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Es schlug 4 Uhr und eine ganze Menge kleiner Mädchen sprang vergnügt lachend und plaudernd die Treppe des Schulhauses herunter. Unter ihnen war auch Emma, ein gutmütiges, fröhliches Kind. Als sie unten angekommen war, sagte Emma zu ihren Freundinnen: »Ach, ich habe mein Heft im Schulzimmer liegen lassen, wartet ein wenig auf mich, ich will es schnell holen.« Emma eilte nun wieder die Treppe hinauf in das Schulzimmer, wo das Heft noch auf seinem Platz lag. Das große Zimmer, in dem vorhin 50 Kinder beisammen gewesen, war nun fast leer. Ein einziges Mädchen stand noch an ihrem Platz und packte erst ihre Sachen zusammen.
»Du brauchst aber lang, Gretchen,« sagte Emma. Gretchen antwortete nichts darauf. Da merkte Emma, daß Gretchen weinte, und ihr gutes Herz war voll Mitleid. »Was hast du denn?« fragte Emma. Aber Gretchen gab keine Antwort, sie war immer ein schüchternes, stilles Kind. Da fiel es Emma wieder ein, daß es Gretchen heute in der Schule nicht gut gegangen war; sie hatte ihren Spruch nicht gekonnt und hatte falsch gerechnet, und der strenge Lehrer hatte ihr deshalb Tatzen gegeben. »Tun dir deine Hände noch weh?« fragte Emma. »Jetzt nimmer,« antwortete Gretchen, »aber ich werde morgen wieder geschlagen, denn ich kann die Rechnungen nicht machen, die uns der Lehrer aufgegeben hat.« »Aber du hast doch früher immer so gut rechnen können, viel besser als ich,« sagte Emma. »Ja das war vor meiner Krankheit,« antwortete Gretchen betrübt, »aber seit ich in diesem Winter krank war, höre ich nimmer gut und verstehe nicht, was der Lehrer erklärt und nun bin ich auf die letzte Bank gekommen und jetzt höre ich gar nicht mehr, was der Lehrer sagt.« Nun fing Gretchen wieder an zu weinen. »Warum sagst du es denn dem Lehrer nicht?« fragte Emma. »Ich habe es schon lange sagen wollen, aber ich traue mich nicht.« »Soll ich dir die Rechnungen erklären?« fragte Emma. »O ja, bitte!« rief Gretchen eifrig und packte gleich ihre Tafel wieder aus.
Nun setzten sich die beiden Mädchen nebeneinander und Emma erklärte alles, so gut sie konnte. Gretchen verstand sie auch ganz leicht und so waren sie bald fertig und gingen miteinander die Treppe hinunter. Die anderen Kinder waren alle schon fort. »O weh, jetzt muß ich ganz allein den weiten Weg gehen!« sagte Emma. »Ich will dich begleiten, daß du nicht so allein bist, du bist ja auch so gut gegen mich gewesen,« sagte Gretchen und so gingen die beiden miteinander.
»Warum hast du denn heute deinen Spruch nicht gekonnt?« fragte Emma. »Ich habe einen andern Spruch gelernt, weil ich verstanden habe Nro. 17 statt Nr. 14. O wenn ich nur wieder weiter vorn sitzen dürfte, damit ich den Lehrer besser verstände!«
»Kann denn dein Vater nicht mit dem Lehrer reden?« »Mein Vater ist gestorben.« »Aber deine Mutter könnte es dem Lehrer sagen.« »Meine Mutter geht nicht zum Lehrer.« »Aber sie könnte ihm vielleicht ein Billet schreiben.« »Meine Mutter schreibt keine Billete.« »Nie?« »Gar nie.«
Nun gingen die zwei Kinder still nebeneinander, bis sie vor Emmas Haus waren. Da sagte Emma: »Morgen will ich es dem Lehrer sagen, daß du nicht gut hörst, und will ihn bitten, daß er dich wieder auf die erste Bank setzt.« »Du wirst dir's nicht getrauen,« sagte Gretchen. »Ich getraue mir's schon,« rief Emma vergnügt und sprang in ihr Haus, Gretchen aber machte sich auf ihren Heimweg.
Am nächsten Tag ging es Gretchen gut in der Schule; alle Rechnungen waren richtig und der Lehrer sagte: »So ist's recht, Gretchen.« Emma freute sich fast ebenso darüber wie Gretchen. Nach der Schule wollte Emma mit dem Lehrer reden, wie sie versprochen hatte. Sie ging hinter ihm die Treppe hinunter und dachte: Wenn er sich umsieht, will ich es ihm sagen. Er sah sich aber nicht um und ging rasch über die Straße. Emma immer hinter ihm her. Endlich faßte sie Mut und sagte: »Herr Lehrer!« Er hörte es aber nicht. »Ich will warten bis wir in eine stille Straße kommen,« dachte Emma. Bald ging der Lehrer in eine kleine Seitengasse, da wollte Emma wieder anfangen: »Herr Lehrer!« aber in dem Augenblick kam ein Herr auf den Lehrer zu, begrüßte ihn und ging mit ihm.
Da wollte Emma nicht stören, kehrte um und dachte: »Ich kann ja heute nachmittag mit dem Lehrer sprechen.«
Als die Kinder aber aus der Nachmittagsschule kamen, war vor dem Schulhaus ein großes Getümmel. Ein Mann führte an einem Strick einen Tanzbären und ließ ihn tanzen, während ein kleiner Bub die Trommel schlug. Viele Leute waren zusammen gelaufen, um zuzusehen, und die Schulkinder drängten sich auch herbei. Dann zog der Mann mit dem Bären weiter in der Straße, die zu Emmas Haus führte und sie sprang voraus, um sich von der Mutter einige Pfennige für den Bärentreiber zu erbitten. Als aber alles vorbei war, fiel es Emma erst wieder ein, daß sie über dem Bären ganz und gar den Lehrer und das arme Gretchen vergessen hatte, und es tat ihr sehr leid. Immer mußte sie denken: Wenn nun Gretchen morgen ihre Rechnungen nicht recht hat, dann geht es ihr wieder schlecht! Und so war es auch. Gretchen machte schon ein betrübtes Gesichtchen, als sie in die Schule kam, denn sie hatte die Rechnungen nicht zustande gebracht. Als es der Lehrer sah, war er sehr ärgerlich und sagte zu Gretchen: »Du hast wieder alle Rechnungen falsch, komm nur heraus zu mir!« und dabei nahm der Lehrer seinen Tatzenstecken zur Hand.
Blaß und zitternd folgte Gretchen und ging zum Lehrer. Im Vorbeigehen warf sie einen traurigen Blick auf Emma. Als Emma dies sah, wurde ihr Herz voll Mitleid für das arme Gretchen, sie nahm allen ihren Mut zusammen und in dem Augenblick, als Gretchen schon ihre Händchen ausstreckte, um die Strafe zu empfangen, trat Emma aus ihrer Bank heraus, stellte sich vor Gretchen hin und sagte zu dem erstaunten Lehrer: »Herr Lehrer, das Gretchen kann gar nichts dafür, sie hört so schlecht!« Weiter konnte sie aber nichts sagen, denn sie mußte weinen. Der Lehrer hatte Emma sehr gern, und als er sie weinen sah, sagte er: »Du bist ein gutes Kind, sei nur still, ich will deinem Gretchen nichts tun und nach der Schule erzählst du mir alles.«
So durfte sich Gretchen wieder an ihren Platz setzen und nach der Schule rief der Lehrer Emma und Gretchen zu sich und ließ sich alles erzählen. Dann sagte er zu Gretchen: »Du hättest mir schon längst selbst sagen sollen, daß du nicht gut hörst, ich will dich von jetzt an auf die vorderste Bank setzen und sehen, ob du dann wieder eine gute Schülerin wirst.« Ganz glücklich gingen die beiden Mädchen aus der Schule heim.
Am folgenden Tag, als alle Kinder in der Schule versammelt waren, sagte der Lehrer: »Von heute an darf Gretchen auf der ersten Bank sitzen, damit sie mich besser hört! Natürlich muß sich dafür eine von den Ersten auf die letzte Bank setzen, sonst ist kein Platz frei für Gretchen. Wer von euch will sich Gretchen zu Liebe hinter setzen?« dabei sah der Lehrer die fünf Kinder an, die auf der ersten Bank saßen. Keine der Mädchen antwortete, denn sie mochten alle nicht auf der letzten Bank sitzen. Es wurde ganz still in der Schulstube. Da stand Emma auf, nahm ihren Ranzen und sagte: »Ich will mit Gretchen den Platz tauschen.« Dann setzte sie sich auf die letzte Bank und Gretchen auf die erste. Als der Unterricht an diesem Vormittag vorbei war, rief der Lehrer Emma zu sich und fragte sie: »Hat es dir gefallen auf deinem neuen Platz?« »O nein, gar nicht,« sagte Emma, »die Kinder neben mir sind so unartig.« »So willst du wieder auf deinen früheren Platz?« fragte er. »Nein, ich bleibe doch hinten dem Gretchen zuliebe.« »Du bist eine treue Freundin,« sagte der Lehrer, »ich habe dich aber nur prüfen wollen; künftig darfst du neben Gretchen auf der ersten Bank sitzen, ihr rückt nur ein wenig zusammen, dann habt ihr ganz gut alle sechs Platz.« Wie vergnügt war Emma, als sie die freundlichen Worte des Lehrers hörte, und wie wohl war es ihr, als sie am Nachmittag neben dem lieben Gretchen saß, die nun alles verstand, was der Lehrer sagte.
Am Abend dieses glücklichen Tages saß Emma gerade bei der Mutter und machte ihre Aufgaben, da kam die Magd herein und sagte: »Es ist ein kleines Mädchen draußen, die möchte Emma etwas bringen.« »Sage ihr doch, sie solle hereinkommen,« entgegnete die Mutter. »Das habe ich schon gesagt, aber sie traut sich nicht.« »O,« rief Emma, »wenn sie sich nicht traut, dann weiß ich schon wer es ist, gewiß das Gretchen.«
Emma sprang hinaus und richtig da stand Gretchen vor der Türe mit einem Korb voll Erdbeeren und einem großen Blumenstrauß. Sie gab beides Emma und sagte: »Das habe ich für dich im Wald gesucht, weil ich dich so gern habe.« Dann wollte sie schnell wieder die Treppe hinunter springen, aber Emmas Mutter hielt sie freundlich auf, führte sie ins Zimmer und sagte ihr, sie solle nur öfter zu ihnen kommen.
So wurden Emma und Gretchen gute, treue Freundinnen.