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Seit Wochen freute ich mich auf jenen in Aussicht stehenden Tag, an dem ich zum erstenmal eine Jagd auf Waschbären (»racoons«) mitmachen sollte. Ein Fell aus der Beute war mir zugesagt worden. Endlich bekam ich von meinem Freunde den Bescheid, daß die Jagd am folgenden Tage stattfinde und ich mich für sie rüsten möge.
An die Riesenstädte des Ostens der Vereinigten Staaten grenzen ungeheuere, teilweise noch ganz unkultivierte Landstriche, die der Expreß in atemraubender Eile durchsaust. Neben den Schienensträngen laufen fußdicke Betonstraßen, Automobile jagen mit dem Dampfroß um die Wette und Entfernungen von hunderten Meilen flößen dem verwegenen »boy« nicht den geringsten Respekt ein. Tagereisen werden mit dem Auto leicht bewältigt. Mitten durch die wunderbarste Urnatur, durch endlose Waldungen, auf unkrautüberwuchertem Heideboden, an Seen vorüber und über reißende Flüsse hinweg führt die glatte Betonstraße. Ein dicker weißer oder schwarzer Strich teilt sie in zwei Hälften. Diese deutlich sichtbare Grenze verhindert den Zusammenprall von einander begegnenden Wagen.
Mit einem prachtvollen Sicherheitsgefühl geht die Autoreise vonstatten. Durch das Fenster der komfortablen Limousine blicken wir in die stetig wechselnde Landschaft. An Ortschaften flitzen wir vorbei, ohne das Tempo zu mäßigen.
Die kleineren und mittleren Städte tragen noch die Merkmale einstiger Siedlungen unverkennbar an sich. Ihre Häuser bestehen vorwiegend aus Holz und sind alle nach dem gleichen Schema gebaut. Die Einförmigkeit solcher Holzstädte wird nur durch Parkanlagen gemildert und mitunter auch durch massive steinerne Schulbauten, neben denen die Kirchen meist nur ein bescheidenes hölzernes Dasein führen.
Überall wird gebaut. Aus den Urwäldern des Westens kommen noch immer die edlen Hölzer, die als Baumaterial Verwendung finden, obgleich Einsichtige vor solcher Verschwendung kostbaren, nicht mehr nachschaffbaren Gutes warnen. Aber die Baumeister sind an die Arbeit mit dem Holz gewöhnt und haben es in der Herstellung von Häusern aus Pfosten und Brettern zu erstaunlicher Fertigkeit gebracht. Und die Bewohner geben sich mit dem dünnwandigen und daher im Sommer heißen und im Winter kalten Heim, das aber geräumig und praktisch eingerichtet ist, zufrieden. – –
Wir durchqueren noch einen ausgedehnten, hügeligen Laubwald, dann biegt mein Freund, der, wie jeder hierzulande, seinen Wagen selbst lenkt, rechts ab. Ein Gehöft, anders als die anderen, einem europäischen Bauernhaus ähnlich, erscheint an einem Seitenweg.
Wir haben den Sammelort für die bevorstehende Jagd erreicht.
Die Jagdgesellschaft ist noch nicht vollzählig versammelt. Es fehlen die Hauptteilnehmer: Die Berufsjäger mit ihren auf Waschbären eigens geschulten Hunden. Deshalb wird inzwischen von einigen besonders Eifrigen in den nahen Sümpfen auf Schnepfen gejagt.
Von der weiten Fahrt ermüdet, schließe ich mich nicht an. Wir Zurückgebliebenen sehen uns, um die Stunden bis zur Nacht zu füllen, nach anderer Beschäftigung um. Einer zieht die Karten aus der Tasche, er findet Gesinnungsgenossen – und sofort ist eine Kartenpartie im Gang. Mich fordert der Sohn meines Freundes auf, mit ihm eine Kahnfahrt auf einem jener herrlichen Seen (»indian lakes«), die es hier so überaus zahlreich gibt, zu unternehmen.
Mitten in unberührter Natur und doch in nächster Nähe der Autostraße schlängelt sich durch Sumpf und Busch wohl eine Meile weit ein schmaler, schillernder See. An seinen Ufern recken mächtige Bäume ihre grotesken Formen gegen den blassen Abendhimmel. Das Wasser des Sees ist dunkel, an manchen Stellen schwarz und überall tief. In einzelnen Buchten, in welche das Astwerk hineinhängt, wuchert Schilf und schwimmen die großen Blätter der Wasserblumen. Aus dem Dickicht fliehen beim Nahen des Kahnes zahlreiche Wildenten mit heftigem Flügelschlag, um sich in einiger Entfernung wieder niederzulassen.
Wir rudern geruhsam und blicken träumerisch in diese Wunderwelt. Ich suche in der Erinnerung vergeblich nach ähnlicher Romantik.
Im Westen steht die Sonnenkugel nur mehr wenig über dem Buschwerk. Der Wald ist noch in die Flut des roten Lichtes getaucht ... plötzlich verschwindet die Sonne und Finsternis liegt über dem See. Dunkel wie das Wasser ist nun auch die Luft. Ohne Übergang bricht die Nacht herein.
Wir rudern zurück, noch erfüllt von dem einzigartigen Reiz der abendlichen Landschaft. Jene lautlose Stille, die nur durch das Krächzen der Vögel, durch das Plätschern des Wassers und durch den eigenen Atem unterbrochen, aber nicht gestört wird, bleibt um uns. Schweigsam landen wir das Boot, binden es an einen Pfahl und gehen zu dem Hause, um uns mit den anderen für die bevorstehende Jagd zu vereinigen.
Die Schnepfenjäger sind inzwischen mit einiger Beute aus den Sümpfen zurückgekehrt und sitzen mit den Kartenspielern in der großen, niedrigen Stube des Hauses beim fröhlichen Schmaus. Draußen zerren die Hunde an der Leine, prächtige, temperamentvolle Tiere, die merkbar zum Aufbruch drängen. Aber ihre Besitzer sehen besorgt in den Nachthimmel, denn die Wolken beginnen abzuziehen, Sterne verbreiten Helligkeit und der Mond macht Miene, sich in seinem ganzen Umfang zu zeigen. Die Luft ist warm und trocken; nun noch eine helle Nacht – die Aussicht auf Erfolg ist nicht groß.
Es entwickelt sich ein heiteres Gespräch, das durch den schlagfertigen Witz der Amerikaner bis zum Übermut gesteigert wird. Mit erstaunlicher Präzision treffen sie stets ins Schwarze, im Beruf wie im Vergnügen. Sie sind frei von jeder Sentimentalität, sie lügen nicht und Mißtrauen ist ihnen fremd. Sie alle sind Arbeiter im besten Sinne, gleichviel, ob sie Arbeit nehmen, Arbeit geben oder allein für sich und andere schaffen. Sie haben keine Vorurteile (höchstens gegen Europa, auch, ja besonders, wenn sie dort geboren sind), Neid und Mißgunst sind geringer entwickelt als bei uns und ein Gefühl der Überhebung kennen sie kaum. Sie sind gastfreundlich und als Freunde von einer wunderbaren Aufopferungswilligkeit.
Alle diese schönen Seiten eines ehrlichen Charakters offenbaren sich am deutlichsten beim sportlichen Beisammensein in der Natur. Hier gibt sich der Amerikaner, fern von allen Förmlichkeiten, die er so sehr verabscheut, völlig dem Genuß der Freiheit hin. Und je mehr ihm der Alltag die Freiheit, die ja auch in Amerika schon der Geschichte angehört, eindämmt, umso stärker ist sein Drang nach den Wäldern, wo er noch sein Zelt aufschlagen kann und von einer wundersamen Vergangenheit träumen – – –
Um die neunte Stunde ziehen wir los. Unser Weg führt mitten in das Waldgebiet durch eine schmale Schneise. Der Mond beleuchtet den Weg, sodaß sich Lampen erübrigen.
Die Hunde werden losgelassen, sie stürmen in das Dickicht und bald geben sie Laut, zum Zeichen, daß sie bereits eine Fährte aufgenommen haben. Aber das Bellen klingt schwach und wenig zuversichtlich. Mein Vordermann wendet sich nach mir um und sagt ganz laut: »Alte Spur. Wenn die Hunde frische Fährten finden, klingt es anders!« Ich frage leise, ob es vorkomme, daß sich die Hunde zu weit von den Jägern entfernen. Er ruft, – seine kräftige Stimme erweckt in mir Staunen und Besorgnis, – daß die Hunde ausgezeichnet geschult seien und den Kontakt mit ihren Herren niemals verlieren. Schließlich kann ich die Frage nicht unterdrücken, warum man sich nicht ruhig verhalte, ob man denn nicht fürchte, das Wild zu vertreiben.
Meine naive Warnung gibt Anlaß zu munteren Glossen. »Wir jagen nicht auf Hasen,« sagt einer und lacht ganz ungeniert.
Ich bleibe etwas hinter der Gruppe zurück. Vom Sturm oder Alter gefällte Baumriesen versperren den Weg und erschweren mir das Vorwärtskommen. Meine europäische Ausrüstung erweist sich als unpraktisch.
Endlich geben die Hunde kräftig Laut, die Jagdgesellschaft verharrt eine Zeitlang lauschend und ich hole den Vorsprung der anderen wieder ein. Sachlich erklärt einer: »Die Hunde nehmen frische Fährte auf.«
Während Vermutungen ausgetauscht werden und die verbotene Whiskyflasche zirkuliert, beginnen die Hunde plötzlich wütend zu kläffen. »Ah ... endlich haben sie einen Bär!« ruft ein Jäger, »aufgepaßt, ob es ihnen gelingen wird, ihn zu stellen!«
Aber bald geht das Bellen in ein klagendes Heulen über, das nun einen Augenblick lang von ein- und derselben Stelle schallt. »Der Bär entkam in den See,« sagt wieder jemand, diesmal ärgerlich.
Ich erfahre: Wenn es dem Waschbär gelingt, das Wasser zu erreichen, folgen die Hunde nicht, denn im Wasser ist er der Überlegene. Aber auch die Fährte spüren sie selten wieder auf, weil der Bär als geschickter Schwimmer die Richtung gerne wechselt und dort zu landen pflegt, wo ihn die Hunde am wenigsten vermuten. Gelingt es ihnen aber irgendwie, den Verfolgten im Walde zu stellen, dann flüchtet er auf einen Baum und wird von den hinzu eilenden Jägern durch Scheinwerfer geblendet und schließlich mit Pistolenschüssen heruntergeholt.
Tatsächlich ist unser Bär – dessen mir versprochenes Fell ich im Geiste schon als Zierde und Wärmespender unter meinem Schreibtisch im fernen Wien sah – den Hunden in einen der großen Waldseen entkommen und wir setzen die Jagd in der festen Zuversicht auf spätere reiche Beute fort.
Nach stundenlangem Marsch beschließen wir, bei einer verlassenen Farm zu lagern und ein Feuer zu entzünden, denn es ist empfindlich kalt geworden und der Whisky allein genügt doch nicht zum Ausgleich der Temperaturen. Überdies haben die vier zur Partie gehörenden Sachsen, denen ein Lebensalter Amerika weder ihren Dialekt noch ihren Durst abzugewöhnen vermochte, dafür gesorgt, daß der Vorrat sehr gering geworden ist. Nun wird herumliegendes Holz zusammengesucht und bald brennt unser Lagerfeuer lichterloh. Groß ist mein Entsetzen, als ich bemerke, daß seltene Hölzer verbrannt werden – sie liegen eben in der Nähe; und in Amerika pflegt das Nächstliegende immer zuerst daranzukommen.
Wir haben eine lustige Unterhaltung in Gang gebracht. Wäre nicht der fast taghelle Sternenhimmel und die abenteuerliche Umgebung – wahrhaftig, ich könnte mir vorstellen, auf einer Jagd in den niederösterreichischen oder schlesischen Wäldern zu sein: so ähnlich klingt trotz des sächsisch-englisch-deutschen Kauderwelsches das amerikanische dem europäischen Jägerlatein; wenn man auch nicht von Rebhühnern und Hasen, sondern von »skunks« und »racoons« spricht. Die Hoffnung, meine Füße künftig in das weiche Fell eines Waschbären vergraben zu können, wenn ich in der Heimat nächtlich an meinem Schreibtisch sitze, wird immer geringer.
Und wirklich bleibt jenes mysteriöse Zotteltier, das in die Fluten eines »indian lake« entschlüpfte, der einzige Vertreter einer Gattung, die ich nach wie vor nur aus den zoologischen Gärten kenne.