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Mrs. Alden hatte dem Feinde standgehalten und den Sieg errungen, aber sie war nachhaltig eingeschüchtert und hatte wenig Lust, ein zweites Gefecht zu wagen. Ihr äußerer Sieg gab ihr die Möglichkeit, sich mit Würde zurückzuziehen und großmütig auf die Autorität zu verzichten, die sie ohnehin hoffnungslos eingebüßt hatte. Oliver hatte sich entschlossen zu bleiben, aber er war ein anderer geworden. Seine Kindheit unter ihren Fittichen war zu Ende; ebenso seine Lehrzeit bei der treuen Irma. Dieses Haus war für ihn kein Zuhause mehr; es war nur noch eine Eisenbahnstation, wo er ein Jahr auf den nächsten Zug warten mußte. Gerade kraft seiner Gewöhnung, überlegen zu urteilen und zu mißbilligen, die das Beispiel seiner Mutter stets in ihm verstärkt hatte, kehrte er sich nun gegen sie selbst. Er war zum Feinde übergegangen und hatte das Arsenal seiner puritanischen Tugenden mit sich genommen: Lauterkeit, Tapferkeit, Verachtung des Vergnügens, praktische Tüchtigkeit und endlich ein geheimes, fast höhnisches Bewußtsein seiner Einigkeit mit den unsichtbaren Mächten. Der junge Schäferhund hatte ganz zufällig Blut geleckt, und die alte Wolfsnatur war in ihm aufgewacht. Wenn er auch zunächst noch fleißig die Herde umkreiste und weiter kein Unheil anrichtete, so lief er doch fortan in einer ganz neuen Munterkeit mit erhobenem Kopf umher, um warnend anzudeuten, daß sein Amt ein Herrenamt sei, genau wie das des Schäfers.
Diese Sachlage konnte sich im Familienleben nicht gerade glücklich auswirken. Mutter und Sohn vermieden einen offenen Bruch, indem sie ihre Meinungsverschiedenheit niemals berührten, aber eine uneingestandene Spannung lag in der Luft, und die Mahlzeiten verliefen schweigsam und trübselig. Aber schließlich waren die beiden ja immer zurückhaltende Naturen gewesen, die bloß nebeneinander her lebten. Glücklicherweise stand Fräulein Schlote mit beiden Parteien auf bestem Fuß; wenn ihr Herz auch vollkommen auf Olivers Seite war, so verbanden ihr persönliches Interesse und weibliches Mitgefühl sie doch mit seiner Mutter. Sie vermittelte dem einen Teil die Ansichten des andern und versuchte alles zu erklären, was unfreundlich aussah. Mit Sanftmut brachte sie Mrs. Alden zu der Einsicht, daß Oliver nicht länger wider eigenes Ermessen sich ihrer Autorität unterwerfen konnte. Sein Vater hatte ihm freie Hand gelassen, und da seine Unabhängigkeit nun einmal Tatsache war, konnte man sie ebensogut als Recht anerkennen. Außerdem benützte er diese Unabhängigkeit ja dazu, im Grunde das zu tun, was seine Mutter wünschte. Er wollte sein letztes Schuljahr in der alten Schule durchmachen, er wollte das ländliche College besuchen, wo ihr Bruder Professor war. An Oliver überbrachte Irma andererseits die halboffizielle Versicherung, daß seine Mutter niemals wieder einer seiner Freundschaften in den Weg treten werde, wenn er sich an diese Pläne halte.
So ging alles glatt, als ein zweites langes Telegramm von Peter kam. Es sei vielleicht ganz gut, meinte er, daß Oliver sich zunächst für das Sichere entschieden habe. Ein Schuljahr mehr schade nichts. Wenn das weltbewegende Rugby-Spiel vorüber sei, könne Oliver mit ihnen im nächsten Sommer in England zusammentreffen. Inzwischen aber würde Irma und ihm vielleicht ein Ausflug zu den Niagarafällen und zum Yellowstone-Park Spaß machen. Und es folgte ein Scheck.
Irma und Oliver sprachen ihre Freude über den Vorschlag aus und bedankten sich für die tausend Dollar. Letitia Lamb sollte Mrs. Alden während ihrer Abwesenheit Gesellschaft leisten. Alle Beteiligten gaben sich Mühe, Zufriedenheit zur Schau zu tragen, obgleich sie etwas verletzt und enttäuscht waren.
Niagarafälle und Yellowstone-Park wurden also besucht und gebührend bewundert. Die lustigen Zwischenfälle der Reise wurden belacht und immer wieder mit Vergnügen besprochen. Dieses Hotel wurde als vortrefflich bezeichnet, jenes als abscheulich, dieser Ausflug als ermüdend, jenes Naturschauspiel als überwältigend, und Irma berichtete jede Einzelheit in überströmenden Briefen der lieben Schwester in Göttingen. Das Leben, meinte sie, blieb trotz gewisser großer Enttäuschungen, die dem Charakter Tiefe verliehen, doch stets reich und voll, und die Welt herrlich.
Oliver aber war im Grunde nicht ganz versöhnt, obgleich er alles gutwillig mitmachte. Die Natur verlor ihre Freundlichkeit, wenn man in ungeeigneter Stimmung an sie herankam und sie auf Befehl bewundern sollte. Nicht ihre auffallendsten Schauspiele und Wunder machten sie zu der großen Gefährtin, sondern ihr stetiges Fließen, das unfehlbare Gleichgewicht ihres nie versiegenden Lebens. Vor den schamlos herumdeutenden Händen und alltäglichen Stimmen, die einen aufforderten, dieses anzuschauen und jenes zu bewundern, wurde die Wirkung aller Schönheit auf den freien Geist zunichte. Auch gab es nicht viel, was wirklich schön war, und von dem man glücklicher und erfrischter schied, als man gekommen. Vielleicht hatte seine Mutter doch recht. Vielleicht war es besser, nicht zu reisen, wenn man die Welt bewundern wollte; und besser, seinen Mitmenschen nicht zu nahe zu kommen, wenn man sich eine hohe Meinung von ihnen erhalten wollte. Er konnte aus der Güte seines Vaters die Enttäuschung und Bitterkeit, die Mischung aus Verachtung und Rücksicht herausfühlen, mit der er seinem Sohn erlaubte, den langweiligeren, ungefährlicheren, sicheren Weg zu gehen. Ach, es war nicht um seines Vergnügens oder Glückes willen oder in der Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, daß Oliver ihn gewählt hatte, sondern nur, weil er sich gebunden in seinen gegenwärtigen Pflichten, gleichsam mit den Wurzeln festgehalten fühlte, und schlechterdings nicht anders hatte wählen können. Es war ein niederdrückendes Opfer gewesen. Warum konnte sein Vater ihn deswegen nicht bemitleiden und lieben, statt ihn zu verachten?
Ein sonderbarer Schleier von Unwirklichkeit und Wertlosigkeit schien sich jetzt über sein Alltagsleben ausgebreitet zu haben. Selbst die Arbeit für die Schule, die er nun wieder aufnahm, beschäftigte ihn nur zum zehnten Teil. Wenn der Wind von Süden kam, entstand eine seltsame Leere in seiner Brust. Er begriff jetzt den alten Gedanken, daß die Seele schon frühere Lebensformen durchgemacht hat, daß sie nicht wirklich in dieser Welt zu Hause ist. Der Ablauf des Tages war für ihn eine Fiktion, die er aufrecht erhielt, so, als wirke er auf einer Liebhaberbühne mit. Die Rollen waren nur angenommen und wurden nicht besonders gut gespielt; doch machte man sich so lange vor, alles sei ernst, bis man vergessen hatte, daß es anders war.
Für ihn aber hatte sich eine Versenkung geöffnet, die ihn hinunterführte in das Kellergeschoß der Weltbühne, auf der andere Leute ihr Leben lang so festen Schrittes einhergingen, als sei sie das Urgestein der Natur. Dennoch enthüllte jeder Fußtritt auf diesen wackeligen Brettern irgend eine alte Torheit, irgend eine baufällige Kulisse, die vielleicht einmal in einem Weihnachtsstück Kinder hatte täuschen können, Kinder, die inzwischen längst an Altersschwäche gestorben waren. Und im Hintergrund war von oben durch die zerrissenen Vorhänge und schäbigen Dekorationen ein Sonnenstrahl hereingedrungen; ein Streifen goldener Staubteilchen zog sich durch die dicke Luft, die er ahnungslos eingeatmet hatte, und entzauberte die Pappdeckelschlösser und nachgemachten Wälder dieser künstlichen Welt. Aber nicht Romantik war es, was da zerstört wurde, sondern Sklaverei, Mühseligkeit, Aberglaube. Die lebendige Luft, die Freiheit, die Einfachheit, das natürliche Licht da draußen bargen viel mehr romantischen Zauber in sich als irgend ein moralisches Melodrama, das aus den Angstträumen der Menschheit entstanden war! Deswegen hielten wohl manche Leute soviel von Goethe oder von Walt Whitman: diese Dichter erlösten sie von ihrem moralischen Krampf. Aber Pedanterie und große Worte waren zu dieser Erlösung durchaus nicht nötig! Man brauchte nur zur See zu gehen.
Im täglichen Leben stellte das Rugby-Spiel am besten Olivers normale Alltagsverfassung wieder her und bannte seine mystische Entfremdung. Es war ein seltsames homöopathisches Heilmittel, eingestandenermaßen nur ein Spiel, eine große Leidenschaft um nichts, eine schreckliche Pflicht, die man sich leichtfertig auferlegte. Eine Art Galgenhumor lag darin, sich in diesen Sport zu stürzen und für ihn zu leiden. Er forderte die rein körperliche Freude der Jugend an Kampf und Wettstreit heraus. Er erlöste und begnadete, weil er harte Anstrengung verlangte, die auf den inneren Menschen reinigend, klärend und erschöpfend wirkte. Er verwies die verwickelten menschlichen Schwierigkeiten in den Hintergrund und ließ für nichts anderes Raum als für die unbewußte Lust, in animalischer Sicherheit atmen zu dürfen und mit dem kreisenden Erdball in einem wachen Traum dahingetragen zu werden. Er schenkte eine Art von geistloser Befriedigung, etwas getan zu haben, ganz gleich, was. Aber gab es denn in der Welt keine Aufgabe, die es lohnte, alle Strenge und Klarheit des Geistes und alle Kraft der Seele einzusetzen?
Daß der Prophet dieser inneren Wandlung Jim Darnley war, daß Oliver ihn vermißte, sich in seine handfeste Philosophie hineinträumte – das gestand er sich niemals offen ein und schrieb es nicht in sein Tagebuch. Absichtlich betrachtete er die Fahrt mit dem ›Schwarzen Schwan‹ als abgeschlossenes und erledigtes Ferienerlebnis; am besten schob man jeden Gedanken daran beiseite und hielt sich an die Gegenwart. Als jedoch plötzlich die entfernte Möglichkeit auftauchte, Jim wiederzusehen, wenn auch nur für einen Tag, da hätte freilich keine tropische Morgenröte schneller heraufziehen können als das Licht, das nun Olivers ganzen Himmel überflutete.
Wie weggeblasen war das fatale Gefühl von Zwiespältigkeit und Scheinleben! Mit einem Eifer, der gar keine Selbstbesinnung mehr aufkommen ließ, stürzte sich Oliver ins Telegrafieren, Briefschreiben, Plänemachen, ja er scheute nicht vor kleinen Tatsachenverdrehungen zurück. Er wurde so schnell ein völlig anderer, daß er selbst nicht die geringste Veränderung bemerkte. Sein Wille ließ kein Mittel unversucht und wurde mit allem fertig. Auf sein Telegramm hin erfuhr er, Jim sei im Manhattanhotel und werde auch am 19. November noch dort sein. Ja, hieß es in Beantwortung seines Briefes, die Verwaltung von Yale überlasse Mr. Alden für die übersandten drei Dollar gern noch ein Billett zu dem Wettspiel in Princeton, sie hoffe ferner, ihn demnächst als Studenten in New Haven begrüßen zu können. Gute Sportsleute kämen in Yale immer auf ihre Rechnung und fänden alle möglichen Erleichterungen für ihre Studien. Ein inoffizieller Berater werde ihn bei seiner Ankunft in Empfang nehmen und ihm alles zeigen, damit er sich gleich zu Hause fühle.
»Wie gut«, dachte Oliver, ohne sich zu überlegen, daß seine Freude herzlos war, »wie gut, daß der Maat des ›Schwarzen Schwans‹ plötzlich auf See gestorben ist und der Ingenieur in Bermuda seinen Dienst verlassen hat und Lord Jim deshalb nach New York zurück mußte, um neue Leute anzuheuern!« Und was für ein Glück, daß alles das gerade in eine Zeit fiel, wo Oliver zusammen mit dem Trainer und dem Manager der Schul-Elf auch nach New York kam, um das Yale-Princeton-Spiel zu sehen! Jetzt trat sein eigenes Interesse an dem Spiel völlig in den Hintergrund – freilich merkte er das nicht! – seine frühere Begierde, Taktik und Technik eines Massenspiels kennenzulernen, war untergegangen in dem einzigen Gefühl lebhafter Freude, daß Jim Darnley dort neben ihm sitzen sollte!
Und diese Vorfreude wurde nicht enttäuscht. Kaum hatten Oliver und seine Schulfreunde ihre Plätze eingenommen, da tauchte unter einem keck aufgesetzten steifen Hut ein frisches Gesicht auf, kam durch die dichte Menge näher und sah sich mit gutgelaunter Unsicherheit nach dem Platz um, den die hellblaue Eintrittskarte bezeichnete. Wie freundlich Jim aussah, und wie groß und sehnig er war, und so schön angezogen! Zu fein angezogen, würde Oliver gedacht haben, wenn er nicht gewußt hätte, daß Jim Seemann war; seine Zivilkleider mußten deshalb ja neu und etwas zu festlich wirken; man konnte es ihm nicht übelnehmen, wenn er aussah, als käme er geradeswegs aus einem Friseurladen und einem Herrenmodengeschäft, zumal diese Pracht doch Oliver zu Ehren entfaltet wurde. Außerdem fiel es bei ihm nicht so auf, denn seine Persönlichkeit übertraf den Glanz seiner Aufmachung noch bei weitem. Stämmig gebaut, aber in der Taille schlank war er und wirkte ausgesprochen männlich, mit seinen hellen blauen Augen unter den stolzen Brauen, unglaublich vergnügt, freundlich, liebenswürdig und wißbegierig. Die beiden andern Jünglinge aus Great Falls verfielen bei seinem Anblick in vollkommene Sprachlosigkeit, und nach ein paar ungeschickten Höflichkeiten überließen sie Oliver diesen Fremden, der zu fein für ihren Gebrauch war. Es war doch stets eine Erleichterung, ältere Leute wieder loszuwerden, und ein Engländer war für sie ein so fremdes Wesen wie eine Giraffe im Zoo.
In Olivers Innerem dagegen öffneten sich plötzlich alle Schleusen, und die Flut von Jims vertraulicher Herzlichkeit trug ihn munter davon. Ja, es war wirklich schon recht unangenehm gewesen, daß der Maat so plötzlich gestorben war; niemand hatte damit gerechnet. Er war zwar vorher schon griesgrämig gewesen und hatte sich ziemlich schlecht gefühlt, vielleicht hatte er ein paar von des Doktors Mittelchen erwischt und sich damit geirrt. Auf alle Fälle war es kein großer Verlust. Jim hatte sogar schon einen besseren in Aussicht, einen wirklich anständigen, willigen Kerl, gut empfohlen und gerade ohne Heuer. Ärgerlich nur, daß der Ingenieur, der auch zweiter Maat war, sie gleichzeitig im Stich gelassen hatte! Oliver hätte das Seemannsbegräbnis sehen müssen! Der Doktor wollte die Gebete nicht lesen, sagte, das wäre Sache des Kapitäns, und ein Pfarrerssohn würde schon wissen, wie man das machte. »Und ich weiß es auch«, fuhr Jim fort, »denn ich war ja mal Chorknabe und habe damals fröhlich wie ein Spatz gezwitschert. Aber nicht bei so einer Gelegenheit. Es wäre mir wie Spott und Hohn vorgekommen. So las ich die Gebete stockend herunter, als ob ich sie nicht auswendig könnte, und betonte manchmal verkehrt, ganz als echter, rechter Seebär, dem vor Rührung ein Klumpen im Halse steckt. Ihr Vater hatte versprochen zu responsieren, aber er war fast nicht zu hören; nur der Ingenieur stieß alles scharf und schneidend heraus, als wollte er jemanden anklagen, und am selben Tage kündigte er und verlangte in Bermuda abgelohnt zu werden. Übellaunige Eulen sind diese Leute manchmal; man weiß nie, welches Garn sie gerade in ihren dicken Schädeln zusammenspinnen; sie wissen es selbst kaum, aber auf einmal brausen sie auf und richten was Dummes an.«
Wildes Beifallsgebrüll, das sich manchmal auf ihrer, manchmal auf der andern Seite des Feldes erhob, erschwerte die Unterhaltung. In den Zwischenpausen wollte Jim die Regeln des amerikanischen Spiels erklärt haben. Seine eigenen Eindrücke von dem Gesamtbild und den einzelnen Vorgängen trug er vor wie lauter kleine, komische Torheiten, die Oliver richtigstellen sollte, und nach seiner aufmerksamen Miene zu urteilen, hielt er Olivers Erklärungen und Kommentare für unbedingt maßgebend und unerhört klar und interessant. Jim hatte offenbar gut gefrühstückt und freute sich schon auf ein gutes Dinner. Er fand den kalten Wind erfrischend und seinen harten, schmalen Sitz lustig und primitiv. Seine breiten Schultern hatten nicht annähernd genug Platz auf dem schmalen Raum, den eine nach Rekordzahlen von Zuschauern dürstende Verwaltung jedem Besucher in demokratischer Gleichmäßigkeit zugestand; aber diese unbequeme Enge trug dazu bei, daß jedermann warm blieb, zwang Jims Arm, den jungen Oliver behaglich zu umfassen und ermöglichte ihnen, selbst im Lärm der Rugby-Lieder und des organisierten Beifalls miteinander zu sprechen.
Jim Darnley gehörte zu jener seltenen Art von Engländern, die sich in den Vereinigten Staaten aufrichtig wohl zu fühlen vermag. Sobald er sein Ohr einmal wieder an die Sprache gewöhnt hatte, paßte er sich leichten Herzens der amerikanischen Lebensweise an. War man mit reichen Leuten befreundet und hatte Geld in der Tasche, so bot das Dasein zweifellos hier drüben viele Genüsse; und was die Genüsse betraf, die man in Amerika nicht haben konnte, so war Jim zu vernünftig und zu lebensbejahend, um ihnen nachzutrauern. Wenn er überhaupt nach irgend etwas Heimweh hatte, dann nach der englischen Landschaft oder der britischen Marine; und diese leise Sehnsucht wurde zur angenehmen, sentimentalen Schwelgerei, die seine Selbstachtung erhöhte und ihm zu einem interessanten Hintergrund verhalf, ohne die gegenwärtigen Freuden zu verderben. Er bewunderte Geld, Macht, Erfolg und Sport; das alles fand er hier in Hülle und Fülle; und da er sich nicht mit der neuen Welt zu identifizieren brauchte, war er vollkommen mit ihr zufrieden, solange sie ihn gut behandelte. Für ihn war sie wie ein Dampfer, auf dem er zufällig eine Passage gebucht hatte, und von dem er sich nicht die Disziplin und den Glanz eines Admiralsschiffes oder die ruhige Gemütlichkeit eines Heims erwartete. Es genügte, daß der Dampfer groß und schnell, das Wetter günstig und die Reisegesellschaft angenehm war. Ganz Amerika kam ihm vor wie dieses amerikanische Rugby-Spiel. Er fragte nicht, wodurch diese Veranstaltung gerechtfertigt sei. Sie war eben in Überlebensgröße da, ohne einen um Erlaubnis zu fragen. Es kümmerte ihn nicht, ob Yale oder Princeton gewann, und ob die Yankees vor die Hunde gingen oder Besitz von der ganzen Welt ergriffen. Er hatte keine Wette über das Ergebnis abgeschlossen; und wenn andere Leute darauf gewettet hatten oder ihnen riesig viel daran lag, so war das ihre Angelegenheit. Komische Sache wirklich, diese zusammengepreßten Menschenmassen auf den beiden Seiten des Platzes, die sich im einen Augenblick aufführten wie die Römer bei Cannae und im nächsten wie zwanzigtausend vor Freude verrückt gewordene Teufel!
»Warum sind die so aufgeregt?« flüsterte Jim Oliver vertraulich ins Ohr – nicht daß ihm das geringste an einer Erklärung lag; er fragte es einfach, um dem seltsamen Gefühl der Kühle und Überlegenheit Ausdruck zu geben, das sie beide von ihrer Umgebung absonderte und sie inmitten dieses Hexenkessels einander näherbrachte. Denn auch Oliver war zu seinem Glück von der sozialen Pflicht befreit, sich um das kümmern zu müssen, was hier jedermann so am Herzen lag. Weder seine Schule, noch sein zukünftiges College war an diesem Wettstreit beteiligt. Er konnte die hektische Kriegskunst der Spieler und die Raserei der Zuschauer fast mit derselben Gleichgültigkeit betrachten wie Jim. Und doch nicht ganz wie Jim, denn er wurde ein heimliches Schuldgefühl nicht los. Er fühlte sich als Eindringling auf diesem Platz, den ihm die Universität Yale zur Verfügung gestellt hatte. Es mochte ja ganz schlau sein, daß er die Leute hier an der Nase herumführte und sie im Glauben ließ, er ginge nach Yale, während er entschlossen war, nach Williams zu gehen. Sie waren auf ihren eigenen Leim gekrochen; aber sein Gewissen war nicht ganz rein dabei. Außerdem wußte er, daß er sich genau wie die anderen aufgeführt hätte, wenn seine eigene Schule oder sein College mitgespielt hätten, und er wäre dann Jim ebenso unbegreiflich verrückt vorgekommen wie diese ganze heulende Bande.
»Ulkig, nicht wahr?« fuhr Jim fort, als er keine Antwort erhielt. »Ich glaube, die Menschen schämen sich keiner Tat und keines Gefühls, sobald sie nur gemeinsam handeln und fühlen. Und dazu sind manchmal zwei schon genug.«
In ihrem Fall waren zwei gewiß genug, um einen geheimen Strom von Sympathie entstehen zu lassen, in dem ein Gefühl der Einigkeit gegen die Außenwelt mitschwang. Aber Jim erwies sich auf diesem umwogten Schaugerüst nicht nur als der dankbarste, vergnügteste und herzlichste aller Gäste, er hatte sich auch die Mühe gemacht – war das nicht fabelhaft von ihm? – für den Abend Theaterkarten zu besorgen; nicht für die große Revue, in die Olivers Schulfreunde wollten, sondern für Forbes Robertson in »Hamlet«. Noch netter war etwas anderes, wodurch Jim aufs liebenswürdigste Olivers Führung anerkannte und seine unausgesprochenen Wünsche erriet: er verlegte sein Zimmer im Manhattan-Hotel neben das des Freundes, damit sie nach den Aufregungen des Tages und den vielen neuen Eindrücken gemütlich miteinander plaudern und die nächtlichen Gespräche wiederaufnehmen könnten, die ihnen auf dem ›Schwarzen Schwan‹ zur Gewohnheit geworden waren, aber der rohen Macht häuslicher Tyrannei hatten weichen müssen.
Jim selbst war mit seinem Benehmen sehr zufrieden. Es war wirklich sehr passend, den jungen Oliver in »Hamlet« zu führen. Es würde bei dem Doktor und selbst bei der Familie in High Bluff den allerbesten Eindruck machen, wenn sie davon hörten. Auch würde dadurch für Oliver, der ja kaum jemals in einem Theater gewesen war und Shakespeare noch nie auf der Bühne gesehen hatte, dieser Festtag unvergeßlich mit dem Bilde Jims verbunden bleiben. Die Sache war also ihr Geld wert, obwohl die Karten ziemlich teuer waren.
Schon von sich aus hatte Jim übrigens manchmal das Bedürfnis, als Weltmann aufzutreten. Wenn er während der ersten Tage des Monats Geld in der Tasche hatte – leider war heute schon der Neunzehnte – nahm er gern einen Parkettplatz in einem vornehmen Theater oder besuchte ein Kirchenkonzert, was nicht einmal Eintritt kostete. Er wußte sich an beiden Orten zu benehmen; und mochte er sich auch etwas langweilen, so fand er sich doch durch das Gefühl belohnt, in Einklang mit den sittlichen Grundlagen Englands und der Welt zu stehen.
Aber diese höheren Angelegenheiten ließen sich leichter erledigen, wenn man zuvor die leiblichen Bedürfnisse befriedigt hatte. Vor der langen, hochgebildeten Hamletvorstellung und nach den drei Stunden in der scharfen Herbstluft war daher ein kleines Dinner in dem alten Café Martin sehr angebracht, wohin der Doktor ihn manchmal mitgenommen hatte, und wo man die Rechnung wohl aufschreiben würde. Das Lokal hatte noch immer die alten roten Plüschsofas, die Marmortische und großen Spiegel, die mit dem Glanz der Kristalleuchter zugleich den des zweiten Kaiserreiches zurückwarfen: ganz ähnlich, dachte Jim mit Vergnügen, wie das Café Royal in London. Eine gewisse altmodische Würde verband sich hier mit Zwanglosigkeit. Dies war jedermanns Klub wie die Lokale des Kontinents; seine Atmosphäre würde Olivers demokratisches Gewissen gleich im voraus mit der besonders guten Küche und den auserlesenen und gehaltvollen Gerichten aussöhnen, die man hier bekam. Vielleicht ließ er sich sogar überreden, den vorzüglichen Pommard zu versuchen, mit dem Jim sein eigenes Herz erwärmen wollte. Auch würde es nett und schmeichelhaft sein, von dem alten französischen Maître d'Hôtel wiedererkannt zu werden, der sich gewiß noch genau der Filets Mignons mit Sauce Béarnaise erinnerte, die der noble Seemann stets so sehr geschätzt hatte. Zudem würde die neue Erscheinung des großen, ernsten, aristokratisch wirkenden Jünglings in der Obhut des Kapitäns auf Monsieur sicher riesigen Eindruck machen. (Warum imponierte man eigentlich den Bedienten so gern?)
Wirklich drehten sich alle Kellner neugierig nach ihnen um, als sie frisch und blühend in ihren netten Abendanzügen zu dem für sie reservierten Tisch gingen; und nachdem Monsieur Jules erfahren hatte, wer Oliver war, kargte er nicht mit ergebenem Lächeln und kleinen Verbeugungen und bat, den jungen Herrn beglückwünschen zu dürfen, weil er der Sohn von monsieur le père de monsieur sei. Der widergespiegelte Glanz mehrerer Millionen fiel allen sichtbar auf Jim Darnley, den Tisch, die Kellner und das ganze beglückte Lokal. Jeder – bloß Oliver selbst nicht – fühlte, daß ihm soeben eine gewisse Erhöhung widerfuhr, daß die Welt plötzlich schöner geworden war. Muß noch berichtet werden, daß die Filets Mignons natürlich genau so waren wie sie sein sollten, die staubige Flasche Pommard, die sauber eingehüllt in ihrer Strohwiege lag, mit äußerster Vorsicht behandelt wurde und das Glas des Kapitäns niemals leer war? Obwohl man das Essen dem Doktor ankreiden lassen konnte, mußte man unter diesen Umständen Monsieur Jules, dem Sommelier und dem andern Kellner unbedingt ein großzügiges Trinkgeld geben. In dieser Welt, dachte Jim philosophisch, mußte man sogar dafür bezahlen, daß man bewundert wurde.
Kaum ein anderes Werk der Dichtung läßt sich so reich wie Hamlet von jugendlichen Gefühlen ausdeuten; es ergreift uns am meisten, solange wir so jung sind, daß die Welt uns noch durch ihre Schlechtigkeit überrascht und durch ihre Schönheit entzückt. Hamlet reizt zur Spekulation, und was wären die glühenden Gespräche der Jugend ohne diese Spekulation, ohne die staunende Wißbegier, die immer wieder um die rätselhaften letzten Fragen kreist! Die Philosophie ist ein romantisches Turnierfeld, wo die ritterliche Jugend in mutigem Galopp einreiten muß, um die finsteren Schatten des Unglücks und des Todes herauszufordern. Die Erhabenheit des umworbenen Preises läßt hier selbst zwischen grundverschiedenen Geistern eine Art Waffenbrüderschaft entstehen, und die einigende Macht des grünen Kampfplatzes ist stärker als die trennende Macht der verschiedenen Farben.
Oliver hatte Hamlet sorgfältig gelesen und war durch Fräulein Schlote über alles unterrichtet, was Goethe in ›Wilhelm Meister‹ über das Stück und den Helden sagt. Jim hatte Shakespeare überhaupt nicht gelesen, aber er war schon einmal in einer Hamletaufführung gewesen und wußte, was er davon zu halten hatte. Gleichsam entschuldigend vertraute er Oliver an, es handle sich um ein etwas verrücktes altes Stück, voller Schwulst und Ungereimtheit, aber mit einer Menge famoser Aussprüche drin, die jedermann zitiere. Der Held, ein äußerst gescheiter Bursche, war in solchen Bemerkungen besonders groß, aber in der Liebe und in der Politik bewies er sich als Stümper, sah Gespenster und stellte sich wahnsinnig, um die Tatsache zu verbergen, daß er ein Drückeberger war.
Oliver widerlegte diese ahnungslosen Ketzereien, mußte aber doch über sie lachen, machte sich von Herzen über ihren Urheber lustig und nannte ihn einen Rohling, der keinen Funken Poesie im Leibe habe. Hamlet, setzte er Jim auseinander, war unbeugsam und tapfer, sobald er sich im Recht fühlte; er besaß einen außerordentlichen, unbeirrbar klaren Verstand, der die landläufigen Anschauungen gewöhnlicher Menschen, ja, sogar die der Wissenschaft turmhoch überragte. Das gerade machte ihn aber ungeeignet für die Alltagswelt. Er konnte seine Rolle in der menschlichen Gesellschaft nicht freien Herzens auf sich nehmen, denn er erkannte deutlich die Einseitigkeit und Verderbtheit der herrschenden Grundsätze. Sein Geist durchbrach die niedrigen Konventionen wie ein junger Eichbaum einen irdenen Topf, in den man ihn gepflanzt hat. Einer der Gründe, weshalb Hamlet sich verrückt stellte, war der, daß er sich wünschte, allerlei Wahrheiten an die Öffentlichkeit zu bringen, von denen zu reden untunlich war, solange man ihn für vernünftig hielt. Als er Ophelia rät, ins Kloster zu gehen, bricht seine wahre Meinung durch.
Diese Szene, fand Oliver, hatte Forbes Robertson falsch aufgefaßt. Er hatte über seine Schulter hinweg bedeutsam nach der Richtung geblickt, wo der König und Polonius hinter dem Teppich versteckt waren, und wollte damit andeuten, daß er jetzt eine ganz groteske Stimmung zur Schau tragen werde, um die beiden hinters Licht zu führen. Aber warum sollte er dafür gerade diesen Moment wählen und gerade diese Äußerung tun, die Ophelia das Herz brechen mußte? War er etwa ohne Zartheit und Feingefühl? Nein – sicherlich waren ihm in Ophelias Gegenwart die zwei spionierenden alten Schufte ganz gleichgültig. Er dachte einzig an Ophelia, und er sprach diese Worte nicht deshalb zu ihr, weil er sie nicht liebte, sondern gerade weil er sie so sehr liebte und idealisierte. Er ertrug nicht einmal den Gedanken, sie könnte durch den schrecklichen Schmutz, der die Welt erfüllte, erniedrigt und zerstört werden. Wenn er überhaupt so lange lebte, wollte er sie auf Kosten seines eigenen Glückes vor all dem Schrecklichen retten, das einer Frau widerfahren kann, wenn sie heiratet und Kinder hat. Er wollte sie vor allem bewahren, was roh und gemein macht. Lieber wollte er jetzt in ihren Augen grausam erscheinen und sie im Glauben lassen, er sei ein herzloser Kerl oder ein Verrückter.
» Vielleicht verstehst du wirklich, was du da sagst«, meinte Jim darauf mit väterlichem Lächeln. »Das ist Mystik. Mein alter Herr läßt sich manchmal in seinen Predigten auf Mystik ein. Die Menschen, die in der Welt versagen – und Hamlet war doch um die Krone betrogen worden und hatte nicht die Schneid, sich zu rächen – finden immer, daß diese Welt nicht der richtige Ort zum Leben ist. Aber das mit Ophelia ist wirklich bloß Quatsch. Hamlet mußte in dem Stück Ophelia sitzen lassen, damit sie wahnsinnig werden und Blumen streuen und sich im Dorfteich ertränken konnte, sodaß ein schönes, volkstümliches Melodrama entstand. Natürlich hätte sich Hamlet in Wirklichkeit nicht so benommen, wenn man es richtig überlegt. Aber man soll's eben gar nicht richtig überlegen. Es soll Eindruck auf einen machen, weiter nichts. Dies ganze Gerede von der bösen Welt und dem reinen Leben im Kloster war eben damals gerade Mode. Jede Kanzel hallte davon wider; es war dasselbe, wie wenn heute irgend ein intellektueller Schlingel zu dem Mädchen, das er verführt hat, sagt: ›Tut mir leid, mein Kind, kann dich leider nicht heiraten. Ich bin für Eugenik, und der Arzt meint, ich hätte Anlage zur Schwindsucht.‹ So ein Theater macht man bloß, um einen guten Abgang zu finden, wenn man sich drücken will. Wenn du im Ernst so dächtest, könntest du ja selbst in Wetherbees zahmes Kloster gehen und nie heiraten.«
»Unsinn«, rief Oliver gekränkt. Ein Windstoß hatte seinen schwelenden Protestantismus neu angefacht, sodaß ein empörter Funke aufsprang. Er wußte, es war seine Pflicht, eines Tages zu heiraten, so wie es seine Pflicht war, das College zu besuchen, Rugby zu spielen und einen Beruf zu ergreifen. Glücklicherweise war die Pflicht, zu heiraten, nicht an ein bestimmtes Datum gebunden wie die andern Pflichten, und er brauchte auf Jahre hinaus noch nicht daran zu denken. Aber der Verdacht, er wäre imstande, sich davor zu drücken, wenn die Zeit käme, war eine Beleidigung.
»Natürlich«, fuhr er fort und errötete ein wenig, weil er plötzlich daran denken mußte, wie er sich zum erstenmal in Jims Gegenwart auf dem Deck des ›Schwarzen Schwans‹ ausgezogen hatte, und wie töricht er dabei gewesen war, »natürlich werde ich eines Tages heiraten. Die Welt muß doch in Gang bleiben, genau so wie ein Schiff auf hoher See. Wenn ein Seemann sich einmal für die ganze Reise verpflichtet hat, ist es feige von ihm, über Bord zu springen, bloß weil er nicht mehr mittun will, wie dein Ingenieur da. Warum hat der sich wohl eigentlich davongemacht? Natürlich kann ein Mann sterben, wie zum Beispiel der Maat – was sagst du, woran ist er gestorben? – er kann sich völlig lebensunfähig oder wie Hamlet moralisch gelähmt und zerschmettert fühlen und eingestehen müssen, daß er besiegt ist. Aber ich werde mich nicht besiegen lassen, ich sehe nicht meines Großvaters Geist, obgleich er tatsächlich ermordet worden ist; und wenn ich einmal verlobt bin, werde ich gewiß nicht hingehen und zu der guten Kleinen sagen: ›Geh in ein Kloster – denn alles ist so traurig, und ich habe Tuberkulose.‹«
Jim schien plötzlich von irgend etwas bedrückt zu sein. Es war so heiß im Theater gewesen. Sie wollten schnell noch etwas trinken gehen. Im Gegensatz zu ihm fühlte Oliver sich seltsam glücklich, als er nun sein Selterswasser trank. Denn im Morgendämmern der Erfahrung ist das Versprechen des Glückes schon Glück genug. Freilich schmeckt eine unbestimmte Glücksempfindung auf die Dauer etwas fade wie unvermischtes Selterswasser, und eine der ersten Regungen aller Leute, die sich grundlos glücklich fühlen, besteht darin, schwerwiegende und ausführliche Pläne für die Zukunft zu schmieden. Der Winter, dachte Oliver, ging bald vorüber, bis dahin war er mit der Schule fertig und zugleich in seiner Stellung als Rugby-Champion gesichert. Dann konnte er die lange Ferienzeit wieder mit seinem Vater und Jim verbringen. Mit seinem Vater würde er die englischen Kathedralen besuchen, von denen Letitia Lamb so viel hielt; und mit Jim würde er in die Revuetheater gehen und nach Ascot und zu den Kampfspielen von Eton und Harrow. Vor allem aber wollten sie Oxford durchforschen und ein Wochenende bei Jims Eltern im Pfarrhaus von Iffley verbringen.
»Das ist ein schönes Fleckchen Erde«, hatte Jim gesagt, »mit einer Schleuse und einer Mühle – die Mühle soll allerdings inzwischen niedergerissen sein – und den herrlichsten alten Bäumen; dann schlängelt sich dort der Fluß mit stillen Nebenarmen, wo wir schwimmen gehen können, wenn's nicht zu kalt ist, und ringsum haben wir weite, grüne Wiesen mit vielen Kühen drauf – falls du Kühe magst – und am Horizont einen Kranz niedriger Hügel, die das Bild abschließen. Man hat Gelegenheit zum Kanufahren und Rudern; wir können uns auch im Prahm nach Abingdon treiben lassen, und unterwegs zeige ich dir Radley – St. Peters College – wo ich ein Jahr auf der Schule war, bevor ich zur Marine ging. Du wirst sehen, wie einfach und freundlich das englische Landleben ist, wie traulich und gemütlich und still die englischen Häuser sind, jedes mit einem netten Garten, wo man Tennis spielen oder sitzen und Tee trinken kann; und ein helles Feuer brennt am Abend im Kamin, und ringsum ist es so friedlich. Nirgends gibt's solche Felder und Wiesen und Tiere wie in England, nirgends solche Pferde, Hunde und Schafe. Nur die Esel sind kleiner als anderswo – ich meine die vierbeinigen – aber dafür sind es die stämmigsten kleinen Biester, die man sich denken kann. Da wirst du überhaupt erst sehen, was ein Hammelkotelett eigentlich ist, oder eine kalte Hammelkeule, oder ein Roastbeef, oder grünes Erbsengemüse, oder Apfeltorte mit Schlagsahne; und was das englische Klima angeht, so mögen die Leute darüber sagen, was sie wollen. Wenn sie allerdings in Watte gewickelt aufgewachsen sind und keinen Tropfen Regen vertragen können, als ob sie aus Zucker wären, und schon vor Kälte zittern, wenn sie ein bißchen Nebel über dem Fluß oder zwischen den Hügeln hängen sehen, dann ist ihnen nicht zu helfen. Trotz allem bleibt unser Klima das mildeste, sanfteste, frischeste, stärkendste Klima der Welt«.
Armer Jim! dachte Oliver. Man mußte ihm diese sentimentalen Vorurteile verzeihen. Das waren Treuschwüre vor sich selbst, mit denen er seinem harten Schicksal glaubte Trotz bieten zu müssen. Natürlich war ein neues Land wie Amerika in Wirklichkeit jedem andern überlegen! Hatte man es nicht einst im vollen Lichte der Erfahrung und der Vernunft gegründet, nachdem das abgenutzte Gerümpel der vergangenen Jahrhunderte aus dem Wege geräumt war und der alte Adam sich allen überflüssigen Speck vom Leibe geschafft hatte, sodaß nur noch harte, gesunde Muskeln geblieben waren? Solch ein Land stand auf unvergleichlicher Höhe und konnte es sich leisten, allen andern Völkern zu helfen und sie nach Verdienst zu würdigen, statt sie zu hassen und zu bekämpfen, wie sie sich gegenseitig haßten und bekämpften. Ein guter Amerikaner brauchte es nicht zu scheuen, den harten Tatsachen daheim und den sonderbar verwickelten Tatsachen draußen ins Auge zu sehen. Ja, Oliver wollte reisen, doch nicht im Stile eines Dilettanten und Verbannten, wie sein Vater gereist war, sondern zu dem klaren Zweck, den Zustand der Welt genau kennen zu lernen, damit er sein eigenes Land umso besser verstehen und umso einsichtiger dafür wirken konnte.
»Im Grunde«, dachte er, als er gegen Morgen in sein frisches, kühles Bett kroch, »habe ich mein Training nicht unterbrochen. Die Regel sagt, daß man Samstags um Mitternacht zu Hause sein soll; sie sagt aber nichts davon, daß man nachher nicht mehr reden darf.« Er atmete noch ein halbes Dutzend Mal tief ein und aus. Wie gut, daß kein Zigarettenrauch in seinem Zimmer hing, und das Fenster so weit geöffnet war, wie sich ein amerikanisches Fenster irgend öffnen ließ! Wie gut, daß er die Angriffe des tyrannischen Heizkörpers zurückgeschlagen hatte, der die Temperatur auf garantiert 68 Grad Fahrenheit halten sollte, allem zum Trotz, was die Natur oder der Mensch dagegen unternahmen! Oliver haßte künstliche Gerüche und dumpfe Schwüle mehr als alles andere. Selbst nach der angenehmsten Gesellschaft waren Einsamkeit und Stille eine Erlösung. Er hatte immerhin noch ein paar Stunden Schlaf vor sich, bevor seine geräuschvollen Freunde ihn aufstöbern würden. Glücklicherweise war der trübe Tag, der draußen heraufdämmerte, ein Sonntag. Sie würden sehr spät und sehr kräftig frühstücken – gerade noch rechtzeitig, um sich mit sämtlichen Sonntagszeitungen bewaffnen und alles über das Wettspiel nachlesen zu können – bevor sie den einzigen langsamen, stickigen Bummelzug bestiegen, der den ganzen Tag brauchte, bis er sie rüttelnd und schüttelnd nach Hause befördert hatte.
Diese Bilder der morgigen Geschehnisse blieben Oliver noch im tiefsten Unterbewußtsein gegenwärtig, während sein Nest warm wurde und der Schlummer ihn überwältigte. Es bestand keine Gefahr, die Zeit zu verschlafen, selbst wenn seine lärmenden Kameraden und der verabredete telefonische Anruf ihn nicht weckten. Die Federn seiner moralischen Weckuhr waren gut aufgezogen, und die innerliche Glocke würde unbedingt anschlagen. Während so die dauernde Zugkraft der Tugend oder auch der drohenden Sünde im Hintergrunde wirkte, konnte man in Sicherheit die angenehmsten Bilder über die Oberfläche des Bewußtseins ziehen lassen. Wirklich, Lord Jim war heute den ganzen Tag großartig gewesen, stolz, frank und frei, herzlich und uneigennützig, und dabei war er im Grunde auch furchtbar gescheit! Bestimmt wollte Oliver im Sommer nach England gehen. Bestimmt wollte er mit Jim in dem giebligen alten Pfarrhaus unter den großen, üppigen, uralten Bäumen zusammen sein. Bestimmt würde er Jims philosophischen alten Vater liebgewinnen und seine gemütliche alte Mutter und seine reizende, kleine kraushaarige Schwester Rose.