Sehnen in diesen Knabenkörper hineinmodelliert hat, genau so, wie bittere Askese einen alten, abgeschundenen Eremiten zurichtet!

Wenigstens konnte ich jetzt erleichtert aufatmen. Alles erklärte sich auf natürliche Weise. Doch wenn Du es auch Aberglauben nennst – ich fühle trotzdem, daß ein solches Erlebnis selbst durch eine vernunftgemäße Erklärung nichts von seiner mystischen Realität verliert. Ich hatte meine Vision wirklich gehabt, mag nun meine eigene Stimmung daran schuld gewesen sein oder vielleicht dieses dumme Monogramm, das in meinem armen, benommenen, schlaftrunkenen Kopf herumspukte. Gewiß! Aber irgend etwas hatte mich doch erst in diese Stimmung versetzt! Was war es nur? Ganz gewiß nicht ein Wunsch oder die natürliche Richtung meiner Gedanken. Du weißt, wie ich abergläubische oder frömmlerische Frauen hasse. Warum erkannte ich aber dann Oliver nicht sofort? Warum spiegelte mir mein Geist diese sonderbare Illusion vor?

Ach, ich weiß wohl, wie es zusammenhing. Ich habe meinen Zögling in all diesen langen Jahren beobachtet und alles, was ihn bewegte, so lebhaft mitgefühlt, daß ich auch sah – was er nicht sehen kann – wie seine Natur unentwegt von seiner Umgebung und seinen Lebensverhältnissen erstickt wird und immer mehr erstickt werden muß, je älter er wird. Abscheulich, dieser mißleitete Opfersinn, dieser Selbstmord aus Gewissenhaftigkeit! Christus starb wenigstens, um verklärt zu werden, um der Welt zu offenbaren, daß er der Sohn Gottes war. Aber mein armer Oliver – ich sehe jetzt, daß ich zu Unrecht meinte, er könnte eines Tages wahnsinnig werden. Dafür hat er viel zu viel Selbstbeherrschung, viel zu viel sanfte Verständigkeit. Aber wird er je die geistige Klarheit und den geistigen Mut aufbringen, er selbst zu sein? Und wenn nicht, wird er dann robust genug sein, um in einem Zustand von Unterdrücktheit, Hoffnungslosigkeit und seelischer Unsicherheit weiterzuleben? Bringt er es fertig, wie so viele gute Leute in diesem erbarmungslosen Land, sein wahres Selbst zu überleben, ja, genau das zu werden, was er immer gehaßt hat, und so dahinzuvegetieren? Meine Vision gibt mir Antwort auf diese Frage. Nein, sagt das Orakel. Eher würde Oliver jung und unglücklich sterben. Und dieses geheime Martyrium unserer Zeit wäre in seiner Art trauriger als das von Golgatha. Denn es würde keine Welt erlösen. Es kann nicht einmal eine einzige Seele erlösen.


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