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Osterhäschen

Die kleine Elsa Thiem war acht Jahr alt und hatte als echtes Stadtkind von den Wundern und Herrlichkeiten der freien Natur noch wenig zu sehen bekommen.

Die alten, düsteren Bäume der Promenade und das Rosengärtchen vor ihrer Eltern Haus war alles, was der Frühling vor ihren Augen mit seinem lieben, grünen Hauch überkleidete.

»Komm mit, ich will dir einmal den wahren Frühling zeigen,« sagte da einmal Onkel Wendelin, der Vetter von Elschens Mutter, der von seinem Gut im Thüringischen wegen allerlei Frühjahrseinkäufen nach der Stadt gekommen war und zum Entzücken der kleinen Nichte in deren Elternhaus Wohnung genommen hatte. »Den wahren, den echten Frühling, der nur im Freien, in Wald und Flur, sein Banner wehen läßt. Komm mit. Willst du?«

Willst du? – das war bald beantwortet! Aber zum Glück durfte Elschen auch. Es waren nur noch acht Tage bis zu den Osterferien, die ihr der freundliche Schulvorsteher auf des Onkels Bitte, weil sie eben eine fleißige Schülerin war, gern schenkte. Die Mutter packte ihr ein Köfferchen voll Wäsche und Kleider, gab ihr viele liebe, gute Wünsche und Ermahnungen mit auf den Weg, und dann ging's an einem sonnigen Aprilmorgen hinaus in die lustige Welt.

Wie klopfte Elsas Herz all dem Herrlichen entgegen, das ihrer wartete, den sprossenden Feldern, dem knospenden Hochwald, der lieben, freundlichen Tante Marie, den duftenden Osterkuchen und vor allem ihrem Cousinchen, dem lustigen Flörchen, von dem sie sich nach des Onkels Beschreibung ein gar herziges Bild machte.

»Die kommt natürlich mit dem Kutscher zum Bahnhof,« prophezeite der Onkel.

Aber der Kutscher kam allein und empfing seinen Herrn mit einer traurigen Kunde. Flörchen war schwer erkrankt und lag mit Fieber und heftigen Kopfschmerzen zu Bett. Sie war beim wilden Spiel in das noch eisige Wasser eines Abzuggrabens auf der Wiese gefallen und hatte sich aufs heftigste erkältet.

Das war ein kalter Strahl auf Elsas sonnige Osterfreude! Wie anders wurde nun alles, als sie sich's gedacht! Alles war still und traurig in dem großen, fremden Haus, niemand konnte sich recht freuen, daß der Onkel das kleine Mädchen mitgebracht, und kaum fand jemand Zeit, sich ihrer anzunehmen, ihr ein Bett zurechtzumachen und ihr in Haus und Garten Bescheid zu sagen. So saß sie einen Tag lang allein in dem großen Wohnzimmer, blätterte in Flörchens Bilderbüchern, die man ihr gegeben, und sehnte sich im stillen recht schmerzlich nach Haus.

Zum Glück wurde am andern Tage alles besser. Die schlimmste Gefahr war für Flörchen vorbei. Sie hatte weniger Fieber, und kaum hörte sie von den Eltern, daß Elschen da sei, als sie mit leiser Stimme dringend und flehentlich nach ihr verlangte.

Dem kleinen Stadtkind ging gleich das ganze Herz auf beim Anblick des holden, blassen Gesichtchens, das ihr aus den schneeigen Kissen so matt und doch so herzig entgegenlächelte. Vom ersten Augenblick an hatte sie das schöne Waldprinzeßchen über alle Beschreibung lieb. Sie wurde nicht müde, an ihrem Bett zu sitzen und, wenn sie nicht mit ihr reden durfte, sie wenigstens anzusehen.

Zum Herumstreifen im Freien hatte sie alle Lust verloren, obgleich die Märzsonne goldhell durch die bunten Glasfenster der Schlafstube schien und der Gärtner täglich Veilchen und Schneeglöckchen aus dem Park heraufschickte.

So kam Ostern heran, und Elschen hatte den schönen Park, in dem der Frühling sein Wesen trieb, kaum einmal flüchtig durchstreift. Flörchen durfte noch nicht aufstehen, hatte noch immer Fieber und Kopfweh, und Elsa bestand treulich darauf, ihre Gefangenschaft zu teilen. Die kleine Patientin plauderte nun schon so viel, als ihr Mütterchen nur zuließ, und erzählte dem Bäschen von allen ihren Lieblingen, den jungen Pferden und Kälbern, den Hühnern und Tauben im Hof.

»Auch einen Hasen hab' ich zum Freund,« sagte sie einmal – »oben im Park zwischen den Büschen wohnt er; ich weiß es ganz genau, wenn's Papa auch nicht glauben mag. Ich hab' ihn im Winter oft gesehen, er tut gar nicht scheu und macht Männchen, wenn ich von ferne stehe –«

»Närrchen,« meinte ihr Vater, »wer dir das glaubt!«

Sie aber blieb fest dabei, und schließlich gaben die Eltern halb ungläubig zu, daß wohl ein armer Langohr, von Hunger und der eisigen Winterkälte gequält, die Scheu vor den Menschen vergessen und ein Unterkommen in der Nähe des Gutes und dessen Kohlgärten gesucht haben könne.

Leider sollte Flörchens Behauptung auf ganz traurige Weise noch bestätigt werden.

Am nächsten Morgen war es, als ein Gewirr von fragenden und verwunderten Stimmen vom Hausflur in das Krankenzimmer hereinschallte.

»Sieh doch, was es gibt,« bat Flörchen ihre Cousine, mit der sie gerade allein war. Elschen lief, um hinaus zu schauen, prallte aber erschrocken zurück, als sie den Gärtnerburschen, von der Köchin und dem Hausmädchen umringt, mit einem blutigen, zerschossenen Hasen in der Hand vor der Tür stehen sah.

»Ich geh' hinein und zeig' ihn dem kleinen Fräulein,« rief er.

»Nein, sie erschrickt!« schrie Elschen dagegen. Auch die Mägde wollten von der Überraschung nichts wissen. Aber Flörchen hatte von der Unterredung schon genug gehört, und als sie sich nun mit einem lustigen: »Was gibt's denn?« aus der Ferne hören ließ, glaubte der Bursch im besten Rechte zu sein und trug das starre, blutende Tier an Else vorbei der Kleinen ins Krankengemach.

»Sieh nur, Flörchen, diesen Hauptkerl habe ich oben im Park geschossen!« Wie das arme Ding erschrak! Mit einem lauten Aufschrei sank sie in die Kissen zurück. »Meinen alten Bekannten!« jammerte sie. »Wie schlecht, wie abscheulich von Ihnen! Fort, fort damit! Ich will ihn nicht sehen! Ich kann ihn nicht sehen!« – Sie war kaum zu trösten. Der Bursche, der seine Überraschung so verunglückt sah, drückte sich beschämt zur Seite, als Flörchens Eltern auf das Jammergeschrei von verschiedenen Seiten herbeigeeilt kamen. Natürlich ließ es Onkel Wendelin an einer tüchtigen Strafpredigt über das vorwitzige Jägerkunststück und das noch vorwitzigere Eindringen in des kranken Kindes Schlafkammer auch nicht fehlen.

»Weißt du Esel nicht, daß jetzt überhaupt keine Hasen geschossen werden dürfen? Schreib dir's hinter deine eignen langen Ohren, sei so gut!« hieß es am Schluß. Mit Tränen in den Augen zog sich der arme Kerl vom Schauplatz seiner Schande zurück.

»Wenn Flörchen sich nur beruhigen wollte,« seufzte die Mutter. Aber die Kleine nahm die Sache über alle Maßen ernst. Sie schluchzte und klagte immerzu, das Fieber, das schon gewichen war, stellte sich wieder ein, sie mochte nichts essen, und schließlich waren alle von Herzen froh, als sie die verweinten Augen schloß und in einen tiefen, wenn auch unruhigen Schlaf verfiel.

Bis spät abends schlief sie fort. Die strahlende Märzsonne ging mit gelbem, klarem Schein am Himmel nieder, und über den hohen Bäumen tauchte im blassen, reinen Himmelsblau die Sichel des Mondes auf. Dazu läuteten die Abendglocken vom Dorfe her friedlich und feierlich das Fest der Auferstehung ein.

»Es wird eine kalte Osternacht,« sagte der Onkel, der lange am Fenster stand, »klar und kalt! Wehe den armen jungen Blüten!« Gerade bei diesen Worten, die ein bißchen laut gesprochen wurden, wachte Flörchen auf. Ihre Bäckchen glühten, und die dunkeln Augen glänzten ganz wunderbar.

»Eben war ja der Hase hier, lebendig und heil,« sagte sie. »Habt ihr ihn nicht gesehen?«

»Vergiß doch den Hasen, Kind,« bat Tante Marie. »Was hast du denn Närrisches geträumt?«

»Nein, nicht geträumt! Er war da. Er hat sogar gesprochen: Er zöge aus dem Park fort, hier könne er nicht länger hausen. Im Gebüsch in seinem Nest ließe er drei Ostereier für mich zurück.«

»Kind, Kind, wie du fieberst,« klagte die Tante. Flörchen aber ließ sich nicht irre machen.

»Ach, seht doch einmal im Gebüsch nach,« bat sie. »Ihr werdet gewiß die Eier finden.«

»Morgen!« entschied Onkel Wendelin. »Jetzt lieg still, Schatz, und vergiß die dumme Hasengeschichte!«

Leise weinend gab sie sich zur Ruhe. »Bitte, seht doch nach,« bat sie, schon halb im Schlaf, noch einmal.

Nun mußte auch Elschen ihr Bett im Nebenzimmer aufsuchen. Onkel und Tante gingen zur Ruhe, und bald hörte man nichts mehr im großen, stillen Haus als das Ticktack der Wanduhr und Flörchens tiefe Atemzüge.

Elsa konnte lange nicht schlafen; immer wieder mußte sie an Flörchens Traumerzählung denken. Endlich aber nahm der Schlummer auch sie gefangen. Doch gegen alle Gewohnheit wachte sie mitten in der Nacht wieder auf. Flörchens Stimme hatte sie geweckt.

»Bitte, bitte, seht doch nach den Ostereiern,« klang es weinend an ihr Ohr. Drei- oder viermal rief die kleine Kranke dieselben Worte. Vater und Mutter standen an ihrem Bett und baten, doch ruhig zu sein und still und schön zu schlafen.

Elschen aber kam plötzlich auf einen lustigen Gedanken. Niemand konnte es hören, wenn sie sich jetzt leise anzog und aus der Hintertür, die sich leicht aufschließen ließ, ins Freie schlich.

Warum sollte so ein Osterwunder nicht möglich sein? Sie hatte so viel wundersame Geschichten in ihren Märchenbüchern gelesen, und der Wunsch, auch einmal etwas Außerordentliches und Märchenhaftes zu erleben, war schon seit Jahren in ihr wach. Heute kam nun noch die Sehnsucht dazu, dem geliebten Flörchen vielleicht eine große, unbeschreibliche Freude zu machen.

Lebhaft und schnell entschlossen, wie sie war, führte sie ihren Vorsatz ohne langes Besinnen aus, schlüpfte in ihre Kleider und eilte leise über den langen Flur und dann durch das Hauspförtchen ins Freie hinaus.

Scharfkalte Luft wehte ihr entgegen, und über den Rasenplätzen lag, wie eine feine Spitzendecke, zarter Reif gebreitet, der im blassen Mondschein wie Silber glitzerte. Fröstelnd, aber doch unverzagt, rannte Elschen über den großen Grasplatz der Höhe des Parkes zu, wo in einer Ulmenlichtung das niedere Buschwerk sich befinden mußte, das ihr Flörchen vom Kammerfenster aus als Wohnung ihres armen Freundes bezeichnet hatte.

Voll zitternder Erwartung begann Elschen hier nach dem Hasennestchen zu suchen. Hätte sie ein paar goldene oder demantene Eier gefunden, sie wäre wohl kaum übermäßig erstaunt gewesen. Aber sie fand lange, lange nichts, obgleich der Mondschein ihr fast taghell leuchtete.

Endlich zog ein Busch Schneeglöckchen ihre Blicke auf eine moosige Vertiefung, sie kniete hin, vorerst, um die weißen Blümchen zu pflücken – aber, o liebliches Wunder! – Dies weiche Mooslager – es war wahrhaftig ein Nest, – und wahrhaftig, da lag etwas: zwei eirunde, dunkle, seltsame Dinger.

»Ostereier!« jubelte Elsa und griff nach den braunen Gegenständen. Sie waren weich und seidenfein – nein, Eier waren es nicht – sie bewegten sich leis in ihrer Hand, eine entzückende Ahnung ging ihr auf, und der helle Mondstrahl bestätigte sie. Zwei junge Häschen hielt sie in der Hand, kugelrund und flockig, zwei arme, verlassene Waisenkinder, die ohne sie erfroren wären in dieser eiskalten Nacht.

Atemlos ward nun der Weg nach dem Haus zurückgelegt. Eben hatten Onkel und Tante Elschens Fortsein bemerkt. Welch ein Fragen und Staunen gab es nun, als sie, glühend vor Entzücken, mit ihrer Osterüberraschung ins Zimmer trat. Flörchens Jubel kannte gar keine Grenzen.

»Seht, ich habe doch nicht geträumt,« rief sie immer wieder.

»Geträumt wohl, aber es war ein wunderbarer Traum! Die armen Dinger wären verhungert und erfroren, wenn Elschen sie nicht gerettet hätte,« sagte Onkel Wendelin gerührt.

Mit den Häschen vor sich schlief Flörchen sanft und selig ein.

Die beiden Kinder fütterten die kleinen Dinger mit unsäglicher Mühe groß. Die Freude darüber half gewiß ein wenig mit, daß Flörchen nun bald gesundete. Elschen hat noch eine köstliche Osterwoche im schönen Thüringen verlebt. Der Frühling zog mit aller Pracht ins Land, so wundervoll, daß sie es nie vergessen wird.

Aber die liebste Erinnerung aus jener Zeit sind ihr doch die »Osterhäschen«.

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