Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Hannchen,« sagte die Mutter zu ihrem achtjährigen Töchterchen, »du mußt diese Flasche Wein zu Fräulein Richter, deiner alten Stricklehrerin, tragen.«
»Kann ich es denn nicht heute Nachmittag um 3 Uhr tun, wenn ich zu meiner Freundin gehe?« fragte Hannchen, »da komme ich ja am Haus von Fräulein Richter vorbei.«
»Meinetwegen,« sagte die Mutter, »aber ich werde nicht zu Hause sein, wenn du um 3 Uhr fortgehst, du mußt also dann selbst daran denken. Hier stelle ich den Wein hin, vergiß ihn nicht und grüße das alte Fräulein schön, sie ist krank und schwach und ganz verlassen.« »Ich will es nicht vergessen, Mutter,« versprach Hannchen.
Als es aber 3 Uhr war und Hannchen ihr Sonntagskleid angezogen hatte, um in eine kleine Gesellschaft zu ihrer Freundin zu gehen, dachte sie nimmer an den Wein, sondern ließ ihn stehen und ging voll Vergnügen zu der Freundin, bei der sie noch mehrere andere Kinder traf. Mitten im schönsten Spiele fiel ihr aber ein, was sie vergessen hatte. Sie erschrak und erzählte es der Freundin. »Ach, das macht nichts,« tröstete diese, »du kannst ja morgen den Gang machen.«
Die Kinder spielten weiter, aber Hannchen war gar nicht mehr vergnügt, denn sie hatte kein gutes Gewissen. Immer mußte sie daran denken, wie die Mutter gesagt hatte: »Fräulein Richter ist krank und schwach und ganz verlassen.« Es wurde nun Kuchen und Obst für die Kinder herein gebracht, und sie setzten sich alle um den schön gedeckten Tisch herum. Da sprang Hannchen plötzlich auf und rief:
»Mir schmeckt es nicht, so lange ich meiner Stricklehrerin nicht den Wein gebracht habe!« Und nun ließ sie sich nimmer aufhalten, sondern lief so schnell sie konnte nach Hause, nahm die Flasche Wein und ging gleich wieder fort zu Fräulein Richter. Es war ein weiter Weg und Hannchen wurde ganz müde von dem Hin- und Herlaufen. Endlich kam sie an das Haus. Als ein kleines Mädchen war sie alle Tage zu der Stricklehrerin gekommen, jetzt aber schon lange nicht mehr. Das alte Fräulein wohnte ganz oben im dritten Stock.
Hannchen stieg hinauf und klopfte an der Türe. Es rief niemand »herein.« »Ach, sie ist vielleicht gar nicht zu Hause, dann bin ich ganz umsonst gelaufen,« dachte Hannchen und probierte, ob die Türe geschlossen sei. Nein, die Türe ging auf. Hannchen sah in das Zimmer, es war leer, aber aus dem Schlafzimmer nebenan hörte sie etwas wie ein leises Stöhnen. Sie ging hinein.
Das alte Fräulein lag in ihrem Bett und sah so elend aus, daß Hannchen sie kaum mehr erkannte. Jetzt bemerkte das Fräulein, daß jemand ins Zimmer gekommen war, sie erhob sich ein wenig, sah Hannchen an und rief: »Ach Gott Lob und Dank, daß endlich endlich ein Mensch zu mir kommt!« Dann fiel sie ganz erschöpft in ihr Kissen zurück und weinte bitterlich. Hannchen war nun ganz dicht an das Bett herangekommen und fragte voll Mitleid: »Ach, sind Sie denn ganz allein?« »Man hat mich vergessen,« klagte Fräulein Richter, »schon seit gestern früh ist die Frau nimmer gekommen, die mich sonst versorgt, o ich verschmachte vor Durst!«
Als Hannchen dies hörte, machte sie so schnell sie nur konnte, die Weinflasche auf und schenkte etwas von dem Wein in ein Glas. Gierig langte die arme Kranke darnach und als sie getrunken hatte, drückte sie Hannchen die Hände und rief: »Ich danke dir tausendmal, daß du gekommen bist, du liebes Kind! Der liebe Gott hat dich mir als einen Engel geschickt. Wenn du nicht gekommen wärest, hätte ich elend verschmachten müssen.«
O wie glücklich fühlte sich Hannchen bei diesen Worten und wie dankte sie Gott im stillen, daß sie nicht zu spät gekommen war!
Hannchen fand in der Küche ein Körbchen Eier und Brot, davon brachte sie nun der armen Kranken, und als diese sich ein wenig gestärkt hatte, sagte Hannchen: »Soll ich nicht zu der Frau gehen, die bisher für Sie gesorgt hat, und fragen, warum sie nimmer gekommen ist?«
»Freilich, liebes Kind,« antwortete das Fräulein, »gehe zu der Frau, aber komme bald wieder, o, es ist schrecklich, wenn man gelähmt im Bett liegt und keinen Menschen zur Hilfe rufen kann! Aber Gott hat doch mein Flehen erhört und dich geschickt, ich habe Ihn angerufen in meiner Not und Er hat mich errettet!«
Hannchen eilte nun zu der Frau, die ganz in der Nähe wohnte, und erfuhr von den Hausleuten, daß die Frau selbst plötzlich erkrankt und ins Spital gebracht worden sei. Schnell kehrte Hannchen zu Fräulein Richter zurück und brachte ihr diese schlimme Nachricht. Was war nun zu tun. »Ich weiß, was ich tue,« sagte Hannchen, »ich gehe heim zu der Mutter und erzähle ihr, daß Sie so verlassen sind, sie sorgt gewiß, für Sie.« »Ja, tue das, gutes Kind,« sagte das Fräulein, »aber nicht wahr, du vergißt mich nicht?« »Nein, nein, ich sorge ganz gewiß für Sie,« rief Hannchen und sie flog nur so heim zu ihrer Mutter und erzählte ihr alles, was sie erlebt hatte.
Gerührt hörte die Mutter zu, küßte ihr Töchterchen und sagte liebreich zu ihr: »Hast du ein Engelein Gottes sein dürfen? Freue dich darüber und danke Gott dafür; denke, wie wäre es gewesen, wenn du erst morgen zu dem alten Fräulein gegangen wärst und sie vielleicht tot im Bett gefunden hättest?! Nun aber will ich schnell gehen und für die arme Kranke sorgen.« Noch am selben Abend bekam das alte Fräulein eine liebe, treue Krankenwärterin, die sie aufs beste verpflegte und nie mehr verließ. Hannchen aber besuchte Fräulein Richter noch oft, und wenn sie zur Türe herein kam, so streckte ihr die Kranke freundlich die Hände entgegen und rief: »Da kommt mein kleiner Engel!«
Hannchen merkte sich für ihr ganzes Leben, daß man nie das Gute, was man tun will, verschieben soll.