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Am 7. Januar begann die Schule wieder, aber in jeder Klasse fehlten Schülerinnen, und auch die Lehrerinnen konnten nicht alle zu rechter Zeit mit dem Unterricht beginnen; denn es gab überall viele Kranke. Das ganze Land hatte unter einem nassen, ungesunden Winter zu leiden.
Als Gretchen und Hermine am ersten Schultag in der Freizeit die Treppe hinuntersprangen, um sich wie sie manchmal taten eine Brezel zu kaufen, sahen sie unter der Schultüre eine fremde Erscheinung, ein hübsches, fein gekleidetes Fräulein, das fast noch zu jung aussah für eine Lehrerin. »Bitte, wie lange dauert die Freizeit?« redete das Fräulein die beiden Mädchen an.
»Eine Viertelstunde.«
»Kann ich wohl in dieser Zeit bis zur Ringstraße kommen und wieder zurück? Ich bin hier noch fremd und weiß die Entfernung nicht so genau zu bemessen.« Gretchen und Hermine meinten, die Ringstraße sei zu weit entfernt. »Ich fürchte es auch,« sagte das Fräulein, »doch wäre ich gern rasch in meine Wohnung gegangen, um mir ein Stückchen Brot zu holen. Ich wußte gar nicht, daß das Unterrichten so Hunger macht, ich habe heute zum erstenmal in einer Klasse unterrichtet.«
»Man kann hier unten Brot und sonst noch allerlei kaufen,« sagte Gretchen, und Hermine fügte freundlich hinzu: »Wir wollen es Ihnen zeigen.« »Sie sind sehr gütig,« sagte das Fräulein, »und wenn man so fremd ist, tut einem jedes freundliche Wort wohl.« Die drei gingen nun miteinander die Treppe hinunter, das Fräulein voran. Sie war eine vornehme und dabei auch liebliche Erscheinung; ihre Bewegungen, sowie auch ihre reine Sprache zeigten, daß sie aus feinem Hause stammte. Von den beiden Freundinnen wurde sie nun in den unteren Stock geleitet, wo um diese Zeit mancherlei zur Stärkung und Erquickung stand und von einem jungen Mädchen verabreicht wurde.
»Hier kann man alles kaufen, was man braucht,« sagte Gretchen. Das Fräulein griff in ihre Tasche, aber sie zog die Hand leer heraus. »Ach,« sagte sie »das ist ärgerlich, ich habe meine Geldbörse daheim gelassen, so muß ich auf das Einkaufen wohl verzichten.« Hermine hatte Geld bei sich, wagte aber nicht es anzubieten. Hinter dem Rücken des Fräuleins zeigte sie es Gretchen. Diese war nicht so schüchtern. »Meine Freundin hat Geld bei sich und leiht es Ihnen gern,« sagte sie.
»Nein, bitte, ich möchte unsere Bekanntschaft nicht gleich zum Geldentlehnen ausbeuten, auch habe ich nur noch eine Stunde zu geben, so lange kann ich warten.« Hermine drängte nun unter schüchternem Erröten und freute sich, als das Fräulein endlich nachgab und etwas aus dem Beutelchen nahm, das ihr Hermine darbot. Sie machte ihren Einkauf und fragte dann: »Gehen wir noch ein wenig miteinander in den Gängen spazieren?« Die beiden Mädchen fühlten sich geehrt, daß die junge Lehrerin sich zu ihnen gesellte, und wandelten mit ihr durch die Gänge. Sie erfuhren nun, daß ihre neue Bekannte Fräulein Geldern hieß und als Aushilfslehrerin angestellt sei für die erkrankte Lehrerin der dritten Klasse, zu der auch Herminens Schwester, Mathilde, und die kleine Ruth gehörten. Als das Zeichen gegeben wurde für den Wiederbeginn der Klassen, schied Fräulein Geldern mit dem Gruß: »Auf Wiedersehen, meine lieben, jungen Freundinnen!«
»Sie ist ganz reizend, ja entzückend!« sagten Gretchen und Hermine und freuten sich schon auf das nächste Zusammentreffen. »Wie gut, daß du ihr etwas leihen konntest,« meinte Gretchen, »das wird sie dir morgen zurückgeben und bei dieser Gelegenheit sprechen wir sie wieder.« Fräulein Geldern kam auch wirklich am nächsten Tag während der Freizeit gleich auf ihre jungen Freundinnen zu; sie erwähnte zwar das Geld nicht, aber Hermine war weit entfernt, es übel zu nehmen, daß sie diese Kleinigkeit zu vergessen schien; im Gegenteil freuten sie und Gretchen sich um so mehr, daß Fräulein Geldern auch ohne äußeren Anlaß zu ihnen kam und mit ihnen verkehrte wie mit ihresgleichen.
Gretchen erzählte den Eltern von der neuen Bekannten. »Sie scheint noch sehr jung zu sein nach deiner Beschreibung,« sagte Frau Reinwald, »deshalb fühlt sie sich wohl zu euch mehr hingezogen, als zu den andern Lehrerinnen, die ihr natürlicher Umgang wären.«
Das Schulleben hatte für Gretchen und Hermine einen neuen Reiz gewonnen durch die tägliche Begegnung mit Fräulein Geldern. Sie waren glücklich, so oft sie mit ihr zusammentrafen und beneideten die Kleinen, die täglich in der Klasse mit ihrer schönen Freundin beisammen waren. Eines Morgens nahm Hermine Gretchen beiseite und sagte geheimnisvoll zu ihr: »Ich habe etwas erfahren über ›sie‹, was eigentlich niemand wissen darf; meine Schwester Mathilde hat es verraten. Denke dir, in der Arbeitsstunde hat sie den Kindern ganz rührend erzählt von einer Armen, die gar nichts zu essen habe, kein Stückchen Brot. Sie hat eine Tasche an den Kleiderrechen gehängt, in diese dürfen nun die Kleinen alle Tage ›opfern‹. Die meisten von ihnen legen die Hälfte von ihrem Brot, oder was sie sonst haben, hinein. Sie dürfen es aber niemand erzählen; denn sie sagt: die rechte Hand dürfe nicht wissen, was die linke tut. Sie nimmt alle Tage die volle Tasche mit sich und bringt den Inhalt den Armen. Ist sie nicht eine gute Seele?«
»Ja,« sagte Gretchen, »aber ich möchte doch wissen, ob es Fräulein von Zimmern recht wäre, wenn sie hörte, daß die Kinder das heimlich tun und zu Hause nichts davon sagen sollen.«
»Aber Gretchen, Gutes darf man doch heimlich tun, man soll ja doch gar nicht darüber reden!«
»Ja, das ist wahr. Ich kann's nur nicht leiden, das Heimliche; ich weiß selbst nicht, warum. Aber natürlich ist's recht, wenn sie es tut.«
An diesem Tag und am folgenden bekamen unsere Freundinnen die junge Lehrerin nicht zu sehen. Voll Verlangen gingen sie am dritten Tag in der Freistunde hinunter und suchten Herminens Schwester auf. »Wo ist Fräulein Geldern?« fragten sie. »Ich weiß nicht gewiß,« antwortete Mathilde, »ich denke aber, sie ist droben in der Kammer, wo die Handarbeiten aufgehoben werden, sie trägt sie in den letzten Tagen immer selbst hinauf.«
»Wir wollen sie droben suchen,« sagte Gretchen und ging mit Hermine hinauf bis an die Kammer. Die Türe war zu. »Sollen wir anklopfen?« fragte Hermine. Gretchen lachte. »An der Kammertür klopft man doch nicht! Man hört ja auch nichts, wenn die Kinder alle so auf den Treppen herumpoltern.« Sie öffnete die Türe.
Vorn, am Fenster, stand Fräulein Geldern und hatte vor sich auf dem Gesimse eine offene Tasche mit großen und kleinen Stücken Brot aller Art, und eines von diesen Stücken war eben auf dem Weg von der Hand in den Mund. Das Fräulein fuhr zusammen beim Anblick der Eintretenden, die sie nicht augenblicklich gehört hatte, das Brot fiel ihr aus der Hand und tiefe Röte ergoß sich über ihr ganzes Gesicht. Gretchen und Hermine waren starr vor Staunen und blieben in ratloser Verlegenheit stehen. Gretchen faßte sich zuerst, leise sagte sie zu Hermine: »Komm, wir gehen!« Aber das brachte Fräulein Geldern zu sich. Sie eilte auf die Mädchen zu: »Bitte,« rief sie, »gehen Sie nicht fort, ich bin verloren, wenn Sie mich verraten! Ich wollte Ihnen ja längst alles sagen, aber ich hatte den Mut nicht. Jetzt, wo Sie mein Elend doch entdeckt haben, muß ich Ihnen alles anvertrauen. Machen Sie die Türe zu, daß uns niemand hört, und versprechen Sie mir, daß Sie keiner Seele etwas sagen von meinem Unglück!« Die beiden Mädchen versprachen es. »Sie haben entdeckt, daß ich geschenktes Brot esse. Die Kinder brachten es mir für eine Arme. Ach, ich bin selbst die Arme! Diese geschenkten Brocken waren in den letzten Tagen fast meine einzige Nahrung, ich habe kein warmes Essen mehr gehabt; o, ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich verlange nach einem Teller Suppe, einem Stück Fleisch! Es ist ja viel, was mir die guten Kinder bringen, aber ich war so ganz anders von zu Hause gewöhnt!« Bitterlich schluchzte die Unglückliche. Die Mädchen waren sehr ergriffen.
»Haben Sie denn keine Eltern mehr?« fragte Gretchen. Ausweichend antwortete Fräulein Geldern: »Fragen Sie nicht nach meiner Familie, ich kann darüber nicht sprechen, ich kann Ihnen nur sagen: kein Mensch unterstützt mich, ich bin ganz allein auf meinen Verdienst angewiesen und habe keine andere Einnahme als das, was ich für die Stunden in dieser Schule erhalte. Am ersten Februar bekomme ich mein erstes Gehalt, bis dahin habe ich nichts, rein nichts!«
»Fräulein von Zimmern würde es Ihnen gewiß gern vorausbezahlen,« wandte Hermine schüchtern ein.
»Ich mag sie nicht darum bitten.«
»Ich will für Sie bitten,« rief Gretchen eifrig.
»Nein, nein, Fräulein von Zimmern würde Sie ausfragen und sie darf nichts, gar nichts von meiner Lage erfahren, sie würde mir sonst den Abschied geben. Vergessen Sie nicht, daß Sie mir versprochen haben, keinem Menschen ein Wort von all dem mitzuteilen.«
»Aber,« wandte Gretchen ein, »wir könnten Ihnen viel besser helfen, wenn wir es wenigstens meiner Mutter sagen dürften.«
»Sie können mir gewiß auch ohne Wissen Ihrer Eltern helfen, Sie tun ja nur ein gutes Werk. Ich traue auf Ihre Hilfe und auf Ihre Verschwiegenheit, meine lieben, jungen Freundinnen!«
Das Zeichen für den Wiederbeginn der Stunden war schon gegeben worden. Ganz erregt kamen Gretchen und Hermine in ihre Klasse, sie hatten Mühe, ihre Aufmerksamkeit dem Unterricht zuzuwenden. Beide hatten nach Schluß der Stunde das Bedürfnis, allein miteinander zu sprechen. Die Mitschülerinnen fingen an, ungehalten über sie zu werden. Ottilie spottete: »Ihr beide seid ganz ungenießbar, seit ihr so für Fräulein Geldern schwärmt. Ich möchte nur wissen, was ihr eigentlich mit ihr habt.« Aber nicht nur die Mädchen waren unzufrieden. Als Gretchen und Hermine die Treppe herunterkamen, wurden sie in das Zimmer der Vorsteherin gerufen. »Ich habe bemerkt,« sprach diese, »daß ihr euch von den andern absondert. Wo waret ihr in der Freizeit?«
»Wir waren in der großen Kammer,« sagte Gretchen.
»Ganz allein? Nein? Mit wem? Warum laßt ihr mich so lange fragen?«
Gretchen und Hermine mußten nun Fräulein Geldern nennen, und sie wurden von Fräulein von Zimmern recht ungnädig und mit der bestimmten Weisung entlassen, künftig ihre Freizeit mit den andern Schülerinnen zuzubringen und sich nicht abzusondern.
Auf dem Heimweg von der Schule konnten Gretchen und Hermine endlich ungestört besprechen, was sie beide ganz erfüllte. Sie wollten so gerne dem armen Fräulein aus ihrer Not helfen, aber wie sollten sie das tun ohne Wissen der Eltern? »Wenn sie doch nicht verlangte, daß wir es geheim halten,« rief Gretchen, »es ist doch keine Schande, arm zu sein. Warum erzählt sie es nicht Fräulein von Zimmern und warum dürfen wir nicht zu Hause für sie bitten!«
»Ich weiß es auch nicht, aber ich denke, es steckt ein großes Geheimnis dahinter; sie will ja auch uns nichts über ihre Familie sagen. Sie ist im Unglück und natürlich unverschuldet. Ach, wie hat sie mich gedauert, wie sie so die geschenkten Brocken aß. Gretchen, wir müssen helfen!«
»Heimlich?«
»Ja, heimlich, wenn's nicht anders geht.«
»Ich muß immer denken, das ist unrecht.«
»Aber Gretchen, ich begreife dich gar nicht, es ist doch nicht unrecht, wenn wir einer Armen Gutes tun, ohne daß es unsere Eltern wissen!«
»Doch, ich meine, es ist unrecht.«
»Warum denn aber?«
»Ich weiß nicht, warum, so etwas spürt man bloß.«
Hermine wurde nachdenklich. Eine Weile waren die Freundinnen still nebeneinander hergegangen, da rief Gretchen: »O, ich weiß etwas. Wir fragen in der nächsten Stunde unseren Pfarrer, ob man heimlich Gutes tun darf?« – »Schriftlich, meinst du? Ohne Unterschrift?«
»Ja, natürlich, dann kann er unmöglich etwas von dem Geheimnis erraten.« Hermine war damit einverstanden; gleich am nächsten Tag sollte die Freundin zu ihr kommen, und dann wollten sie den Wortlaut des Zettels beraten, der an Pfarrer Kern geschickt werden sollte. »Aber bis zu dem Tag, wo wir die Stunde haben und Antwort auf unsere Frage bekommen, bis dahin können wir Fräulein Geldern nicht hungern lassen.«
»Nein, so lang will auch ich ihr heimlich helfen,« versprach Gretchen, »aber wie?«
Das Ende der Beratung, die nun folgte, war: daß die beiden Freundinnen am Nachmittag aus ihrer Sparkasse gemeinsam einen Einkauf machten und heimlich durch einen Dienstmann Fräulein Geldern Wurstwaren zuschickten. Und Herr Pfarrer Kern erhielt durch die Stadtpost einen Brief mit verstellter Schrift folgenden Inhalts: »Zwei Ihrer Schülerinnen bitten Sie um Antwort auf die Frage: »Ist es wohl immer unrecht, wenn man etwas heimlich tut, und soll man jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn er sich nur heimlich helfen lassen will?«
Gretchen war es ganz leicht ums Herz, als dieser Brief abgegangen war. Fröhlich spielte sie an diesem Abend mit den Kleinen, die nie vergnügter waren, als wenn Gretchen sich ihnen widmete. Viel Muße fand sich nicht dazu; denn jeden Tag hatte sie ein paar Stunden mit ihren Aufgaben zu tun, und die Eltern sorgten, daß die Schularbeiten nicht unter den kleinen Gästen zu leiden hatten; Herr Reinwald räumte ihr ein Plätzchen in seinem Zimmer ein, wo sie ungestört vom Kindergeplauder lernen konnte. Kam sie dann, nach getaner Arbeit, wieder ins Familienzimmer, so wurde sie jubelnd von den Kleinen empfangen.
Ruths Stunden hatten auch wieder begonnen. Gretchen hatte einmal die Beobachtung gemacht, daß ihre kleine Schülerin einige Bildchen, sorgfältig in Seidenpapier eingeschlagen, bei sich hatte. Auch Gretchen hatte früher Freude an solchen Bildern gehabt und besaß noch viele. Sie suchte einige der schönsten heraus, um sie Ruth mitzubringen. »Ich bin begierig,« sagte sie zu ihrer Mutter, »ob sich Ruth darüber freut. Ich an ihrer Stelle hätte gerade hinausgejubelt, wenn mir jemand so viele schöne Bilder auf einmal gebracht hätte!« »Auf Jubel darfst du wohl bei dieser Kleinen nicht rechnen,« sagte Frau Reinwald, »aber freuen wird sie sich trotzdem.«
Als Gretchen an diesem Tag von ihrer Stunde heimkam, fragte die Mutter: »Nun, haben die Bilder Eindruck gemacht?« Aber Gretchen schüttelte den Kopf. » Ein Wörtchen hat sie gesagt: danke. Ich glaube wenigstens, es sollte danke heißen; denn so laut hat sie doch nicht gesprochen, daß man sie deutlich hätte verstehen können!«
»Ist dir's leid um deine hübschen Bilder?«
»O nein, das nicht; denn ich glaube, daß sie sich darüber gefreut hat; sie wurde auch ganz rot und sah gar nicht aus, als wäre es ihr gleichgültig; aber viel, viel netter wäre es, wenn sie nicht so stumm wäre!«
»Versuche es doch einmal auf andere Art, verlange eine Gefälligkeit von ihr. Es gibt Menschen, die zeigen sich erst von ihrer guten Seite beim Geben, nicht beim Nehmen.«
»Was könnte ich aber von Ruth verlangen?«
»Erzähle ihr ein wenig von Rudi und Betty, sage ihr, daß es dir an schönen Geschichten- oder Bilderbüchern für die Kleinen fehlt, und frage sie, ob sie dir vielleicht eines leihen könnte.«
»Das will ich tun; aber weißt du, wie sie es dann macht? Sie sagt in dieser Stunde ›ja‹ und in der nächsten ›da‹, schiebt mir das Buch hin und geht.«
»Es kann ja sein, dann lasse sie eben schweigen und habe sie so lieb, wie sie ist; du kannst sie nicht ändern, das schüchtern Dingchen ist dabei am meisten zu bedauern.«
Gleich in der nächsten Stunde befolgte Gretchen den Rat ihrer Mutter und Ruth erfüllte Gretchens Voraussage, sie sagte: »ja«. Vielleicht hätte sie noch ein Wörtchen zugegeben, aber Fräulein von Zimmern, die ihnen fast in jeder Stunde einen kleinen Besuch abstattete, erschien eben, und in ihrer Gegenwart war Ruth womöglich noch einsilbiger als sonst.
Auf dem Heimweg von der Stunde, als Gretchen um die Ecke bog, stand unvermutet die schöne Gestalt von Fräulein Geldern vor ihr.
»Ich habe Sie hier abgepaßt, meine liebe Freundin,« sprach Fräulein Geldern; »denn wir können uns in der Schule nicht mehr sprechen, Fräulein von Zimmern sieht es nicht gern. Ich kann aber nicht auf den einzigen Trost verzichten, den ich in dieser schweren Zeit habe, ich muß mit meinen lieben Freundinnen verkehren! Ich danke Ihnen tausendmal für das, was Sie mir geschickt haben; aber eines möchte ich Sie bitten: wenn Sie mir je wieder eine solche Freundlichkeit zugedacht haben, schicken Sie es mir nicht in meine Wohnung, übergeben Sie es mir selbst.«
»Ist es denn nicht sicher, daß Sie es erhalten?«
»Ich weiß das nicht, aber es ist mir peinlich, wenn meine Hausfrau es bemerkt. Denken Sie, neulich – ich mußte meinen schönen Muff und Pelz verkaufen, um die Miete vorauszahlen zu können – neulich sagte die Frau zu mir, sie habe keine Freude an einem Fräulein, das mit dem kostbarsten Pelzwerk ausgehe und ohne dasselbe heimkomme. So beobachtet sie mich und macht mir noch unangenehme Bemerkungen, ach, es war mir doch ein bitterer Entschluß gewesen, mitten im Winter mein Pelzwerk wegzugeben!«
Gretchen, die einen warmen Muff an der Hand trug, sah voll Mitleid auf Fräulein Geldern, die feine, aber leichte Handschuhe trug. »Friert es Sie?« fragte sie.
»Mich hungert und friert den ganzen Tag, ich weiß das schon gar nicht mehr anders.«
»Wenn ich das meiner Mutter erzählen dürfte,« sagte Gretchen bittend. Aber Fräulein Geldern wollte davon nichts wissen. »Nur bei jungen Seelen finde ich Verständnis,« sagte sie, »deshalb, wenn Sie mich ein wenig lieb haben, so sprechen Sie mit keinem Menschen über mich, aber verlassen Sie mich nicht!«
»Aber wir können uns gar nicht mehr sprechen, weil Fräulein von Zimmern es nicht will!«
»Das läßt sich schon einrichten. An den Nachmittagen, wo Sie Ihrer kleinen Schülerin Stunde geben, da kommen Sie eine Viertelstunde vorher in die große Kammer. Fräulein von Zimmern gibt um diese Zeit Unterricht und kann es unmöglich bemerken.«
Mit schwerem Herzen ging Gretchen auf diesen Vorschlag ein. »Und noch eins, mein lieber Engel in der Not,« sagte Fräulein Geldern zögernd. »Wenn Sie oder Hermine es möglich machen können – o, ich schäme mich zu Tode, es zu sagen – bringen Sie mir etwas Geld, ich muß sonst zugrunde gehen!«
»Mein ganzes Taschengeld bringe ich Ihnen,« rief Gretchen, »und Hermine denkt ebenso wie ich, das weiß ich!« Die beiden schieden voneinander, Gretchen halb beglückt, halb bedrückt. Sie hatte es sich immer als das Schönste gedacht, jemand aus großer Not zu helfen, und gerne hätte sie nun alles, was sie besaß, daran gegeben; aber daß sie es den Eltern nicht sagen durfte, und daß sie trotz Fräulein von Zimmerns Verbot wieder heimlich in der Schule mit Fräulein Geldern zusammenkommen sollte, das verdarb ihr die ganze Freude. Sie zählte die Tage bis zu der Stunde, in der ihre Bedenken und Fragen von dem Pfarrer beantwortet wurden.
In den nächsten Tagen fehlte Hermine in der Schule, auch sie war krank und man durfte sie nicht besuchen; so mußte Gretchen ganz im stillen tragen, was sie so sehr beschäftigte.
Am Nachmittag ging sie, wie sie versprochen hatte, eine Viertelstunde früher zu Ruths Stunde ins Schulhaus. Als sie an die Klasse kam, in der um diese Zeit Fräulein von Zimmern unterrichtete, schlich sie mit bösem Gewissen an der Türe vorbei; denn was hätte sie sagen sollen, wenn sie zufällig gesehen worden wäre? Oben angelangt, wurde sie für diese peinliche Stimmung entschädigt. Fräulein Geldern erwartete sie in dem um diese Zeit ganz verlassenen Stockwerk. »Meine Getreue,« rief sie ihr entgegen, »kommen Sie wirklich zu mir; o, wie mir das wohl tut!«
»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, aber Hermine ist leider krank und ich darf nicht zu ihr, sonst wäre es wohl mehr.« Gretchen wollte ihr Täschchen öffnen.
»Kommen Sie hier herein, daß man uns nicht sieht,« sagte Fräulein Geldern und ging voran in die Kammer. Dort übergab ihr Gretchen den ganzen Inhalt ihres Sparkäßchens und ein Stück Kaffeekuchen, das sie sich am Munde abgespart hatte.
Fräulein Geldern war nicht wie Ruth, sie kargte nicht mit ihrem Dank, sie war überschwenglich in ihren Ausdrücken, und Gretchen durfte die Wonne empfinden, von einem armen Menschen als rettender Engel gepriesen zu werden. Aber sie wurde aus dieser süßen Empfindung aufgeschreckt, sie glaubte Schritte vor der Kammer zu hören und sah ängstlich nach der Türe.
»Es wird Zeit sein für meine Stunde,« sagte sie; »wenn mich nur Fräulein von Zimmern nicht aus dieser Kammer herauskommen sieht!«
»Warten Sie noch ein wenig,« riet Fräulein Geldern, »ich höre jemand die Treppe heraufkommen!« Gespannt lauschten die beiden. O, wie fremd war Gretchen diese Angst, die von einem bösen Gewissen kommt! Fräulein Geldern sah sie mitleidig an. »Törichtes Kind,« flüsterte sie, »Sie tun ja nur Gutes, haben Sie doch auch den Mut dazu!« Aber Gretchen, die sonst so Tapfere, hatte hier keinen Mut. Mit Herzklopfen horchte sie. Draußen wurde eine Türe aufgemacht – dann wieder geschlossen und jetzt war es still. »Nun gehen Sie rasch,« sagte Fräulein Geldern, »ich bleibe noch einen Augenblick, damit man uns nicht beisammen sieht.« Leise öffnete sie die Kammertüre, Gretchen schlüpfte hinaus und eilte die Treppe hinunter bis vor die Türe des Klassenzimmers, in dem sie Ruth die Stunden gab. Die Klasse war noch besetzt und Gretchen mußte vor der Türe warten. Ein paar Minuten später huschte Fräulein Geldern an ihr vorbei und flüsterte ihr im Vorübergehen zu: »Auf Wiedersehen, mein Engel!«
Bald darauf entleerte sich das Schulzimmer, die Kinder sprangen an Gretchen vorbei die Treppe hinunter, nur Ruth blieb zurück. Bisher hatte sie sich immer stillschweigend an den Platz gesetzt, der ihr in der ersten Stunde angewiesen worden war. Heute aber ging sie an den Kleiderrechen, nahm von dort eine Tasche, brachte sie herbei, packte sie aus und – o Wunder – sie nahm einen Anlauf und sprach einen ganzen Satz: »Da habe ich zwei Geschichtenbücher mitgebracht und ein Bilderbuch.« Gretchen freute sich und schilderte der Kleinen, wie vergnügt Rudi und Betty darüber sein würden; da wurde die kleine Ruth förmlich übermütig; denn sie sprach noch einen zweiten Satz. »Wir haben noch mehr Bücher, ich kann noch viele bringen.« Und am Schluß dieser Stunde geschah etwas Unglaubliches; Ruth fragte: »Soll ich Ihnen die Bücher bis an Ihr Haus tragen?« Über diese Artigkeit war Gretchen fast bestürzt, und sie hatte schon auf der Zunge zu antworten: »Nein, ich danke, ich kann sie schon selbst tragen,« als ihr gerade noch einfiel, daß die Mutter zu ihr gesagt hatte: »Verlange einmal eine Gefälligkeit von ihr,« und so antwortete sie: »Ja, bitte, trage sie mir, wenn du nicht meinst, daß du zu spät nach Hause kommst.«
»O nein, Papa selbst hat gesagt, ich soll Ihnen die Bücher tragen.« Diese freundliche Gesinnung freute Gretchen sehr. Während sie mit Ruth unterwegs war, besann sie sich, wie sie wohl die scheue Kleine bestimmen könnte, mit ihr hinaufzugehen; sie hätte sie so gerne ihrer Mutter gezeigt. Noch einmal wollte sie es mit der Bitte um eine Gefälligkeit versuchen. »Wenn ich nun heimkomme,« sagte sie zu Ruth, »dann wollen die Kleinen natürlich gleich das Bilderbuch ansehen, und ich habe jetzt keine Zeit, es ihnen zu zeigen. Sei du so gut und komme mit mir herauf und zeige es ihnen; du hast doch ein Viertelstündchen Zeit?« Es war wohl zu merken, daß Ruth diese Aufforderung gern abgelehnt hätte, sie mochte aber doch nicht »nein« sagen, und weil sie auch nicht »ja« sagte, so blieb die Frage zunächst unerledigt. Da ihr Gretchen aber weder an der Haustüre noch an der Treppentüre die Bücher abnahm, so gab sich's ganz von selbst, daß Ruth auf einmal mit Gretchen im Wohnzimmer bei Frau Reinwald stand.
»Mutter,« sagte Gretchen, »dies ist Ruth, sie bringt den Kindern Bücher und zeigt ihnen gleich die Bilder, weil ich nicht Zeit habe.« Frau Reinwald verstand die vielsagenden Blicke, mit denen Gretchen diese einfache Vorstellung begleitete, und sie sagte ebenso einfach: »Es ist recht von dir, Ruth, daß du zu uns kommst, wir wollen gleich die Kleinen holen.« Nach kurzer Zeit saß Ruth zwischen den zwei Kindern, die voll Begier waren, das neue Buch zu sehen, während Frau Reinwald und Gretchen sie anscheinend gar nicht beachteten.
Betty richtete gleich beim ersten Bild an Ruth die Frage: »Was ist das?« und als Ruth eine leise, kurze Antwort darauf gab, sagte Rudi: »Jetzt sag' einmal alles ganz laut und deutlich, daß es meine Kleine auch recht versteht: wo fährt der Wagen hin?« Fragen und Antworten folgten nun ohne Unterbrechung, und je mehr die Kinder ihre Bewunderung für die schönen Bilder aussprachen, um so wärmer wurden die Erklärungen, und von den dreien schien eins so glücklich wie das andere. Nach einiger Zeit sagte Frau Reinwald: »Ruth, ich fürchte, deine Eltern machen sich Sorge, wenn du so lange ausbleibst; willst du jetzt heimgehen und ein andermal wiederkommen?« Aber Rudi und Betty riefen wie aus einem Mund: »O, noch nicht, noch nicht, sie soll noch bei uns bleiben!«
Da sah Ruth mit glücklichem Gesicht zu Gretchen hinüber und sagte: »Wenn das Buch aus ist, dann will ich gehen.«
Von diesem Tage an kam Ruth oft nach der Stunde mit Gretchen heim. Bei den lustigen Kleinen vergaß sie ihre Schüchternheit mehr und mehr, sie mischte sich in ihr kindliches Geplauder, und es kam vor, daß sie von selbst an Gretchen das Wort richtete, so daß diese sich vergnügt sagte: »Aus meinem stummen Fischlein ist ein warmes Menschenkindlein geworden!« Wenn aber die kleine Ruth daheim fragte: »Darf ich zu Reinwalds?« und wenn ihre Mutter entgegnete: »Schon wieder?« dann entschied der Forstrat: »Je öfter, je besser!«
Inzwischen war der Tag herangekommen, an dem Pfarrer Kern den »Großen« Stunde zu geben pflegte. Gretchens erster Gedanke morgens beim Erwachen war: Heute wird unsere Frage wegen der Heimlichkeiten beantwortet; arme Hermine, wie schade, daß du noch krank bist und die Antwort nicht hören kannst!
Mit allerlei Mundvorrat, den sie für Fräulein Geldern bestimmt hatte, machte sich Gretchen auf den Weg zur Schule. Erworben hatte sie alles auf ehrliche Weise, doch mußte sie es heimlich forttragen, und wie sie es Fräulein Geldern unbemerkt zustellen sollte, das wußte sie noch gar nicht. Sie war etwas früher als nötig von zu Hause fortgegangen und hielt sich eine gute Weile in dem Vorplatz des Schulhauses auf, in der Hoffnung, daß Fräulein Geldern kommen würde und sie ihr unbemerkt auf der Treppe das Päckchen zustecken könnte. Als aber eines der Mädchen nach dem andern kam und jede fragte: »Auf wen wartest du?« wurde ihr dieser Posten unangenehm und sie ging vors Haus, der Straße zu, aus der Fräulein Geldern kommen mußte. Die Zeit verstrich, schon kamen nur noch einzelne, verspätete Schülerinnen eiligen Laufes auf die Schule zu. Endlich tauchte in der Ferne Fräulein Geldern auf. Gretchen eilte ihr entgegen und übergab ihr das Paket. Mit dankenden Worten nahm es Fräulein Geldern und ging dann rasch voran der Schule zu, während Gretchen absichtlich noch ein wenig zögerte und dann langsam folgte, um nicht zugleich mit Fräulein Geldern in der Schule anzukommen.
Inzwischen war schon das Zeichen zum Beginn der Klasse gegeben worden. Es war aber Sitte in der Schule, daß mit dem Glockenzeichen die große Haustüre geschlossen wurde, so daß jede Verspätete klingeln mußte und durch ein Dienstmädchen eingelassen wurde. Meist öffnete sich dann die Türe vom Zimmer der Vorsteherin, wenn die Verspätete vorüberkam; und wenn Fräulein von Zimmern auch nur einen strengen Blick für dieselbe hatte, so war diese Einrichtung doch allen so peinlich, daß höchst selten die Hausglocke ertönte.
Gretchen war deshalb auch sehr bestürzt, als sie das Haus geschlossen fand. Aber was wollte sie tun? Sie mußte sich wohl entschließen, zu klingeln. Sie tat es möglichst sachte, aber diese Hausglocke hatte immer etwas Feindseliges und nahm Partei gegen die Verspäteten; wenn sie noch so leise berührt wurde, dröhnte sie laut durchs ganze Haus.
Gretchen huschte so rasch wie möglich durch den Vorplatz, um unbemerkt an dem Zimmer der Vorsteherin vorbeizukommen, aber die gefürchtete Türe öffnete sich trotzdem und Fräulein von Zimmern rief erstaunt: »Du bist es, Gretchen? Ich sah dich doch schon vor einer Viertelstunde an der Haustüre. Hattest du etwas vergessen? Nein? Komm mit mir herein und gib mir Antwort.« Aber Gretchen, die der Vorsteherin in das Zimmer gefolgt war, schwieg. Dies mußte Fräulein von Zimmern auffallen, es war nicht Gretchens Art.
»Wo hast du dich aufgehalten?« fragte sie nun in strengem Ton. »Ich habe nicht gedacht, daß es schon so spät ist,« entgegnete Gretchen.
»Ist das eine Antwort auf meine Frage? Wo warst du, Gretchen?« – »Nur auf der Straße.«
»Was wolltest du da?« – »Nur ein wenig warten.«
Da sprach Fräulein von Zimmern nicht mehr in strengem, aber in traurigem Ton zu Gretchen: »Du gebrauchst Ausflüchte? Du, Gretchen?« Eine große Stille folgte, in Gretchens Augen sammelten sich Tränen.
»Geh hinaus, du tust mir weh,« sprach Fräulein von Zimmern und wandte sich ab. Aber Gretchen in überwallendem Gefühl des Schmerzes umschlang Fräulein von Zimmern und rief in leidenschaftlicher Erregung: »O, verzeihen Sie mir, ich kann ja nicht anders, ich darf ja nichts sagen!« und dann stürmte sie hinaus.
In den vielen Jahren ihres Wirkens war es der ernsten, gemessenen Vorsteherin noch nie vorgekommen, daß eine der Schülerinnen sie umarmt hätte. Sie fühlte die warme Liebe des Kindes, das in diesem Augenblick der höchsten Erregung sich hatte hinreißen lassen, und sie erwiderte diese Liebe. Sie sann und sann und kam zu einem Entschluß.
Als sie um zehn Uhr in die Oberklasse kam, um Literaturstunde zu geben, und Gretchen in Erinnerung an das Geschehene tief errötend zu ihr aufsah, war Fräulein von Zimmern nichts anzumerken.
Um elf Uhr erschien Pfarrer Kern. Da Fräulein von Zimmern sich nicht gleich entfernte, zitterte Gretchen schon bei dem Gedanken, daß sie vielleicht zuhören und dann die Fragestellerin erraten würde. Aber nein, sie verließ das Zimmer; der Pfarrer nahm ihren Platz ein, und ohne irgend welche Einleitung las er von dem, Gretchen wohlbekannten Papier die Frage ab: »Ist es wohl immer unrecht, wenn man etwas heimlich tut, und soll man jemand lieber in Armut und Not lassen, als ihm helfen, wenn er sich bloß heimlich helfen lassen will?« Es wurde ganz still am grünen Tisch. Gretchen war keine Meisterin in der Verstellung; wer auf sie gesehen hätte, würde ihre Erregung und Spannung bemerkt haben; aber die Blicke der meisten waren auf den Pfarrer gerichtet, und dieser sah auf das Blättchen. »Es ist mir lieb,« sagte er nun, »daß ihr die Rede auf Heimlichkeiten gebracht habt. Wir sind nicht ausführlich darauf zu sprechen gekommen in unserem Unterricht, und warum nicht? Weil Heimlichkeiten nicht verboten sind in den zehn Geboten, nicht verboten sind durch unseren Herrn Jesus. Daraus seht ihr schon, daß sie nicht so, wie etwa das Stehlen, schlechthin und unter allen Umständen Sünde sind. Gibt es doch auch ganz harmlose Heimlichkeiten, wie z. B. Weihnachtsgeheimnisse, die kein vernünftiger Mensch als Unrecht ansehen wird.
»Aber es ist etwas ganz Merkwürdiges mit den Heimlichkeiten. Wenn wir ihnen recht auf den Grund gehen, dann entdecken wir meistens, daß sie aus einem schlechten Beweggrund hervorgehen. Denkt euch z. B. eins von euch schreibt oder liest, kauft oder besorgt, ißt oder trinkt etwas heimlich, die Eltern sollen es nicht sehen. Warum denn nicht: vielleicht weil sie es verbieten würden – dann soll die Heimlichkeit den Ungehorsam decken, oder weil der Einkauf nicht nötig wäre – dann steckt Verschwendung dahinter oder Naschhaftigkeit; sehr oft auch soll durch die Heimlichkeit ein guter Schein erweckt werden: die Besorgung, die ihr gestern vergessen habt, macht ihr heute heimlich, damit ihr nicht als nachlässig getadelt werdet, wo ihr es doch verdient hättet; kurzum, wenn ihr aufrichtig prüft, was euch zur Heimlichkeit verlocken möchte, dann werdet ihr finden – es ist fast ohne Ausnahme ein Unrecht, eine kleine Abweichung vom geraden Weg. Daher kommt es auch, daß edle Menschen das Heimliche verachten. Heimlichkeiten sind ein Deckmantel, den edle Menschen nicht benützen mögen, weil schon so viel Schlechtes damit bedeckt war. Wo irgend im Leben mir ein Mensch begegnet ist, der heimlich war in seinem Tun, habe ich immer Mißtrauen gegen ihn empfunden, und so werdet auch ihr, wenn ihr euch Heimlichkeiten gestattet, das Vertrauen verlieren, ja leicht in schlimmen Verdacht kommen und euch sagen müssen: Um mir eine kleine Widerwärtigkeit zu ersparen, habe ich viel größere auf mich geladen.
»Auf meinem Zettel steht nun aber die Frage, ob man auch nichts Heimliches tun soll, um andern aus Armut und Not zu helfen.
»Dagegen möchte ich euch, meine Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen fragen: wie wollt ihr den andern aus Armut und Not helfen? Wißt ihr, daß das zu den größten, schwierigsten Aufgaben gehört, über die in Büchern und Zeitungen, Vorträgen und Versammlungen von den bedeutendsten Männern beraten wird? Und diese Aufgabe wollt ihr auch nur an einem Menschen lösen? Meint ihr, wenn ein Mensch euch um eine Mark bittet, und ihr gebt sie ihm, nun sei ihm geholfen? Warum braucht er eure Mark? Ist er schuld daran, daß er nicht hat, was er bedarf, oder sind es die Verhältnisse? Wird er die Mark zu Gutem oder Schlechtem verwenden? Um diese Fragen zu beantworten, braucht man eine Erfahrung und Menschenkenntnis, die man in so jungen Jahren nimmermehr besitzt. Wenn sich nun ein Mensch in seiner Not an ein junges, unerfahrenes Mädchen wendet und Heimlichkeit verlangt, dann ist seine Sache keine reine, gute, und ihr müßt euch frei davon machen, lieber heute als morgen; wie, kann ich nicht sagen, wenn ich den Fall nicht kenne; aber ich möchte euch recht dringend ans Herz legen: Macht euch frei von Heimlichkeiten, um jeden Preis!«
*
Seit vielen Jahren war Pfarrer Kern Fräulein von Zimmerns treuer Berater in allen Schulangelegenheiten. Auch heute folgte er gerne der Bitte der Vorsteherin, zu kurzer Besprechung in ihr Zimmer zu kommen.
»Haben Sie wohl Fräulein Geldern kennengelernt?« fragte Fräulein von Zimmern.
»Nein, ich habe sie nur in ihrer Klasse begrüßt und habe sie aufgefordert, meine Frau und mich zu besuchen, aber bis jetzt ist sie noch nicht gekommen.«
»Sie wird auch nicht kommen, sie vermeidet den Verkehr, der für sie passen würde, und schließt sich an unsere Großen an, hauptsächlich an Gretchen und Hermine.«
»So sucht sie sich wenigstens die besten unter den Großen aus.«
»Aber ich glaube, daß ihr Einfluß kein guter ist. Hermine ist ja gegenwärtig krank, von ihr kann ich nichts sagen, aber Gretchen ist anders, als sie war; es ist etwas Unaufrichtiges, Verstecktes in dem sonst so offenherzigen Kind, sie muß irgendwie in Heimlichkeiten mit Fräulein Geldern verstrickt sein.« Der Pfarrer wurde aufmerksam. »In Heimlichkeiten, meinen Sie? Das könnte wohl sein. Wissen Sie wohl etwas über Fräulein Gelderns Verhältnisse? Ist sie unbemittelt?«
»Darüber kann ich nichts sagen. Sie spricht sich nicht aus und ich konnte mich nicht mit der nötigen Sorgfalt nach ihr erkundigen, da ich froh sein mußte, rasch jemand zur Aushilfe zu bekommen, auch hoffte ich, es würde nur für kurze Zeit sein. Aber ich habe heute den Entschluß gefaßt, sie zu entlassen.«
»Sie können sie doch kaum entbehren?«
»Kaum, aber es muß doch gehen. Ich will lieber selbst eine Anzahl Stunden übernehmen, als einen schlechten Einfluß auf meine Schülerinnen dulden.«
Der Pfarrer ging sinnend auf und ab. »Warten Sie noch acht Tage, vielleicht klärt sich die Sache von selbst,« sagte er.
»Vielleicht, aber sicherer ist's, ich mache ein Ende. Wieviel Schlimmes kann in einer Woche angerichtet werden!«
»Ist Gretchen in der Arbeit lässig?«
»Das nicht, sie hat sehr gute Arbeiten geliefert in der letzten Zeit.«
»Das ist doch immer ein gutes Zeichen. Ich würde warten, wenigstens noch drei Tage und zusehen, ob Gretchens gerader Sinn sie nicht selbst wieder auf den rechten Weg führt. Man muß doch den Menschen Zeit lassen, sich selbst zurechtzufinden, ehe man einschreitet.«
»So will ich noch drei Tage zusehen.«
»Gut; ich komme ja Donnerstag in die fünfte Klasse, dann wollen wir wieder darüber sprechen.«
Während der Pfarrer mit Fräulein von Zimmern dies Zwiegespräch führte, ging Gretchen in Gedanken versunken ihren Weg von der Schule heim. Es klangen ihr noch die letzten Worte des Pfarrers in den Ohren: Macht euch frei von Heimlichkeiten, um jeden Preis! Sie wußte jetzt, was recht war, und wollte es tun, aber wie?
Sie erschrak ordentlich, als ihr unvermutet aus einem Torweg diejenige entgegentrat, mit der sich alle ihre Gedanken beschäftigten. »Ich habe hier auf Sie gewartet, liebes Gretchen,« sagte Fräulein Geldern; »wie froh bin ich, daß ich Sie allein treffe! Ich möchte Ihnen noch danken für das, was Sie mir vor der Schule gebracht haben, Sie treue Seele. Was finge ich an, wenn ich Sie nicht hätte? Und nun habe ich schon wieder eine Bitte, aber ich weiß ja, Sie tun gern Gutes an mir, nicht wahr?«
Gretchen fühlte, daß der Augenblick gekommen war, wo sie sprechen mußte. »Ja,« sagte sie, »ich tue gern alles, aber nicht mehr heimlich. Ich habe mir schon immer gedacht, daß es nicht recht ist, und jetzt weiß ich's ganz gewiß. Bitte, Fräulein Geldern, erlauben Sie mir jetzt, daß ich der Mutter alles sage. Denn, sehen Sie, die Heimlichkeiten sind wie ein schmutziger Deckmantel, mit dem edle Menschen sich nicht bedecken mögen, und helfen kann ich Ihnen doch nicht recht, so wie es sein sollte; dazu gehört so viel Verständnis und Menschenkenntnis, wie nur ältere Leute haben können.«
Mit Erstaunen hatte Fräulein Geldern diesem kleinen Vortrag zugehört; jetzt sagte sie mit großer Bestimmtheit: »Was Sie da sagen, kommt nicht von Ihnen; wer hat Ihnen das alles eingegeben? Sie wollen mich nicht verraten, Gretchen, Sie haben mich schon verraten!«
»Nein, gewiß nicht, ich habe Sie nicht verraten, aber ich muß mich frei machen von diesen Heimlichkeiten, um jeden Preis!«
»Auch um den Preis meiner Freundschaft, Gretchen? Ist das Ihre ganze Treue? O, wäre nur Hermine bei uns, sie würde mich nicht so schnöd verlassen, sie hat ein weiches Herz. Aber Sie haben kein wahres Mitgefühl, ich bin Ihnen unbequem, darum gebrauchen Sie schöne Worte, um mich abzuschütteln. Gehen Sie, ich habe mich in Ihnen getäuscht; gehen Sie und verraten Sie mich bei Fräulein von Zimmern, bringen sie mich ins Unglück und sich zu Ehren, ich kann Sie nicht hindern.«
Nach diesen Worten ging Fräulein Geldern rasch von Gretchen weg auf die andere Seite der Straße und verschwand in einer Seitenstraße.
Nun war Gretchen frei, aber diese Freiheit, nach der sie sich so gesehnt hatte, war bitter!
Wie im Traum wanderte sie ihren Weg weiter; sie wußte gar nicht, wie sie heimgekommen war, und konnte nicht begreifen, daß die Kleinen sie zu Hause so vergnügt wie immer empfingen. Sie ging in ihr Schlafzimmer, die Kinder folgten ihr, aber Gretchen beachtete sie nicht und ging nicht wie sonst freundlich auf ihr Geplauder ein. Sie war noch nicht im reinen mit sich selbst; sie wußte nicht, was sie nun tun sollte. Der Mutter alles erzählen und vor Fräulein Geldern als treulose Verräterin dastehen? Oder ein Briefchen schreiben mit dem kurzen Inhalt: »Teure Freundin, ich verrate Sie nicht!« Wie würde Fräulein Geldern sie am nächsten Tag ans Herz drücken!
»Gretchen, jetzt habe ich dir zweimal gesagt, daß es heute Dampfnudeln gibt, und du freust dich immer noch nicht!« sagte Rudi. »Bist du denn traurig?« frug die kleine Betty und drängte sich teilnehmend an Gretchen. »O, laßt mich nur ein klein wenig allein,« bat Gretchen, »später will ich dann mit euch spielen.« Da ging das Pärchen hinaus und beriet, was das zu bedeuten habe, wenn man sich nicht über Dampfnudeln freuen könne.
Endlich beschlossen sie, zu Gretchens Mutter zu gehen. »Tante,« sagte Betty, »hast du noch ein Täfele Schokolade, wie du mir zum Trost gegeben hast, als ich gefallen bin?« »Ja,« sagte die Tante, »ist denn wieder jemand gefallen?« »Nein, aber dein Gretchen ist so traurig im Schlafzimmer.« »Ja, so traurig,« bestätigte Rudi, »daß sie sich nicht auf die Dampfnudeln freuen will.« »Und da gibst du ihr ein Täfele Schokolade, gelt, Tantele,« bat Betty. »Ja,« sagte Frau Reinwald und holte das Trostmittel, »bringt ihr das und sagt ihr, die Tante habe vielleicht noch einen besseren Trost, ob sie sich den nicht holen wolle?« Die Kleinen gingen eilfertig hinaus, überbrachten ihren Trost und verhießen noch besseren. Da war Gretchen entschlossen.
»Ja, ich will mir den besseren Trost holen,« sagte sie, »und euch lasse ich die Schokolade. Dafür bleibt ihr ein Weilchen hier und laßt mich allein mit der Tante.«
Frau Reinwald erfuhr nun alles, was Gretchen in diesen Tagen erlebt hatte. Es war ihr schmerzlich, daß ihr Kind zum erstenmal etwas vor ihr verheimlicht hatte; aber sie sah, daß Gretchen selbst am meisten unter diesen Heimlichkeiten gelitten und sich ernstlich bemüht hatte, davon frei zu werden; auch verstand sie, wie bitter es ihr sein mußte, von Fräulein von Zimmern und nun auch von Fräulein Geldern schlecht beurteilt zu werden. »Ich mag mich vor beiden nicht mehr blicken lassen,« sagte Gretchen und weinte schmerzlich. Frau Reinwald tröstete sie freundlich: »Ich glaube nicht, daß dir an Fräulein Gelderns Achtung und Freundschaft viel liegen muß, und Fräulein von Zimmern werde ich selbst wohl alles erklären, ich will zuerst mit dem Vater darüber sprechen.« Aber diese Worte konnten Gretchen nicht trösten, im Gegenteil rief sie ganz entsetzt: »O Mutter, du wirst doch nicht dem Vater und Fräulein von Zimmern das alles mitteilen; wenn das Fräulein Geldern erfährt, so ist sie ganz unglücklich und mich verachtet sie dann noch mehr. Wenn du sie kenntest, hättest du auch Mitleid mit ihr.«
»Daß ich mit dem Vater rede, versteht sich von selbst, und daß wir alles zum Wohl von Fräulein Geldern tun wollen, darfst du mir glauben. Wie sollte ich nicht Mitleid empfinden für ein alleinstehendes junges Mädchen, das durch die Not auf falsche Wege geraten ist?«
In diesem Augenblick trat Herr Reinwald ins Zimmer. Gretchen eilte zur Türe hinaus; sie mochte sich vor dem Vater nicht in Tränen sehen lassen – er konnte das nicht leiden – auch wollte sie es nicht mit anhören, wie Fräulein Gelderns sorgfältig gehütetes Geheimnis weiter besprochen wurde. Sie ging zu den Kleinen; diese merkten zwar, daß der bessere Trost noch nicht gewirkt hatte, aber da Gretchen liebevoll auf ihr Spiel einging, waren sie auch mit einem traurigen Gretchen zufrieden.
Lange sprachen die Eltern miteinander, bei Tisch aber wurde nichts erwähnt und Gretchen wußte nicht, wie der Vater über die Sache dachte. Am Nachmittag schrieb die Mutter einen Brief, und Gretchen sagte sich schmerzlich: es wird an Fräulein von Zimmern sein. Da rief Frau Reinwald sie freundlich herbei. »Willst du dies Briefchen lesen? Ich will es durch Franziska an Fräulein Geldern schicken.«
Gretchen las: »Liebes Fräulein! Es wäre mir leid, wenn Sie glaubten, Gretchen habe Ihnen irgendwie geschadet. Ich hoffe das Gegenteil und möchte Sie gerne sprechen. Wollen Sie wohl heute abend unser Gast sein und einmal wieder an einem gemütlichen Teetisch Platz nehmen?«
»Mutter, was meinst du!« rief Gretchen; »es ist gar kein Gedanke, daß sie zu uns kommt, sie ist viel zu arg erbittert gegen mich!«
»Das wollen wir erst sehen. Wenn man fremd, einsam und – hungrig ist, kann man nicht leicht einer Einladung widerstehen. Es ist ein Versuch; gelingt er nicht, so können wir weiter sehen.«
Franziska traf Fräulein Geldern nicht zu Hause und hinterließ das Briefchen der Hauswirtin. Als es Abend wurde, wartete Gretchen in zunehmender Aufregung. Kommt sie? Kommt sie nicht?
Und sie kam. Gegen Gretchen war sie etwas zurückhaltend, aber sonst zeigte sie sich in ihrer feinen, anmutigen Liebenswürdigkeit und sah so reizend aus, daß Gretchen ganz hingenommen war von ihrer Erscheinung und ordentlich stolz auf ihre schöne Freundin. Die Eltern waren freundlich gegen den jungen Gast und mit keinem Wort wurde etwas erwähnt, das für Fräulein Geldern hätte peinlich sein können.
Als Gretchen nach dem Essen den Tisch abräumen half, kam die Mutter einen Augenblick zu ihr hinaus und sagte leise: »Bleibe du nun ein wenig in deinem Zimmer, ich will allein mit Fräulein Geldern sprechen.«
»Aber Mutter, nicht wahr, du fragst sie gewiß nicht über ihre Familie; denn das ist ihr schrecklich.«
Frau Reinwald antwortete darauf nicht, sondern kehrte gleich zu ihrem Gast zurück, während Herr Reinwald in sein Zimmer ging und Gretchen das ihrige aufsuchte. Es war ihr recht unbehaglich zumute; sie dachte sich, daß für Fräulein Geldern nun eine peinliche Unterredung kommen würde. Sie hoffte in einer Viertelstunde wieder gerufen zu werden; aber sie wartete umsonst von einer Viertelstunde zur andern. Die Kinder waren schon zu Bett gebracht und es wurde allmählich ganz still im Hause. Da drang bis in Gretchens Zimmer die Stimme von Fräulein Geldern; immer erregter klang dieselbe, und nun hörte man lautes Weinen. Gretchen konnte es nicht mehr aushalten; ganz außer sich kam sie in Herrn Reinwalds Zimmer. »O Vater,« rief sie, »ich höre Fräulein Geldern laut weinen, wie kann die Mutter sie so quälen! O, wenn ich denke, daß ich an all dem allein schuld bin, und sie hat mich doch immer ihre Freundin genannt!«
»Das bist du auch jetzt noch, und nur deiner Freundschaft zuliebe haben wir so gehandelt und haben das Fräulein zu uns eingeladen; denn das muß ich dir sagen: eine Lehrerin, die von Schülerinnen verlangt, daß sie ihr heimlich Geld bringen, verdient eigentlich eine andere Behandlung, und statt zum Tee hätte sie auch vor Gericht geladen werden können.« Gretchen erschrak. Daß es der Vater so ernst nehmen würde, hätte sie nicht gedacht. »Übrigens,« sprach Herr Reinwald, »scheint es mir, als ob es drüben nun ganz still geworden wäre.« In der Tat hörte man keinen Laut mehr, und wenn vorhin die lebhaften Stimmen aufregend waren, so hatte die nun eingetretene völlige Ruhe, als sie eine Weile dauerte, auch etwas Unheimliches. Endlich hörte man die Türe gehen, Frau Reinwald trat in ihres Mannes Zimmer. Sie sah sehr erregt aus, als sie zu ihrem Mann sagte: »Fräulein Geldern schreibt eben einen Brief an ihre Eltern. Ich habe sie mit aller Mühe dazu überredet, und es wäre mir sehr leid, wenn sie wieder schwankend würde und den Brief nicht abschickte. Möchtest du sie nicht heimbegleiten und dich überzeugen, daß sie den Brief wirklich in den Schalter wirft?«
»Auch das noch? Nun meinetwegen. Rufe mich eben, wenn es soweit ist.«
»Es kann noch eine gute Weile dauern. Gretchen, gehe du einstweilen zu Bett, es wird spät.«
»Zu Bett? O Mutter, ich kann doch so nicht schlafen?«
»Doch, nun kannst du ruhig schlafen, es wird alles gut werden für dich und für Fräulein Geldern. Gute Nacht, mein Kind.«
Die Mutter verließ das Zimmer und Gretchen ging zu Bett. Aber sie lag wach, es wollte sich nicht wie sonst der Schlaf gleich einstellen. Es tat ihr weh, daß Fräulein Geldern heute abend kein freundliches Wort für sie gehabt hatte, aber es war ja natürlich: sie konnte die nicht mehr lieb haben, die sie verraten hatte. Als Gretchens Gedanken endlich anfingen in Träume überzugehen, wurde sie durch das Öffnen und Schließen der Türen wieder munter gemacht. Draußen wurden Abschiedsworte gewechselt, Herr Reinwald ging mit Fräulein Geldern fort. Gretchen horchte gespannt nach dem Tritt der Mutter. Wenn sie doch nur auf einen Augenblick noch zu ihr käme! Sie konnte der Mutter Tun verfolgen: zuerst geht die Küchentüre, nun knarrt das Türchen vom Speiseschrank – der Kaffee wird herausgegeben, wieder eingeschlossen. Jetzt gehen die Tritte nach dem Zimmerchen, in dem die Kleinen schlafen, da wird noch ein Fensterflügel auf- oder zugemacht; dann – ja, Gretchens Hoffnung täuscht sich nicht – dann kommt der Mutter Tritt ganz nahe, leise geht die Türe auf und fast unhörbar fragt die Mutter: »Gretchen, wachst du noch?« Und dann sitzt die Mutter auf dem Bettrand, Gretchen umschlingt sie mit den Armen und bittet: »O Mutter, jetzt sage mir alles!«
»Wenn du denn doch noch wach bist,« sagte Frau Reinwald, »so will ich dir noch erzählen, was ich von Fräulein Geldern erfahren habe. Sie ist aus vornehmer Familie, ist ein verwöhntes Mädchen, das sich in Trotz und Unverstand vor einigen Monaten aus dem Elternhaus entfernt hat, als man ihr zum erstenmal den Willen nicht ließ. Sie wollte eine offenbar törichte Heirat eingehen, die die Eltern nicht zugeben konnten, und faßte den Entschluß, in die Welt hinaus in Stellen zu gehen und nicht eher ins Elternhaus zurückzukehren, als bis ihre Eltern nachgeben würden. Sie ist bald in Not geraten, da sie ohne jegliche Empfehlung keine dauernde Stelle finden konnte; trotzdem hat sie sich nicht entschließen können, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten, sondern hat lieber gedarbt, verkauft und gebettelt, wie du weißt. Sie ist hochmütig und verblendet, wie ich es noch nicht leicht getroffen habe.«
»Aber schön ist es doch von ihr, daß sie dir das alles so aufrichtig gestanden hat,« sagte Gretchen, die ihre Freundin nicht fallen lassen wollte.
»Es hat einen harten Kampf gekostet, bis sie mir die Wahrheit gestanden hat, noch einen härteren, bis sie sich entschlossen hat, ihre Eltern um Verzeihung zu bitten.«
»Hat sie das getan in dem Brief, den der Vater besorgt?« fragte Gretchen eifrig; »steht es auch gewiß darin?«
»Ja, ja, es steht darin, ich habe es selbst gelesen. Nachdem sie sich endlich dazu überwunden hatte, hat sie wirklich schön geschrieben, so daß es den Eltern wohltun muß, und auch ihr selber ist es jetzt leichter ums Herz, sie hat mir gedankt zuletzt.«
»O Mutter, wie du das so zustande gebracht hast!«
»Jetzt gute Nacht, Kind; es ist höchste Zeit, daß du schläfst!«
»Gute Nacht und danke, danke, danke, Mutter!«
Am frühen Morgen des nächsten Tages, vor Beginn der Schule, eilte Gretchen zu Hermine. Diese mußte hören, welche Wendung die Dinge mit Fräulein Geldern genommen hatten. Aber als sie nach Hermine fragte, erklärte das Dienstmädchen: »Sie schläft noch.«
»Es ist doch schon acht Uhr vorbei,« sagte Gretchen ärgerlich.
»Freilich, aber sie ist eben noch nicht ganz gesund und deshalb bleibt sie länger liegen.«
»Ich will doch einmal nachsehen, ob sie noch fest schläft,« entgegnete Gretchen und wartete nicht länger auf die Einwilligung des Mädchens. Ohne anzuklopfen trat sie leise in Herminens Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, es war dunkel und still im Zimmer; Hermine lag schlafend, das Gesicht nach der Wand gekehrt. Gretchen zögerte ein wenig. Durfte sie die Freundin wecken? Nein, aber doch untersuchen, ob sie noch fest schliefe oder bald von selbst aufwachen würde. Leise flüsterte sie: »Hermine, Fräulein Geldern war bei uns.« Die Schläferin bewegte sich ein wenig.
»Hermine, Fräulein Geldern hat der Mutter alles anvertraut.«
Die Schläferin wandte sich Gretchen zu, aber die Augen waren noch geschlossen.
»Hermine, Fräulein Geldern hat an ihre Eltern geschrieben und sie um Verzeihung gebeten.« Jetzt öffnete die Schläferin die Augen und sah mit Erstaunen auf Gretchen. »Guten Morgen, Hermine,« sagte diese voll Vergnügen, daß die Freundin wach war. »Guten Morgen, Gretchen. O, es ist schade, daß du mich geweckt hast, ich habe gerade von Fräulein Geldern so schön geträumt!«
»Ich habe dich eigentlich nicht geweckt, ich habe dir nur erzählt; o Hermine, es ist jetzt alles offen und klar, und bald wird Fräulein Geldern aus aller Not sein!« Jetzt war Hermine ganz munter und voll Teilnahme für alles, was ihr die Freundin erzählte. Mitten in dem Bericht trat Frau Braun ein und war nicht wenig erstaunt, Besuch im Schlafzimmer zu finden. »Das wird hoffentlich dein letzter Krankenbesuch bei Hermine sein,« sagte sie zu Gretchen, »morgen darf sie wieder in die Schule.« Das war eine frohe Botschaft für Gretchen; fröhlichen Sinnes verabschiedete sie sich und wanderte leichten Herzens, wie schon lange nicht mehr, in ihre Schule.
Fräulein Geldern suchte heute nicht die Gelegenheit, mit Gretchen zusammenzukommen, aber als sie sich zufällig auf der Schultreppe trafen, drückte sie ihr die Hand und flüsterte ihr zu: »Grüßen Sie mir Ihr goldiges Mütterlein!« Nun wußte Gretchen, daß die Freundin ihr nicht mehr zürnte wegen des »Verrats«.
Frau Reinwald teilte Fräulein von Zimmern mit, wie Gretchen ganz gegen ihren Willen in Heimlichkeiten verwickelt worden war. Das wußte Gretchen und so war es ihr auch nicht bange, als sie an einem der nächsten Schultage in das Zimmer der Vorsteherin beschieden wurde; aber lebhaft kam ihr in Erinnerung, wie sie das letztemal so ungnädig aus diesem Stübchen entlassen worden war. Diesmal wurde sie freundlich angeredet. »Du weißt wohl,« sagte Fräulein von Zimmern, »daß deine liebe Mutter alles aufgeklärt und in Ordnung gebracht hat, was unklar und verwirrt war. Ich habe über diese Sache nichts mehr zu bemerken. Ich habe dich rufen lassen wegen Ruths Stunden. Die Kleine hat nun ihre Mitschülerinnen eingeholt und braucht keine Nachhilfestunden mehr, doch wäre es gut, wenn du sie noch ein wenig im französischen Lesen übtest; willst du das noch diesen Monat hindurch tun?«
»Jawohl, gerne.«
»Wie gefällt dir nun das Unterrichten? Möchtest du gelegentlich wieder eine kleine Schülerin?«
»Lieber nicht,« sagte Gretchen offenherzig, »ich habe mir's eben eigentlich doch lustiger gedacht.«
» Eben, eigentlich, doch,« wiederholte Fräulein von Zimmern, »drei Füllwörter nebeneinander! Alle drei könnten wegbleiben. In deinem letzten Aufsatz mußten auch einige Füllwörter gestrichen werden. Achte künftig besser darauf! – Lustig ist das Unterrichten freilich nicht; aber eine Freude ist es doch, die Fortschritte einer Schülerin zu beobachten und am meisten, wenn man dabei die Liebe der Schülerin zu gewinnen versteht. Dies ist dir gelungen, Ruth ist dir sehr anhänglich.«
»Ich habe sie auch lieb.«
»Das freut mich. Du kannst nun gehen, mein Kind.« Vertraulicher, als es sonst ihre Art war, reichte Fräulein von Zimmern Gretchen die Hand und sah sie freundlich an, so ganz anders als bei dem letzten Gespräch; Gretchen fühlte sich so glücklich darüber, daß sie in Gefahr kam, der würdigen Dame zum zweitenmal um den Hals zu fallen. Sie faßte sich aber noch und verabschiedete sich mit dem vorschriftsmäßigen Knicks. Draußen aber, da ihr gerade die kleine Ruth in den Weg lief, packte sie dieselbe in fröhlichem Übermut, setzte sich auf die unterste Treppenstufe, zog das Kind auf ihren Schoß und rief: »Weißt du schon, Ruth, daß wir nun bloß noch miteinander lesen müssen, keine langweiligen Übersetzungen mehr schreiben, keine schweren Wörter mehr lernen? Ist das nicht lustig? Hast du's schon gewußt? Ja? Hat dir's Fräulein von Zimmern gesagt oder Fräulein Bertrand?«
»Beide.«
Das war wieder eine spärliche Antwort auf solchen Erguß; aber Gretchen war im Augenblick viel zu vergnügt, um sich über irgend etwas zu ärgern. Sie lachte nur und sagte: »Gelt, du hast noch nie einen Verweis bekommen wegen der vielen Füllwörter; wenn man bei dir ein Wort streicht, so bleibt überhaupt nichts mehr übrig.« Ruth verstand nicht, was Gretchen mit den Füllwörtern meinte; aber sie verstand den guten Humor und fühlte sich ganz behaglich als Schoßkind. Aber da ging die Türe auf und Fräulein von Zimmern trat in den Vorplatz. Im Nu sprang Gretchen in die Höhe und zog die Kleine mit sich fort, noch ehe die gestrenge Vorsteherin ihr die Bemerkung machen konnte, daß die Treppe nicht zum Sitzplatz bestimmt sei.
Hermine ging wieder in die Schule. Wenn sie noch einen Tag weggeblieben wäre, hätte sie ihre schöne Freundin, Fräulein Geldern, nicht mehr gesehen.
Am ersten Nachmittag, als sie die Schule wieder besuchte und eben Fräulein Bertrand die französische Stunde erteilte, trat unerwartet Fräulein von Zimmern in die Klasse und wandte sich an Fräulein Bertrand: »Erlauben Sie, daß Hermine und Gretchen einen Augenblick mit mir kommen, es wird nach ihnen gefragt.« Überrascht folgten die beiden Gerufenen der Vorsteherin bis hinunter an ihr Zimmer. »Ihr werdet hier jemand treffen, der sich von euch verabschieden will,« sprach sie und öffnete die Türe. Da standen die beiden Mädchen zwei Damen gegenüber. Die eine, Fräulein Geldern, ging freundlich auf sie zu. »Ich möchte meine lieben Freundinnen, ehe ich fortgehe, meiner Mutter vorstellen,« sagte sie; »sieh, Mutter, das sind die beiden, die ...«
»Die dir so treulich beigestanden haben in deiner Not,« vollendete Fräulein Gelderns Mutter, eine hohe, stattliche Gestalt, die auf die Mädchen zukam und sie herzlich begrüßte. »Ich war bei Ihrer Mutter,« sagte sie zu Gretchen, »und habe ihr gedankt für das, was sie an meiner Tochter getan hat, und nun möchte ich auch Ihnen beiden noch danken.« Fräulein von Zimmern sah, daß die Freundinnen in Verlegenheit waren und nicht wußten, was sie antworten sollten. Sie kam ihnen zur Hilfe: »Fräulein Geldern wird heute schon heimreisen; ich habe euch gerufen, damit ihr euch noch verabschieden könnt.« Das taten nun die beiden Mädchen, und als sie wieder zu ihrer Klasse zurückkehrten, begleitete Fräulein Geldern sie noch bis in den oberen Stock. Dort fand Gretchen noch den Mut zu der Frage: »Sind Sie mir nun gar nicht mehr böse?«
»Nein, gewiß nicht; aber eines möchte ich Sie noch fragen, Gretchen, mit wem haben Sie damals über mein Geheimnis gesprochen, als Sie sich von mir lossagten? Mit Fräulein von Zimmern oder mit Ihrer Mutter? Jetzt können Sie es mir ja eingestehen.«
»Aber mit niemandem! Fräulein Geldern; ich habe es Ihnen doch schon damals gesagt.«
»Ich kann es nicht glauben, Kind. Die Worte, die Sie damals sagten, konnten nicht aus Ihnen kommen, und ebensowenig Ihr plötzlicher, fester Entschluß.«
»Es waren die Worte, die unser Pfarrer in der Stunde über Heimlichkeiten sprach.«
»Ja,« bestätigte Hermine, »wir hatten ihn gebeten, darüber zu reden, aber er wußte nicht, warum.«
»Das waren gute Worte; Gott sei Dank dafür!«
Die jungen Mädchen trennten sich, Gretchen und Hermine sahen ihre schöne Freundin die Treppe hinuntereilen – für sie war sie verschwunden, wohl für immer.
Noch am selben Tage kehrte sie als ein gedemütigtes Kind nach schweren Erfahrungen ins Elternhaus zurück.