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Mit Schmutz bedeckt, den er sich auf dem durchweichten Boden geholt hatte, erreichte der Detektiv endlich das Dorf. Es war ein unregelmäßiges, häßliches Häuserquadrat und lag in einer Talmulde. Wie es hieß, darum kümmerte sich der Mann nicht.
Er suchte den Dorfkrug auf und alarmierte die Leute, die noch schläfrig aus ihren Betten krochen. Er wollte einen leichten Wagen mit einem flinken Pferd, das ihn rasch nach der nächsten Bahnstation bringen konnte, um dort einen Hamburger Zug zu erreichen.
Mit Drohen und Flüchen glückte ihm das Unternehmen endlich doch. Der Hinweis auf die Polizei tat ein übriges.
Immerhin hatte es eine halbe Stunde gedauert, ehe er, eine dicke Pferdedecke über den Knien, zähneklappernd auf dem harten Brett oben saß, während vor ihm ein mürrischer Knecht das Pferd antrieb.
Die Bahnstation lag östlich und man erreichte sie genau mit dem Glockenschlage sieben. Ein Hamburger Zug kam zwanzig Minuten später durch.
Ruhelos schritt der Detektiv um das elende Bahnhofsgebäude, immer an Senta und den Baron denkend.
Wie langsam die Minuten krochen! Er ballte zornig die Fäuste und murmelte heiser allerlei vor sich hin.
Dann endlich – endlich –!
Er saß im Zuge und jagte nach Hamburg.
Was sollte er zunächst tun? Natürlich war der Zug, in dem Senta und ihr Entführer saßen, längst vor ihm eingetroffen.
Er machte den Versuch, auf dem Bahnhof bei den Beamten und der diensttuenden Polizei etwas zu erfahren. Doch erwies sich sein Bemühen als fruchtlos. Es waren zu viele Reisende inzwischen angekommen, ausgestiegen und teils zu Fuß, teils mit Auto in die Innenstadt gefahren.
Etwas Verdächtiges war keinem Beamten aufgefallen.
Der Detektiv ließ sich aber die Mühe nicht verdrießen. Er fuhr nach der Polizei und hörte dort, ohne besonders erstaunt zu sein, daß der Kriminalkommissar Ellerböck, den er von Berlin her gut kannte, außerdienstlich tätig wäre. Irgendein Fall in der Provinz. Näheres wollte oder konnte man ihm nicht angeben.
Dann ließ er sich die Liste der Hotelgäste vorlegen, die am frühen Morgen angekommen waren. Darauf war nicht viel Verlaß. Man hätte bis zum Abend warten müssen. Bis dahin aber konnte der Baron mit Senta längst ausgeflogen sein.
Nach kurzer Ueberlegung entschloß sich der Detektiv dazu, sich dem Hamburger Polizeichef anzuvertrauen.
Der Beamte hörte ihm aufmerksam zu. Er verhehlte nicht, daß er die ganze Erzählung des Berliner Detektivs reichlich phantastisch fand. Aber anderseits stellte er auch dem Detektiv seine Beamten, und sogar die besten zur Verfügung, um die Hotels zu überwachen und besonders die Auswandererschiffe.
Auch die Schiffsagenturen erhielten bestimmte Anweisungen. So leicht sollte es nun doch dem Baron nicht gelingen, etwa mit Senta den Hamburger Hafen zu verlassen.
Mehr konnte der Detektiv zur Stunde von der Polizei nicht erreichen.
Er überlegte, ob er an den Vater Sentas nach Berlin depeschieren sollte. Aber das hatte keinen rechten Zweck, er hätte den alten Herrn nur in neue Aufregungen gejagt. Man mußte erst etwas Positives melden können.
Ruhelos durchstreifte der Detektiv die Hafengegend. Seine Augen waren überall, und er hätte Senta oder den Baron gewiß in jeder Verkleidung herausgefunden, wären sie ihm in den Weg gelaufen.
Am kommenden Morgen lief ein großer Dampfer aus. Er ging nach Südamerika.
Die »Santa Margherita« war schon vor Tagen abgegangen, wie sich leicht feststellen ließ. Auch deren Schiffsliste konnte der Detektiv bei einem Agenten einsehen.
Kein Name, der auf den Baron Leichsenring schließen ließ, befand sich darunter. Als ob der Detektiv nicht ohnehin gewußt hätte, daß der Baron gar nicht mit der »Santa Margherita« abgefahren war!
Der war ja doch in Berlin, oder vielmehr wieder in Hamburg.
Eines aber beruhigte ihn doch einigermaßen: die Geheimagenten der Hamburger Kriminalpolizei bewachten jedes Auswandererschiff auf das schärfste. Auch unter falschen Namen konnte fürs erste der Baron mit Senta Fredersdorf auf dem Wasserwege nicht entweichen. Und auch die Bahnhöfe hatten genaueste Anweisungen erhalten.
Es war am zweiten Tage nach der Ankunft des Detektivs in Hamburg. Und noch war nicht die geringste Meldung vom Zentralbüro der Kriminalpolizei eingetroffen, die eine Spur der Flüchtlinge meldete.
Gegen Abend betrat der Detektiv, der keinerlei Verkleidung angelegt hatte, suchend die große Halle des Hauptbahnhofes, um Beobachtungen anzustellen. Aus irgendeiner verschleierten Tiefe seines Denkens war der unwiderstehliche Drang entstanden, gerade in dieser Stunde die ankommenden und abfahrenden Reisenden zu kontrollieren. Er hatte das sichere Empfinden, daß ihm heute abend irgend etwas Wichtiges begegnen würde.
Ein Schwarm von Menschen umdrängte ihn und schob ihn hin und her. Seine Blicke bohrten sich, oft nur für Sekunden, in die Mienen der Fremden, schlichen sich unter jeden Schleier der weiblichen Reisenden. Aber er fand noch immer nichts.
Als er einmal vor einer Säule stehen blieb und, etwas nervös geworden, mit den Zähnen an der Unterlippe nagte, klopfte ihm von rückwärts jemand auf die Schulter.
Er drehte sich hastig um. Und als prasselte ein kalter Wasserstrahl urplötzlich auf ihn nieder, so verblüfft war er. Ein heiser klingender Ton glitt ihm über die Lippen. Er wußte nicht, wie das möglich war, was er hier erlebte.
Vor ihm stand der Eisenmagnat Fredersdorf, lächelnd, höchst zutraulich und ersichtlich vergnügt.
»Sie sind überrascht, mich hier zu sehen, lieber Herr Detektiv? Ich bin's natürlich auch. Ich dachte, Sie wären in Berlin,« rief der etwas rundliche Herr mit den kleinen, klug zwinkernden Augen.
»Sie sind hier, Herr Fredersdorf?« versetzte er. »Das überrascht mich allerdings nicht wenig. Haben Sie eine besondere Veranlassung, gerade jetzt nach Hamburg zu kommen?«
»Aber selbstverständlich, lieber Herr Detektiv,« lachte der Millionär. »Ich komme gerade an. Von Berlin natürlich! Freue mich, Sie getroffen zu haben. Wollte Ihnen ohnedies eine Nachricht senden.«
»Welche Nachricht denn, Herr Fredersdorf?« fragte noch immer etwas verwirrt, der Detektiv.
»Na, Sie wissen ja – die dumme Geschichte mit meiner Senta – und dem Baron – und was damit so zusammenhing. Die Geschichte hat sich in Wohlgefallen aufgelöst.«
Und er lachte noch einmal höchst vergnügt.
»Was hat sie –?« fragte tonlos der Detektiv, dem der Kopf zu wirbeln begann.
»Darüber müssen wir in aller Gemütlichkeit sprechen, lieber Herr Detektiv,« meinte der Millionär. »Hier ist dazu nicht der rechte Ort. Ich lade Sie übrigens zu heute abend ein. Es wird sehr nett werden.«
»Ja – aber ich verstehe immer noch nicht, Herr Fredersdorf …?« stieß der Detektiv gereizt hervor.
Und plötzlich straffte er sich empor. Jetzt mußte es klar werden!
»Herr Fredersdorf,« sprach er mit strengem Ton, »ich bitte Sie auf das dringendste, mir sofort eine kurze Aussprache zu gewähren. Es handelt sich um das Schicksal Ihrer Tochter. Leben stehen auf dem Spiele!«
»Na, na, nur nicht so tragisch,« gab der Eisenmagnat zurück. »Wir werden uns schon verständigen. Ich glaube, Sie haben sich da ein bißchen verrannt!«
»Ich bin meiner Beobachtungen vollkommen sicher, Herr Fredersdorf,« erwiderte noch schärfer der Detektiv.
»Also gut,« sagte achselzuckend der Millionär. »Treten wir in das kleine Zimmerchen dort drüben. Aber viel Zeit habe ich nicht.«
»Ich habe Ihnen auch nur wenig zu sagen, Herr Fredersdorf,« nickte entschlossen der Detektiv.
Die beiden Männer betraten einen matt erleuchteten Raum in der Halle. Vielleicht gehörte er zu den Wartesälen. Aber niemand war außer ihnen anwesend.
Fredersdorf war in langem Reisemantel und trug dazu eine englische Mütze. Sein Handgepäck mochte er bereits einem Beamten zur Weiterbesorgung übergeben haben.
Die beiden Männer standen sich gegenüber und ihre Augen begegneten sich. Alles in dem Innern des Detektivs begann zu fiebern, ein Zustand, den er niemals zuvor kennen gelernt hatte.
»Ich bin den Spuren Ihrer entführten Tochter bis hierher gefolgt, Herr Fredersdorf,« sagte stark und bestimmt der Detektiv. »Der von Ihnen gleich verdächtigte Baron Leichsenring befindet sich bei der jungen Dame. Man plant unbedingt ein ruchloses Verbrechen, das ich aber ebenso sicher zu verhindern wissen werde.«
»Ich verstehe das nicht, werden Sie deutlicher, Herr Detektiv,« versetzte etwas zugeknöpft der Millionär.
Er hatte sich nun in einem der Lederstühle niedergelassen und brannte sich eine ungeheuer dicke Zigarre an, die einen bunten Ring aufwies.
»So hören Sie, was ich in der letzten Zeit erlebte,« versetzte der Detektiv.
Mit kurzen, aber bestimmten Worten schilderte er seine ganzen Erlebnisse, bis zu dem Augenblick, da er Fredersdorf draußen in der Halle getroffen hatte.
Der Millionär hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen. Er rauchte nur und blies immer dichtere Wolken seiner schrecklichen Zigarre gegen die Decke.
»Nun wissen Sie, wie gefährlich die Dinge sich entwickelt haben, Herr Fredersdorf,« schloß schneller atmend der Detektiv. »Ich gebe Ihnen aber zugleich die Versicherung, daß wir sowohl Ihr Fräulein Tochter wie auch deren Entführer, diesen Baron Leichsenring, in allerkürzester Zeit festgestellt haben werden.«
Ein lautes Lachen schnitt ihm gleichsam das letzte Wort von den Lippen ab. »Ich bin davon überzeugt, Herr Detektiv,« prustete der Millionär. »Wir werden sowohl meine Tochter wie auch den Baron in kürzester Zeit haben.«
»Sie – wissen, wo sich die beiden befinden?« rief der Detektiv.
»Aber selbstverständlich. Ich habe gestern eine Depesche meiner Senta erhalten und habe mich unverzüglich auf die Bahn gesetzt, um der Feier hier beizuwohnen.«
»Feier? Was denn für eine Feier?«
»Na, wenn ich Sie schon damit überraschen muß: Senta ist gestern auf dem Standesamt regelrecht die Gattin des Baron von Leichsenring geworden.«
»Nein –!« schrie heiser der Detektiv auf. Er faßte sich an die Stirne. War er denn verrückt?
»Aber ja doch, Mann Gottes! Nur keine solche Aufregung! Ist ja gar nicht angebracht. Ich habe mich schließlich überzeugt, daß diese Verbindung für Senta das Glück ihres Lebens bedeutet. Sie schreibt mir auch ähnlich. Na, dann habe ich meinen Widerstand eben fallen lassen. Und nun sind die beiden Mann und Frau.«
»Fräulein Senta hat Ihnen – geschrieben?« würgte der Detektiv aus der Kehle.
»Wie ich Ihnen sage!«
»Der Brief ist gefälscht!« fuhr der Detektiv auf.
»Erlauben Sie, ich werde doch die Handschrift meiner Tochter kennen! Mir macht man so leicht nichts weis!«
»Trotzdem – und auch das andere! Eine solche Vermählung – noch dazu gestern erst, hier in Hamburg, ist einfach unmöglich!«
»Wieso denn unmöglich? Es stimmt alles. Standesamt – nachher kirchliche Trauung. Was wollen Sie also?«
Der Detektiv war ebenfalls in einen Stuhl gefallen. Und noch einmal sagte er sich: wenn ich diesmal nicht verrückt werde, werde ich es im ganzen Leben nicht mehr!
Plötzlich fuhr er auf. Ein Entschluß war ihm gekommen. Er hatte an der Wand einen Fernsprechapparat entdeckt.
»Erlauben Sie …?« rief er atemlos.
»Bitte sehr,« nickte höflich Fredersdorf und rauchte seelenvergnügt weiter, so daß sich der kleine Raum mit blauem Nebel füllte.
»Verbinden Sie mich, bitte, schnellstens mit dem Zentralpolizeiamt,« forderte der Detektiv.
Sekunden vergingen, dann war der Anschluß da.
»Hier der Berliner Detektiv – in Sachen Fredersdorf und Tochter und Baron Leichsenring! Sie wissen doch! Ja? Also ich brauche eine sofortige Auskunft. Hat gestern vor irgendeinem Standesamt eine gesetzmäßige Hochzeit mit nachfolgender kirchlicher Trauung stattgefunden, die den Verdacht aufkommen läßt, daß es sich dabei um den von mir gesuchten Baron von Leichsenring und die Tochter des Herrn Fredersdorf handeln könnte?«
»Eine Minute,« antwortete eine Stimme, die zu lachen schien, dem Detektiv.
Dann kam auch schon die Antwort.
»Die Trauung des Herrn Baron von Leichsenring mit der Tochter des Herrn Fredersdorf hat gestern vormittag um elf stattgefunden. Die kirchliche Feier unmittelbar darauf.«
Der Detektiv riß die Augen auf. Funken sprangen davor auf und nieder.
»Das – muß doch ein Irrtum sein, Herr!« keuchte er. »Seit gestern vormittag ist die gesamte Hamburger Kriminalpolizei aufgeboten, um in den Hotels, auf allen Schiffen und Bahnhöfen den Baron und dessen Begleiterin anzuhalten! Wie kam denn da –?«
Sofort kam die unterbrechende Antwort:
»Davon wissen wir nichts. Schluß!«
Man nahm ihn gar nicht mehr ernst. Oder man hielt ihn tatsächlich für verrückt.
»Na also!« lachte hinter ihm der Eisenmagnat im Stuhle.
Der Detektiv drehte sich blitzschnell um. Er starrte den Mann an. »Wie können Sie denn wissen, was mir durch das Telephon geantwortet wird, Herr Fredersdorf?« rief er fassungslos.
»Ganz einfach: ich denke mir das,« antwortete lachend der Millionär. »Sind Sie nun befriedigt?«
»Nein!« schrie heiser der Detektiv auf. »Ich muß mich mit eigenen Augen überzeugen, sonst werde ich verrückt!«
»Das können Sie haben,« nickte der alte Herr und erhob sich. »Ich wollte Sie ohnedies zu der eigentlichen Feier heute abend einladen. Der Baron und meine Senta werden höchst vergnügt sein, wenn Sie ihnen diese verzwickte Geschichte erzählen. Haben Sie vielleicht manchmal Halluzinationen, Herr Detektiv?«
Ein Krampf wollte diesen packen, ob diesem versteckten Hohn. Dann warf er entschlossen den Kopf zurück.
»Darf ich vielleicht fragen, wo diese Hochzeitsfeier stattfindet, Herr Fredersdorf?« fragte er scharf.
»Selbstverständlich dürfen Sie, mein Süßester! Also wir treffen uns im Hotel Terminus. Kennen Sie die Straße?«
»Ich werde sie leicht finden …«
»Also abgemacht. Ich erwarte Sie und melde Sie gleichzeitig bei den beiden glücklichen Leutchen an. Dann rauchen wir eine Friedenszigarre und die Sache ist erledigt. Bis auf das Honorar, das ich Ihnen in Berlin in Gold zustellen werde. Sie sollen zufrieden sein. Ich bin's ja jetzt auch!«
Der Detektiv nickte geistesabwesend. »Ich werde kommen!«
Gleich darauf sah er sich allein in dem Raume. Blaue, erstickende Rauchwolken hüllten ihn ein. Wie konnte man auch nur eine so starke, scheußliche Zigarre rauchen! Fredersdorf, der Millionär war verschwunden.
Der Detektiv rieb sich die Stirn. Senta vermählt! Mit dem Baron, vor dem sie doch solche Furcht hatte! Sie, die sich in den Park geflüchtet und an dem Herzen des Mannes geruht hatte, der sie retten wollte. Dem sie aus tiefster Herzensnot zuschrie: Retten Sie mich, und mein Leben gehört Ihnen!
Komödie! Alles, was er hier wieder erlebte! Auch dieser etwas vertrauensselige alte Mann mußte getäuscht sein! Die Verbrecher halten ein ganzes Netz von geheimnisvollen Fäden um ihr Opfer gesponnen. Aber wie war es dann möglich, daß sogar die Polizei nichts davon ahnte, die doch orientiert war?
Und nun war er um so mehr entschlossen, diesen Abend zu der angesagten Hochzeitsfeier nach dem Hotel Terminus zu gehen.