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Um zehn stand er vor dem Chef der Hamburger Kriminalpolizei. So lange hatte ihn der lähmende Schlaf in seinen Krallen gehalten.
Der hohe Beamte warf einen scharfen, durchdringenden Blick auf ihn, als wolle er sich erst vergewissern, ob er es nicht doch mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte.
Dann sagte er kurz und fast tonlos: »Kommissar Brandner hat mir den Fall schon vorgetragen. Was ist denn nun eigentlich an der ganzen Geschichte?«
Noch einmal schilderte der Detektiv seine Erlebnisse, wobei er sich bemühte, rein sachlich zu bleiben. Alles stand nun völlig glasklar vor seinem Geiste.
Nur seine Liebe für Senta verschwieg er. Das war wie ein tief in der Seele verborgenes Heiligtum, an das er fremde Menschen nicht rühren lassen wollte.
Der Polizeichef hatte aufmerksam zugehört. Hin und wieder traf sich sein forschender, stahlharter Blick mit demjenigen des Detektivs.
Als dieser zu Ende war, sah er einige Sekunden vor sich hin. Dann hob er den Kopf. »Es ist nicht leicht, an alle diese ungeheuerlichen Dinge zu glauben, die Sie so sicher schildern,« meinte er. »Aber Sie sollen nicht sagen, daß Ihnen hier Schwierigkeiten bereitet worden sind. Nur müssen Sie mir erlauben, Zug um Zug die Beweise erst zu sammeln.«
»Das ist Ihr Recht,« versetzte der Detektiv. »Was gedenken Sie nun zunächst zu tun?«
»Ich werde den schärfsten Befehl geben, daß jeder Winkel in Hamburg nach der jungen Dame, der Tochter des Millionärs, abgesucht wird. Wir haben dazu sehr fähige Beamte.«
»Ich zweifle nicht daran. Dennoch –«
Der Detektiv stockte.
»Sie haben natürlich auch für sich volle Bewegungsfreiheit, Herr Detektiv,« fügte der Polizeichef hinzu. »Nehmen Sie diese Marke hier. Sie verschafft Ihnen jederzeit und überall die Hilfe unserer Leute.«
Er reichte dem Detektiv eine sehr große glitzernde Blechmarke, die der Detektiv mit stummem Dank in die Tasche schob.
»Dann müssen Sie mir schon erlauben, daß ich mich unverzüglich auf telephonischem Wege mit meinem Kollegen, dem Berliner Polizeipräsidenten, in Verbindung setze. Hier stimmt etwas nicht. Der Mann, der Ihnen als Polizeipräsident in jener Villa entgegentrat, war sicherlich ein Doppelgänger.«
Der Detektiv wollte etwas erwidern, aber der Polizeipräsident wehrte lächelnd ab.
»Lassen Sie nur! Ich werde die Sache schon machen! Weiterhin gedenke ich mich ebenso schnell mit dem Eisenmagnaten Fredersdorf zu verständigen. Wir haben ja die Berliner Telephonbücher hier. Der Fernanschluß ist unschwer zu erzielen.«
»Aber Fredersdorf ist ja noch in Hamburg,« warf der Detektiv ein.
»Nach Ihren Angaben, ja. Aber wer weiß! Auch in diesem Falle kann es sich um eine raffinierte Mystifikation handeln. Wir werden die Wahrheit ergründen.«
Er drückte auf einen Knopf. Im Nebenraum klingelte es. Ein Beamter trat ein.
»Stellen Sie eine Verbindung mit dem Berliner Polizeipräsidium her,« befahl der Polizeichef von Hamburg. »Dann eine zweite mit Fredersdorf – dem Eisenkönig, der seine Gruben in Schlesien hat. Und benachrichtigen Sie mich, wenn es so weit ist,« sagte er.
Der Beamte neigte zustimmend den Kopf. Er zog sich schweigend zurück, hatte den Berliner Detektiv dabei aber gar nicht angesehen.
»Und nun warten Sie ein wenig, mein lieber Herr Detektiv,« sprach der Polizeichef weiter.
Er nahm das Höhrrohr vom Tischapparat.
Sogleich kam die Antwort von der Zentrale.
»Ich wünsche den Betriebsdirektor des Hotel Terminus zu sprechen. Hier ist der Polizeichef,« rief er hinein.
Der Detektiv fühlte, daß seine Spannung auf das höchste wuchs.
»Wenn der Baron Leichsenring sich noch im Hotel befindet, lasse ich ihn sofort verhaften,« wandte sich der hohe Beamte an den Detektiv.
Ein paar Sekunden verflossen. Nichts regte sich im Zimmer. Draußen schlug eine Kirchenuhr halb elf.
Da kam der Gegenruf.
»Direktor Volkhammer selbst? Sehr gut! Also hören Sie! Es liegt da eine sonderbare Sache vor. Ich wünsche eine durchaus klare Auskunft. Was war das für eine festliche Veranstaltung, die Sie in der verflossenen Nacht in Ihren Räumen hatten?«
Eine Weile Schweigen. Leugnete der Hoteldirektor etwa?
Der Polizeichef horchte interessiert. Dennoch veränderte sich nichts in seiner kühlen Miene.
»Sie sind sich der Tragweite Ihrer Auskunft doch bewußt, Herr Volkhammer?« sagte der Polizeichef in das Schallrohr.
Wieder einige Sekunden Schweigen.
»Wiederholen Sie, bitte,« befahl der Horchende. »Sie hatten in der verflossenen Nacht keinerlei Fest in Ihren Räumen. Das Hotel ist bis auf das letzte Zimmer besetzt. Um zwölf schlossen Sie. Sie besitzen auch gar keinen Festraum, in dem etwa eine größere Hochzeitsgesellschaft zusammenkommen könnte?«
Der Detektiv fuhr halb vom Stuhl empor. Was war das?
Offenbar wiederholte der Betriebsdirektor seine erste Aussage.
»Das ist – das ist doch ganz undenkbar …!« stieß der Detektiv hervor.
Der Polizeichef winkte kühl ab. Er sprach weiter. »Ich danke. Nun noch eins: Logiert bei Ihnen ein Baron von Leichsenring mit Gemahlin?«
Pause …
»Nein? Sie müßten das doch wissen? Selbstverständlich! Ist Ihnen auch nicht bekannt, daß der Berliner Eisenmagnat Fredersdorf in Ihrem Hotel weilte?«
Wieder Pause …
»Also Sie kennen den Herrn gar nicht, nicht einmal seinen Namen? Danke. Noch ein paar Fragen, bitte! Haben Sie einen größeren Raum im ersten, zweiten oder dritten Stock, den man mit dem Fahrstuhl erreicht und der einen kleinen Wintergarten besitzt? Einen Boy in lila Livree, Tapeten in mattrot mit Gold an den Wänden?«
Und noch einmal Pause, während der dem Detektiv wieder kalter Schweiß auf die Stirne trat.
»Also nichts von alledem,« nickte der Polizeichef. »Ihr Fahrstuhl funktioniert seit zwei Tagen nicht? Es gibt keinen Wintergarten, weder oben noch unten, keinen Boy mit lila Rock. Der Ihre trägt graue Kleidung. Schön. Sie werden vielleicht später noch eingehender vernommen. Für jetzt genügt mir Ihre Aussage. Schluß.«
Der Polizeichef wandte sich achselzuckend an den Detektiv. »Sie haben selbst gehört,« meinte er. »Man hat Sie ganz einfach in ein anderes Hotel – oder irgendein Haus geführt, das nichts mit dem Hotel Terminus zu tun hat. Oder haben Sie etwa die Aufschrift deutlich beim Eingang oder im Innern gelesen?«
Der Detektiv mußte das verneinen. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Daß er bis jetzt auch nicht an eine derartige Möglichkeit gedacht hatte!
Er fuhr heftig empor. »Wenn dem so wäre, Herr Polizeichef – dann muß das verfluchte Haus gefunden werden!« rief er.
»Selbstverständlich. Ich gebe auch dazu meine sofortigen Anweisungen, mein bester Herr Altaro –«
Der Detektiv zuckte zusammen. Schon wieder dieser verfluchte Name! »Erlauben Sie …« rief er.
»Entschuldigen Sie …« lachte der Polizeichef, »mir kam da ein Name in den Mund, der nichts mit Ihrer Person zu tun hat. Ein Versehen von mir.«
Der Detektiv rieb sich die Stirne. Ein Mühlrad ging ihm durch den Kopf. Immer tiefer sank er in dieses wilde Chaos der Dinge.
Der Beamte von vorhin steckte seinen Kopf durch die leicht geöffnete Tür des Nebenzimmers.
»Die Verbindung mit Berlin,« sagte er. »Ich habe schon umgestellt. Zuerst der Herr Polizeipräsident.«
Damit verschwand er auch schon wieder.
Der Hamburger Chef begrüßte seinen Berliner Kollegen sehr höflich. Die beiden Herren kannten sich persönlich.
»Ich hätte gern eine wichtige Auskunft, Exzellenz –« er sagte deutlich Exzellenz – »über einige rätselhafte Vorfälle der letzten Tage. Sie haben eine neue Villa in der Umgebung von Berlin angekauft?«
Pause …
»Ah – der Kauf ist noch gar nicht zustande gekommen? Sehr interessant! Darf ich fragen, wem diese Villa bis dahin gehörte oder wer zur Zeit in ihr wohnt?«
Mit weit vorgeneigtem Kopfe saß der Detektiv auf dem Stuhle. Seine Halsmuskeln zuckten, jede Fiber in ihm bebte vor Erwartung.
»Die erwähnte Villa liegt im Grunewald? Und sie wird zur Zeit noch immer von dem Kommerzienrat Sandheimer bewohnt? Mit Gattin, Schwiegersohn und Töchtern? Der Kommerzienrat ist zur Zeit erkrankt und hat angeordnet, daß keinerlei Besuch angenommen wird? Danke, verehrter Herr Kollege. Noch eine Frage: Ist Ihnen ein Baron von Leichsenring bekannt?«
Wieder eine kleine Pause.
»Er wird es natürlich leugnen,« schrie es in dem Innern des Detektivs.
»Also doch!« nickte der Polizeichef. »Der Baron hat Berlin seit zwei Wochen verlassen? Er ist ins Ausland gereist mit einwandfreien Papieren? Eine junge Dame, Senta Fredersdorf, die Tochter des Eisenmagnaten, ist Ihnen doch auch bekannt, Exzellenz?«
Der Detektiv glaubte es auf seinem Stuhle nicht mehr aushalten zu können.
»Ah – die junge Dame ist seit mehreren Tagen verschwunden? Sehr eigentümlich! Ihre Organe suchen sie, besonders ein Detektiv, Herr Altaro? Ergebnislos bis jetzt? Schade! Ich werde auch hier alle Hebel in Bewegung setzen.«
»Erlauben Sie,« wollte der Detektiv einwenden, »ich heiße doch gar nicht Altaro …!«
»Dann handelt es sich um einen andern,« nickte ihm der Polizeichef zu. »Sonst vorläufig nichts von Bedeutung, Exzellenz. Danke ergebenst.«
Er legte den Hörer ab und sah den Detektiv an. »Was sagen Sie nun dazu, mein lieber Detektiv?« meinte er.
»Das alles ist mir unfaßlich, ein Rätsel – etwas, das ich nicht begreife,« schrie der Detektiv auf.
»Die Lösung ist vielleicht ganz einfach. Auch hier eine Mystifikation. Ein Doppelgängerspiel! Ich habe mir das gleich gedacht. Wie käme denn der Berliner Polizeipräsident dazu – es ist eigentlich furchtbar komisch!« Er lachte tatsächlich dabei.
Der Detektiv krampfte die Hände zusammen. Hatte man ihn denn in einen Hexenring getrieben? Da fiel ihm noch etwas ein …
»Darf ich fragen, ob sich der Kommissar Ellerböck hier befindet und ob ich den Herrn sprechen kann?« rief er.
»Ellerböck? Warten Sie – richtig, der von Berlin versetzte Kommissar! Der Beamte ist auswärts. In geheimer Mission. Ich darf mich darüber nicht weiter äußern. Was hat Ellerböck mit Ihrer Sache in Berlin zu tun?«
»Ich vergaß zu bemerken – vorhin – Ellerböck war in der Villa anwesend!« keuchte der Detektiv.
»Auch er? Das wird ja immer verrückter,« entfuhr es dem Polizeichef, der offenbar seine Geduld verlor. »Sie müssen sich da ebenso getäuscht haben wie bei den andern!«
»Ich bin meiner Sache vollkommen sicher,« warf der Detektiv trotzig ein.
Da rasselte der Apparat von neuem.
»Anschluß mit Fredersdorf in Berlin,« lächelte kalt der Polizeichef. »Sie selbst – persönlich, Herr Fredersdorf? Das ist mir sehr lieb,« fuhr er fort. »Nur ein paar Fragen. Hier ist das Polizeipräsidium Hamburg. Haben Sie Nachricht von Ihrer verschwundenen Tochter? – Nein? Nicht die geringste? So, so! Ein Herr der chilenischen Gesandtschaft – Altaro – will Ihnen beim Suchen helfen? Nur anerkennenswert! Gestatten Sie eine besondere Frage: Waren Sie verreist in der verflossenen Nacht? Waren Sie hier in Hamburg?«
Die Augen des Detektivs wollten diesem aus den Höhlen dringen. Am Ende war er doch verrückt geworden! Aber warum konnte er dann trotzdem so sicher und klar denken und überlegen?
»Sie waren zwei Tage in Schlesien und haben die letzte Nacht bei der Rückfahrt im Schlafwagen zugebracht? Das interessiert mich sehr! Also seit drei Monaten überhaupt nicht in Hamburg? Sie wissen das ganz bestimmt? – Danke! Mehr wollte ich nicht wissen. Schluß.«
Die beiden Männer saßen sich eine Weile stumm gegenüber und sahen sich an. Dann sagte der Detektiv tonlos: »Wenn ich nicht wüßte, daß alles, was ich sah und hörte, volle Wirklichkeit war, müßte ich glauben, mein Verstand funktionierte nicht mehr!«
Der Polizeichef zuckte sehr kühl die Schultern. »Ich kann Ihnen leider in dieser sonderbaren Sache keinen Rat geben. Sie hören ja selbst. Die Leute sind durchaus zuverlässig. Es liegt nicht der geringste Verdacht vor, gegen sie einzuschreiten. Aber ich will ein übriges für Sie tun. Wir werden den Versuch machen, jenes unbekannte Haus zu finden. Damit hätten wir eine erste Unterlage. Ebenso mögen die Beamten jeden Winkel in Hamburg nach der angeblich verschwundenen jungen Dame absuchen.«
»Die Dame ist tatsächlich entführt worden,« stieß der Detektiv ganz heiser hervor. »Fredersdorf bestätigt es ja selber!«
»Das ist richtig! Also beruhigen Sie sich. Es wird nichts verabsäumt. Ich möchte Ihnen den Rat geben, sich auszuruhen. Ihre Nerven sind offenbar stark angegriffen. Sobald sich irgend etwas von Belang ereignet, werden Sie schnellstens benachrichtigt. Wo wohnen Sie?«
Der Detektiv nannte sein Hotel.
»Sie können von dort ja jederzeit anrufen,« nickte der Polizeichef.
Der Detektiv erhob sich. Er fühlte, der Mann hielt ihn für krank und für nicht ganz zurechnungsfähig. Einen Klaps konnte ja auch mal ein eifriger Detektiv bekommen!
Dieser wußte, daß er jetzt vorläufig nichts mehr erreichen konnte, was ihm helfen könnte, Senta zu finden. Er mußte also abwarten, so furchtbar ihm der Gedanke auch war.
In unbeschreiblicher Gemütsverfassung verließ er den Polizeichef.