Johannes Scherr
Größenwahn
Johannes Scherr

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Das rote Quartal.
(März – Mai 1871.)

Vorspruch.

Aschenbrödel Wahrheit muß, schlecht genährt und schlecht gekleidet, im Hause der Menschheit schwere Arbeit verrichten, während Lüge und Täuschung, in Sammet und Seide gehüllt, mit Schminke und Juwelen bedeckt, in der Welt die großen Damen spielen, beschmeichelt, umworben, geliebkost. In der Dichtung kommt zuweilen das arme Aschenbrödel schließlich zu Ehren, in der Wirklichkeit niemals. Denn wenn zuzeiten das Feuer der Tatsachen den Menschen allzu fühlbar auf den Nägeln brennt, beeilen sie sich, die Kühlsalbe der Illusion darauf zu streichen, um ja nicht zum vollen Bewußtsein der Wahrheit zu kommen. Sie wollen nicht belehrt, sie wollen nur belogen sein.

Daher die traurig geringe Wirksamkeit der strengen Lehrerin Geschichte und daher auch die große Volksbeliebtheit der Fabuliererin Legende, welche sich dem Täuschungsbedürfnisse der Menschen gemäß herauszuschminken und auszustaffieren versteht.

So hat denn auch die Geschichte der großen französischen Staatsumwälzung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nur geringe Lehrkraft entwickelt, während die Legende der Revolution ungeheure Wirkung tat und bis zur Stunde noch tut.

Der erstgeborene Wechselbalg dieser Legende ist der französische Größenwahn.

Zwar hatte, wie jedermann weiß, die Beeiferung, womit vom Mittelalter ab Europa den französischen Moden huldigte und nachlebte, die im keltisch-romanischen Wesen wurzelnde Nationaleitelkeit der Franzosen schon vordem sattsam gestärkt und gehätschelt. Seit der Zeit Ludwigs XIV. vollends war die gesamte vornehme Bildung in unserem Erdteile zur mehr oder weniger tölpischen Äffin der französischen geworden, so stupid, so niederträchtig sich gebarend, daß jeder beliebige französische Friseur oder Konfiseur außerhalb Frankreichs als Kulturträger und Zivilisator sich fühlen konnte und durfte. Aber das volle Grande-Nation-Bewußtsein, der hoch- und höchstgradig-größenwahnsinnige Dünkel und Übermut überkam die Franzosen doch erst dann, als sie wahrnahmen, daß ihre Nachbarn einfältig genug waren, zu wähnen, sie, die Franzosen, brächten ihnen auf der Bajonnette Spitzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, während die Bringer dieser schönen Sachen in Wahrheit die Nachbarbrüder brandschatzten, ausraubten und schließlich annektierten und tyrannisierten.

Ja – wundersam zu sagen! – sogar über diese brutale Tatsache trug es die gleißende Legende von der befreienden und zivilisierenden Mission Frankreichs davon.

Also konnte es gar nicht fehlen, daß sich im französischen Nationalgehirne die Wahnidee fixierte, Frankreich sei der Mittelpunkt der Welt, Paris aber als Mittelpunkt Frankreichs sei die »heilige Stadt«, sei die »Weltleuchte«, sei »Kopf und Herz der Menschheit«. Demzufolge bezweifelte kein richtiger Franzose, daß das Universum eigentlich an der Seine läge, und daß nur Frankreich das Genie und das Recht hätte, zu denken, zu wollen und zu befehlen.

Wissende werden bezeugen, daß dieser Satz keine Übertreibung enthalte; Unwissende mögen die Bestätigung desselben in den Büchern nachsuchen, welche Legendarier wie Thiers, Blanc und Michelet über die französische Revolution verfaßt haben. Nicht das wirklich Heilsame, nicht das wahrhaft Große, was die Revolution gewollt und vollbracht hat, wird in diesen Büchern nach Gebühr betont und gefeiert, nein! wohl aber die größenwahnsinnige Einbildung vom Privilegium und Monopol Frankreichs, stets »an der Spitze der Zivilisation zu marschieren«. Im übrigen ist es ja bloß gerecht, zu sagen, daß nicht etwa die Zeitgenossen, die Augen- und Ohrenzeugen, die Mithandelnden und Mitleidenden der Revolution die unheilvolle Legende derselben aufgebracht haben. Man lese nur die zeitgenössischen Berichte von Mercier, Beaulieu, Toulangeon, Lacretelle, Jullien, Prudhomme, Nodier und Anne Louise Germaine de Staël. Ursprung und Wachstum der revolutionären Legende ging im Schoße der liberalen Opposition vor sich, welche dem restaurierten Bourbonentume den Krieg machte. Einer der publizistischen Leiter dieser Opposition, Mignet, hat in seiner Geschichte der Revolution der liberalen Mythenbildnerei den Stempel seiner Autorität aufgedrückt. Auf der von ihm eröffneten Bahn schritten die oben namhaft gemachten Mythenschreiber immer weiter und kecker vor. Die also großgefütterte Legende der Revolution hat dann, verbunden mit der durch Ségur, Béranger, Thiers und andere aufgeschwindelten Legende des Napoleonismus, dem französischen Liberalismus jahrelang als ein vielgehandhabtes und vielwirksames Oppositionsmittel gedient.

Aber die Parteien, welche hinter der liberalen sich erhoben, zogen aus den Prämissen der Revolutionsmythe andere Schlußfolgerungen, als die parlamentarisch-konstitutionelle Opposition wollte und wünschte. Die Radikalen, die orthodoxen Republikaner schnitten sich aus dem Legendenbuch der Revolution das Kapitel vom Jahre 1793 als den Lieblingsgegenstand ihrer Verehrung und Nachahmungsbegierde heraus. Sie wähnten demzufolge, vom Mittelpunkt der Welt, von Paris aus, mittels des Evangeliums Sankti Jakobi ganz Europa revolutionieren und rupublikanisieren zu können, – das sei ihre Mission. Den verschiedenen Sekten der Sozialisten und Kommunisten, welche Saint-Simon, Fourier, Cabet und Blanc herangezogen hatten, genügte aber das bei weitem nicht. Sie lasen aus der revolutionären Legende noch ganz anderes heraus. Nämlich, daß alles Bestehende nur wert sei, vernichtet zu werden, daß demnach die europäische Gesellschaft zu einem ungeheuren Trümmerhaufen zusammengeworfen werden müsse, damit sodann auf dem mittels der absoluten Gleichheitswalze abgeplatteten Ruinenfeld ein sozialer Neubau errichtet werden könne, in welchem es keinen Gott und keinen König, keinen Staat und keine Kirche, kein Eigentum und keine Ehe, keine Familie und kein Erbrecht, keinen Reichtum und keine Armut mehr gebe.

Noch auf einen weiteren Unterschied ist aufmerksam zu machen. Die radikalen Politiker hielten das Dogma des französischen Größenwahns stramm aufrecht, so stramm, daß Republikaner von der Sorte der Quinet und Gambetta noch unmittelbar vor 1870 der Überzeugung waren, vor Begründung der republikanischen Völkersolidarität müßte noch ein Krieg geführt werden, um das ganze linke Rheinufer für Frankreich zu erobern. Das sollte dann allerdings, meinten die Herren, der letzte Krieg sein. Die französischen Sozialisten und Kommunisten dagegen gaben sich mitunter ernsthafte Mühe, mit allen übrigen »verfaulten« Standpunkten auch den des größenwahnsinnigen Chauvinismus zu überwinden. Wenn man darauf ausgeht, die ganze Menschheit in einen Brei zusammenzurühren, muß man doch anstandshalber ein bißchen kosmopolitisch schillern. Sehr wahrscheinlich behielten sich die französischen Sozialisten und Kommunisten im geheimen das Privilegium vor, in diesem Menschheitsbrei das Gewürze vorzustellen, aber öffentlich taten sie mehr und mehr weltbürgerlich, namentlich dann, als, von 1864 an, die sozialistischen Sekten Frankreichs bewußt oder unbewußt den Losungen gehorchten, welche der »Generalrat« oder vielmehr das »Dirigierende Komitee« des »Internationalen Arbeiterbundes« von London ausgehen ließ.

Daß, warum und wie Napoleon III, der Internationale und des Sozialismus als Hilfemittel seiner Politik sich bediente, ist allbekannt. Ebenso, daß diese von seiten des zweiten Empire empfangene Gunst die sozialistisch-internationale Propaganda in Paris außerordentlich erleichterte und erfolgreich machte. Bei dem Sturze des Kaiserreiches fühlten sich demzufolge die »Roten« – diese Farbebezeichnung will ich fürder der Wortkürze halber für die sozialistisch-kommunistisch-internationale Partei gebrauchen – stark genug, handelnd auf den Plan zu treten, um sich der Herrschaft über Paris und damit selbstverständlich über Frankreich zu bemächtigen. Aber es war doch noch etwas zu früh. Die Belagerung von Paris durch die Deutschen mußte erst noch vorangehen, um die blau-weiß-rote Mehrheit der Pariser auf jene Stufe von Begriffeverwirrung und Stumpfsinn herabzudrücken, auf welcher angelangt sie die Tyrannei der roten Minderheit sich aufhalsen ließ.

Für diese Minderheit lagen die Sachen nach dem Abschlüsse des Waffenstillstandes und des Präliminarfriedens von Versailles außerordentlich günstig. Als wäre er ihr treufleißiger Mandatar gewesen, hatte Jules Favre gegenüber den Wünschen und Warnungen der deutschen Unterhändler es durchgesetzt, daß die Pariser Nationalgarden ihre Waffen behalten durften. Die Mehrzahl dieser Bürgerwehr bestand aber im März von 1871 aus revolutionären Elementen, welche das während der Belagerung der Stadt durch die Deutschen mehr oder weniger ernst betriebene Soldatenspiel um so lieber weiterspielen wollten, als damit der Weiterbezug des seit dem September von 1870 gewohnt und liebgewordenen Tagessoldes von anderthalb Franken selbstverständlich verbunden sein müßte, während Weib und Kind ihren Lebensunterhalt aus den Staatsmagazinen bezögen. So verfügten denn die Roten, nachdem sie der Gewalt sich bemächtigt hatten, über eine leidlich organisierte Streitmacht von zweihundertfünfzig mehr oder weniger starken Bataillonen, deren zuverlässigste aus den Wehrmännern der Faubourgs Montmartre, Billette, Belleville, Menilmontant, Montrouge, La Chapelle und Glacière zusammengesetzt waren.

Wenn diese seit Monaten aller Arbeit und Häuslichkeit entwöhnten, von allen Begehrlichkeiten, wie der Müßiggang sie ausbrütet, erfüllten, bildungslosen, leichtgläubigen, durch die Wahnorakel verrückter oder gaunerischer Klubredner bis zum Irrsinn verhetzten Menschen sich zählten; wenn sie, wie sie ja taten, im Gambetta-Bulletinsstil einander vorlogen, Frankreich und Paris seien nicht besiegt, sondern nur an die »Prussiens« verraten und verkauft worden, verraten und verkauft von den Imperialisten, Legitimisten, Orleanisten und Bourgeoisrepublikanern, von den Badinguet, Bazaine, Thiers und Favre; wenn sie phantasierten, die alte Gesellschaft habe augenscheinlich einen ehrlosen Bankerott gemacht, die große Liquidation sei demnach vorzunehmen, um eine neue, die rote, die atheistische und die kommunistische Gesellschaftsfirma zu gründen, den Vierten-Stand-Staat, die proletarische Kommune; wenn zu diesen heimischen Elementen und Motiven eines radikalen Umsturzes noch die »katilinarischen Existenzen« hinzukamen, welche aus allen Ecken und Enden der Erde in der prächtigen Weltkloake Paris zusammenflössen, alle ihre Laster und Leiden, ihre Illusionen und Enttäuschungen, ihre Gewissensbisse und Rachegefühle, ihre Begierden und Hoffnungen in diese ohnehin schon von höllischem Schwefeldunst erfüllte Atmosphäre ausatmend: – ja, so war es kein Wunder, sondern nur die natürliche Wirkung natürlicher Ursachen, daß die Wetterwolke in das furchtbare Märzgewitter ausbarst, und entsprach es der Logik der Sachlage, daß der französische Größenwahn sich vermaß, Paris, Frankreich, Europa, die Welt umzuwandeln und die Menschheit unter der roten Fahne marschieren zu machen. Mit alledem ist das Register der Ursachen vom weltgeschichtlichen Märzkrach des Jahres 1871 noch nicht erschöpft. Man muß in dieses Register noch einstellen das Mißtrauen, den Zorn und Ingrimm, womit Tausende, Hunderttausende von Parisern, die keineswegs zu den Roten gehörten, auf die in Versailles tagende Nationalversammlung blickten, welche »Bauern- und Krautjunkerversammlung« nicht allein in ihrer entschiedenen Mehrheit royalistisch gesinnt war, sondern auch das »Verbrechen«, ja den »Wahnsinn« verübt hatte, Paris, die »heilige Stadt«, das »Zentrum des Weltalls«, die »Weltleuchte« mit dem Politischen Interdikt zu belegen. Sodann ist mit Betonung auf das vom Reichskanzler Bismarck im Deutschen Reichstage gesprochene Flügelwort zu verweisen: »In der Pariser Kommune war ein Kern von Vernunft, nämlich das Verlangen nach einer Gemeindeordnung, wie solche in Deutschland existiert.« Monsieur de Mazade begeht einen absichtlichen oder unabsichtlichen Irrtum, wenn er in seinem Buche »La guerre de France« (II, 461) dieses Wort als eine »plaisanterie teutoune« bezeichnet. Der Reichskanzler meinte es ernst, und seine Äußerung signalisierte nur eine geschichtliche Tatsache, diese nämlich, daß unter den Motiven der Insurrektion vom März 1871 ganz unzweifelhaft auch das Verlangen sich befand, die unheilvollen Fesseln einer despotischen, aufsaugenden Zentralisation, wie das Ancien Régime, der Konvent und Napoleon sie Frankreich auferlegt hatten, endlich zu brechen und der erdrückenden Staatsallmacht gegenüber ein selbständigeres Gemeindeleben zu pflanzen und zu pflegen. Leider ist sofort beizufügen, daß aus diesem vernünftigen Gedankenkerne nur die brutale Unvernunft der Tatsache hervorwuchs, daß die »Bürger«-Kommunisten von 1871 es für selbstverständlich ansahen, die »Kommune« Paris müßte und würde Frankreich ebenso souverän und despotisch beherrschen, wie die Hauptstadt zur Zeit Ludwigs XIV., zur Zeit des Konvents, zur Zeit Napoleons I. und III. das Land beherrscht hatte. Wäre sie nicht dieser Meinung gewesen, wie hätte sie es wagen können, ihren Willen, den Willen einer Handvoll Abenteurer, dem Gesamtwillen der Nation, welcher sich mittels der Wahlen zur Nationalversammlung – der freiesten Wahlen, die jemals in Frankreich stattgefunden – soeben ganz deutlich und bestimmt ausgesprochen hatte, geradezu entgegenzusetzen? »Wir kümmern uns den Teufel um die Provinzen«, gestand der Hauptkyniker der Kommune, Citoyen Rigault.

Noch ist aber zur Wurzelursache von 1871 hinabzusteigen. Denn Albernheit wäre es, zu glauben, das Problem dieser Erscheinung könnte gelöst werden mittels des einfachen Satzes, eine durch das Zusammenwirken unerhörter Umstände begünstigte Bande von Narren und Gaunern habe das rote Quartal gemacht. Allerdings ist es wahr, daß Narrheit und Gaunerei stets zu den Großmächten auf Erden gehört haben und stets dazu gehören werden. Und nicht weniger wahr ist, daß den ganzen Verlauf der sogenannten Weltgeschichte entlang Hunderttausende und Millionen von Menschen mit Begeisterung, mit Fanatismus für blanke Narrheiten, für handgreifliche Gaunereien in den Tod gegangen sind, als für Ideale und Idole. Warum? Weil sie daran glaubten. Nicht das Sein der Dinge bestimmt ihren Wert, sondern der Schein, und nicht die Wahrheit, sondern der Kredit einer Idee regelt ihre Wirksamkeit. Nur die rückwärts gewandte Parteiborniertheit könnte bestreiten wollen, daß Taufende der Kommunarden von 1871, indem sie ihr Leben für die Kommune ließen, für die Sache ihres Volkes, für die Sache der Menschheit zu sterben glaubten.

Schon das muß in wissenden und ernstprüfenden Menschen das Gefühl erregen, daß es sich hier keineswegs nur um ein leichtfertig angehobenes und mit bestialer Wildheit durchgeführtes Abenteuer handelte, sondern um eine geschichtliche Notwendigkeit. Natürlich soll damit nicht etwa bestritten werden, daß selbstsüchtige Berechnungen und wüste Leidenschaften dabei mitgespielt haben, wie das ja bei der Inszenierung geschichtlicher Notwendigkeiten allezeit und überall so war, ist und sein wird. Denn der Mensch, wie er nun einmal ist, macht die Geschichte, und sie ist ja auch danach.

Was für eine geschichtliche Notwendigkeit stand nun im März von 1871 in Frage? Welche Entwickelungsidee rang nach Verwirklichung?

Die Idee der sozialen Revolution.

Und diese wäre eine geschichtliche Notwendigkeit?

Nicht minder gewiß, als die Politische Revolution des achtzehnten Jahrhunderts eine geschichtliche Notwendigkeit war. Das fünfzehnte Jahrhundert hatte den Samen derselben gestreut; im sechzehnten ging er auf; das siebzehnte zeitigte die Saat und am Ende des achtzehnten wurde »mit Eisen und Blut«, wie das herkömmlich bei solchen Geschäften, die reife Ernte eingetan: – die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der verschiedenen Volksklassen. Noch während diese Arbeit im Gange, ist die Tränensaat der sozialen Revolution dem Boden der Zeit anvertraut worden. Das neunzehnte Jahrhundert sodann hat diese Saat üppig aufschießen gemacht. Protzentum und Pauperismus, der prahlende Übermut des Geldsackes und der brutale Neid des Bettelsackes sind die treibenden Kräfte. Die riesenhafte Entwickelung der Großindustrie und die mit derselben naturnotwendig verbundene Züchtung eines millionenzähligen Proletariats steigern von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde die soziale Krisis, und diese wird unausweichlich zur großen Katastrophe führen, zur größten der sogenannten Weltgeschichte, zur Durch- und Ausfechtung des grimm« und wutvollsten Kampfes, des Klassenkampfes.

Und der vernünftige Kern dieser entsetzlichen Frucht? Lassen wir, was man Vernunft zu nennen übereingekommen ist, beiseite. Der aus allen Phrasenhüllen herausgeschälte menschliche Kern der sozialen Frage und demnach auch die Moral der sozialen Revolution ist und wird sein: Steh du auf vom Tische des Lebens, damit ich niedersitzen und schmausen kann!

Wer sehende Augen hat und sie auftun will, wird diesen Kern durch alle die Redensarten und Handlungen, Narrheiten und Ruchlosigkeiten der Pariser Kommune von 1871 hindurch deutlich erkennen. Diese Kommune war das lehrreiche Vorspiel zu der »in Vorbereitung befindlichen« Kolossaltragödie der sozialen Revolution.

»Schwarzseherei!« brummt ihr. »Wir kennen ja die langweilige pessimistische Tonart.«

Ihr leugnet also das soziale Problem?

»Nicht doch! Aber erstens ist die Gefahr weder so groß noch so nahe, wie die Hypochondrie uns glauben machen möchte, und zweitens kann der fernher drohende Sturm unschwer beschworen werden mittels Reformen, welche der Kathedersozialismus in Verbindung mit den Regierungen schon besorgen wird.«

Wirklich? Haben im vorigen Jahrhundert die politischen Reformen die politische Revolution verhindert? Was haben alle die ehrlich gemeinten reformistischen Wollungen und Vollbringungen der »erleuchteten« Despoten und ihrer »aufgeklärten« Minister gefruchtet? Nur so viel, daß sie den Ausbruch der Revolution beschleunigten. Heutzutage ist die Lawine der sozialen Umwälzung im raschen Rollen. Reformen werden nur Staub auf ihrer Bahn sein. Das Riesentrauerspiel wird in Szene gehen auf der Weltgeschichtebühne.

Ihr wendet euch ab von dieser düstern Weissagung, ungläubig, unwillig, spottlachend sogar?

O, ihr habt recht! Denn Torheit ist es, Tauben die Wahrheit zu sagen oder Blinde sehen machen zu wollen. Überall und allzeit haben die Menschen unangenehme Warnungen in den Wind geschlagen. Als in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der traurigen Gabe der Zukunftschau ausgestattete Männer wie Voltaire und Rousseau das Kommen der Revolution vorhersagten, da hat ihnen die Gedankenlosigkeit, welche nicht über die eigene Nasenspitze hinaussieht, auch ins Gesicht gelacht, als Schwarzsehern, Hypochondern und Grillenfängern. Später freilich ist dann den Spottlachern das Lachen vergangen, gründlich.

Auch denen von heute wird es eines wüsten Tages vergehen, gründlichst. Denn die Logik der Geschichte will ihr Recht, und die Geschicke müssen sich erfüllen.

1. Mordspektakel

Man schrieb den 18. März 1871 und der souveräne Unverstand flackerte und qualmte wieder einmal vollkräftig in der »Weltleuchte« Paris.

Schon am 31. Oktober von 1870, dann am 22. Januar von 1871 hatte das Schwefelfeuer stark geglommen und geglostet, aber es hatte an der Apathie der Pariser zu wenig Nahrung gefunden und konnte daher durch die schwachen Hände der »Défense nationale« sanft niedergedrückt werden.

Heute dagegen war, wie schon gesagt, der souveräne Unverstand obenauf. Hüben und drüben. Denn der Frevelhaftigkeit der Insurrektion entsprach vollständig die Schwäche der Regierung. Freilich ist es billig, anzuerkennen, daß die letztere, das heißt die Diktatur von Monsieur Thiers, in der denkbar schwierigsten Lage sich befand. Sie fand sich ja den deutschen Siegern, der royalistisch-klerikalen Nationalversammlung und der sozialistischen Emeute zugleich gegenübergestellt. Sie hatte die Mehrheit der Versailler Versammlung von rückwärtsigen Überstürzungen abzuhalten; sie hatte die Frankreich auferlegten Friedensbedingungen zu erfüllen, das fremde Besatzungsheer zu verköstigen, die Lösungsmilliarden herbeizuschaffen, die Armee ganz neu zu organisieren, während die Hunderttausende von französischen Soldaten noch Kriegsgefangene in Deutschland waren, und mit all dieser ungeheuren Arbeit beladen, sollte sie auch noch der roten Revolte die Stirne bieten.

Trotzdem trifft die Regierung der gerechte Vorwurf, daß sie weit mehr hätte tun können, als sie getan hat, um den 18. März zu verhindern, und daß sie, was sie tat, weit besser hätte tun können. Sie mußte ja wissen und sie wußte auch zweifellos, welche Elemente der Überspanntheit, des Utopismus, des Wahnsinns, der Begehrlichkeit und der Zerstörungswut die bewaffnete sogenannte Nationalgarde der Hauptstadt in sich barg. Des Unheils Anfang war allerdings die im Waffenstillstandsvertrag auf Andrängen Favres stipulierte Fortdauer der bürgerwehrlichen Bewaffnung, aber die Regierung von Thiers ließ den Schaden fortschwären, indem sie gestattete, daß die Wehrmänner der sozialistisch-internationalen Verschwörung Hunderte von Geschützen unter dem lächerlichen Vorgeben, dieselben vor der Wegnahme durch die am 1. März ihren Triumpheinzug in Paris haltenden Deutschen zu bewahren, auf dem Montmartre, auf der Butte Chaumont und anderwärts zusammenbrachten und daselbst als ein augenscheinliches Aufstandsmittel bewachten. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß es dem glühend patriotischen Greise, welcher von Versailles aus Frankreich regierte, als unmöglich, ja als undenkbar vorkam, Franzosen könnten angesichts der in den Ost- und Nordforts von Paris stehenden und den ganzen Norden und Osten Frankreichs noch unter der Gewalt ihrer Waffen haltenden deutschen Sieger die Fahne des Bürgerkrieges erheben. Allein ein so welterfahrener und menschenkundiger Mann wie Thiers mußte auch diese furchtbare Möglichkeit zugeben, so er erwog, daß in der Hauptstadt Tausend und wieder Tausende von Leuten lungerten und lauerten, welchen der Glaube an die höllische Botschaft, daß die Arbeit ein Fluch und der Genuß, der bestiale Sinnengenuß, das einzige Heil sei, alles, was heilig unter Menschen, alles, was die Gesellschaft bindet und zusammenhält, Vaterlandsliebe, Nationalehrgefühl und Pflichtbewußtsein, längst zu einem Spottlachen gemacht hatte. Es war ja das Geheimnis der Komödie, daß die Nationalgarden der revolutionären Quartiere einem »Zentralkomitee« gehorchten, welches ungefähr so zustande gekommen, wie ihrer Zeit in der Nacht vom 9. auf den 10. August von 1792 die revolutionäre Kommune von Paris. Man wußte, daß die schon im letzten Winter ausgegebene Losung »Errichtung einer Kommune!« in den Massen zum gehätschelten Afterglauben geworden war. Man wußte, daß der alte Erzverschwörer Blanqui, welcher zur Zeit Louis Philipps seine Mitverschworenen an die Polizei verraten und überliefert hatte, trotzdem aber oder gerade darum beim Gesindel seine Geltung und seinen Einfluß behalten hatte, in Paris alles für den Ausbruch einer Kommune-Insurrektion vorbereitet hatte und dann nach Lyon abgereist war, um dergleichen Insurrektionen auch in den Städten von Süd- und Ostfrankreich zu organisieren. Man wußte endlich, daß seit Wochen Katilinarier aller Länder, alle die kosmopolitischen oder, besser gesagt, kosmopolakischen Abenteurer, von denen geschrieben steht: »La révolution c'est notre carrière« – in der Hauptstadt zusammenströmten, Geiern gleich, die ein Aas witterten. Ja, man wußte das alles in Versailles, und dennoch wähnte man, die offenkundige Gefahr nicht beachten oder gar verachten zu dürfen. Und als man dann nach langem sträflichem Zaudern zum Handeln und zum Einschreiten sich entschloß, als man zum Zurückfordern und Zurückholen der auf dem verbarrikadierten Montmartre aufrührerisch in Batterie gebrachten Kanonen und Mitrailleusen vorschritt, da war das Unternehmen so schluderig geplant und wurde dasselbe so lässig und faul ausgeführt, daß es den Verschwörern nur die seit Wochen erlauerte Gelegenheit zum Losschlagen und damit zur Ergatterung der Herrschaft über Paris gab.

Die militärischen Verfügungen waren unzulänglich getroffen und wurden zusammenhanglos ins Werk gesetzt.

Die dazu verwendete Truppenzahl war wohl ausreichend – die Besatzung von Paris war ja auf dreißigtausend Mann gebracht worden – aber gerade auf den Punkt der Entscheidung hatte man ein durchaus unzuverlässiges Linienregiment hingeschickt. Anfangs ging alles ganz glatt. In den ersten Stunden vom 18. März setzten sich die Kolonnen der Truppen gegen den Montmartre, gegen Belleville und die Butte Chaumont in Marsch. Im ersten Morgengrauen waren alle Zugänge zu diesen Höhequartieren von Westen und Süden her ausreichend besetzt. Eine Brigade, zusammengesetzt aus dem Infanterieregiment Nr. 88, einem Bataillon Chasseurs de Vincennes und etlichen Schwadronen Gendarmen, steigt unter dem Befehle des Generals Lecomte die steilen engen Gassen zum Turme Solferino auf dem Montmartre hinauf. Der General Sufbielle erreicht und besetzt zur gleichen Zeit die Place Pigalle mit einer Schwadron berittener Chasseurs und einer Kompagnie Gendarmen. Beide Generale finden weder auf ihrem Wege noch droben Widerstand. Es war eine Überraschung in aller Form und die schlechtbewachten Geschütze befanden sich demnach alsbald in der Gewalt der Truppen. Es handelte sich nur noch um das Fortschaffen der Kanonen. Aber gerade damit haperte es. Weder war die nötige Anzahl von Pferden zur Stelle, noch konnte sie zeitig genug herbeigeschafft werden. Überhaupt klippte und klappte nichts, und vom letzten Trainsoldaten an bis hinauf zum ersten General des Tages wurde heute kläglich offenbar, daß die auf Frankreich lastende Wirrfäligkeit der Anarchie auch in den Überresten der Armee grassierte.

Derweil hatten Frühschoppentrinker von den Weinstuben aus, sowie Frühstücksbrote holende Köchinnen in den Gassen vom Montmartre und in den benachbarten Quartieren das Lärmzeichen gegeben. Scharen von johlenden Jungen, fistulierenden Weibern und fulminierenden Bürgerwehrmännern begannen unter dem Rollen des Generalmarsches und dem Heulen der Sturmglocken herbeizuwimmeln und heranzuwuseln. Gruppen von zornigen Patrioten und zornigeren Patriotinnen schossen wie aus dem Boden auf, und von Haufen zu Haufen ging das wilde Geschrei: »Verrat! Verrat! Man will uns unsere Kanonen stehlen. Der Erzschurke Thiers will uns wehrlos machen und dann zusammenkartätschen. Nieder mit den Kanonenräubern!«

Der »Erzschurke« Thiers! Das war der dem Manne, welcher die Befreiung seines Landes von der fremden Invasion und den Wiederaufbau des französischen Staatswesens dermalen zur Arbeit seiner Tage und zur Sorge seiner Nächte machte, dargebrachte Dank. Ein richtiger Volksdank, Wie er überall im Weltgeschichtebuch steht. Nur Gaukler und Gauner sind der Gunst und des Beifalls der niedrigen wie der vornehmen Menge gewiß. Die Kunst der Popularität besteht darin, noch gemeiner zu sein als der obere und der untere Pöbel, und wer Menschen wie Völkern imponieren will, der muß damit anfangen, sie zu mißachten. Die Nerone, die Tamerlane, die Iwane, die Napoleone werden in der mit bebendem Erstaunen zu ihnen aufblickenden Erinnerung der Nachwelt zu Halb- oder Ganzgöttern? Warum? Weil sie der niederträchtig vor ihnen im Staube liegenden Menschheit den Eisenfuß auf den Nacken drücken: »Kusch!« Dem Sokrates den Schierlingsbecher und dem Propheten von Nazareth den Kreuzgalgen, aber dem Sulla die Diktatur und dem Scheusal von Kaligula die Weltherrschaft und die Vergötterung! Manon Roland aufs Schafott, Marat ins Pantheon! Dem Schiller einen unbezahlten Fichtenbrettersarg, dem glücklichen Börsenschwindler und Millionendieb ein marmornen Mausoleum! Immer und ewig dieselbe wüste Travestie von des Aristoteles Hymnus auf die

»Tugend, der Sterblichen mühvolles Ziel,
Herrlichster Kampfpreis irdischen Trachtens,
Jungfrau von weltüberwindender Macht!«

Es war kein Gefecht, sondern nur ein wirrsäliges Durcheinander von Arbeiterblusen, Weiberjupons, roten Soldatenhosen und blauen Bürgerwehrröcken, von kecker Zumutung auf der einen und jämmerlicher Nachgiebigkeit auf der andern Seite, was die Sache entschied. Die Truppen wollten sich nicht schlagen. Als Nationalgardenbanden aus Montmartre, La Billette und Batignolles durch die Rue Müller gegen die vom General Lecomte besetzte Stellung heranrückten, ging alsbald das »Fraternisieren« los, das heißt die Soldaten, voran das 88. Linienregiment, entschlugen sich aller Mannszucht, kehrten die Gewehrkolben in die Höhe, lösten ihre Reihen, mischten sich mit dem »Volke«, ließen sich von Dirnen in die zahlreichen Kneipen ziehen und sangen in rasch erlangter Weinbegeisterung mit allen den Patrioten und Patriotinnen um die Wette die Marseillaise, welche der arme Rouget de l'Isle sicherlich ungedichtet gelassen hätte, so er vorausgehört, von was für Schmutzmäulern sie Anno 1793 und Anno 1871 hergebrüllt werden würde. Der unglückliche General Lecomte, dessen Befehl, auf den andringenden Insurgentenhaufen zu feuern, nur das eben gemeldete Resultat gehabt, wurde mitsamt seinem Stabe und einer Anzahl fest und treu gebliebener Gendarmen gefangen genommen und, umheult von geiferndem und zeterndem Gesindel, zunächst nach dem Chateau Rouge in der Rue Clignancourt geschleppt.

Ähnlich klägliches Ende nahm das Unternehmen der Regierung auf der Place Pigalle und auf der Butte Chaumont in Velleville. Mit Ausnahme der Gendarmerie, welche doch bei weitem nicht stark genug war, den Aufruhr zu bändigen, ließen sich die Truppen überall bereitwillig finden, mit dem Pöbel zu »fraternisieren«, d.h. Gesetz, Ehre und Pflichtgefühl mit Füßen zu treten. Der General Vinoy, welcher die also schmählich vergeckte Expedition befehligte, sah sich, um seine noch unverführten Regimenter vor Ansteckung zu bewahren, genötigt, gegen Mittag den Rückzugsbefehl zu geben. Demzufolge räumten die Regierung und ihre bewaffnete Macht die ganze am rechten Seineufer gelegene Stadt, und auch die Räumung der Quartiere des linken Ufers ließ nicht lange auf sich warten. Herr Thiers mochte sich erinnern, daß er am Morgen des 24. Februars von 1848 dem stürzenden Louis Philipp geraten hatte, alle Truppen zusammenzunehmen, um sich mit denselben aus der aufrührerischen Hauptstadt nach St. Cloud zurückzuziehen, um dann wohlvorbereitet von dort aus angriffsweise gegen die Revolution vorzugehen. Überdies blieb auch für die Regierung, nachdem zwei Aufrufe, welche sie im Laufe des Tages an die Nationalgarde richtete, um diese gegen eine »Handvoll Verblendeter, welche sich über das Gesetz stellten und geheimen Oberen gehorchten, zur Verteidigung des Vaterlandes und der Republik« unter die Waffen und zum Handeln zu bringen, vollständig erfolglos sich erwiesen hatten, kaum etwas anderes übrig als der Rückzug nach Versailles. Die Truppen zum »Fraternisieren« geneigt, die Bürgerwehr, auch die der nicht insurgierten Quartiere, dem siegreichen Aufstand mit stumpfer Ergebung zusehend, – unter diesen Umständen mußte der Gescheitere vorderhand nachgeben, d. h. einpacken und gehen.

Während aber die Regierung zurückwich, ging das aus seiner Verborgenheit aufgetauchte »Zentralkomitee« vorwärts, d. h. es ließ aus seinem Sitzungslokal Nr. 6 in der Rue des Rosiers auf Montmartre seine Vorwärtsbefehle ergehen und diese wurden pünktlich vollzogen. Nachdem im Laufe des Vormittags die Quartiere Montmartre, Belleville und La Villette mittels praktisch und emsig getriebener Barrikadologie zu wohlverschanzten, kanonenbekränzten Hauptstützpunkten der Insurrektion gemacht waren, wurde des Nachmittags angriffsweise gegen das Zentrum von Paris vorgegangen. Die Eroberung war leicht, denn es gab ja keinen Widerstand. Als der Abend zu dämmern begann, befand sich so ziemlich das ganze rechtsuferige Paris in der Gewalt der Roten, nachdem sie schon gegen 4 Uhr neben anderen wichtigen Punkten und Gebäuden auch des auf dem Vendômeplatze gelegenen Generalstabspalastes sich bemächtigt hatten. Dieses Haus und dieser Platz, sie sind dann das militärische Hauptquartier des Aufstandes geworden.

Ein so großer und rascher Erfolg war doch wohl einer Siegesfeier wert. Wie wär' es, wenn wir diesen 18. Märztag rot anstrichen im ohne Zweifel wieder einzuführenden Kalender von 1793? »Blut ist ein ganz besonderer Saft« und »la sainte canaille« will ihr Amüsement haben. Der christliche Herrgott zwar ist abgetan in unserem Glauben oder Nicht-Glauben, aber mit dem alten grimmigen Baal-Moloch ist es etwas anderes, und an Opfern fehlt es ja nicht.

In Wahrheit, es fehlte nicht an Opfern, und die Opferung stand nicht lange aus.

Der gefangene General Lecomte war, wie oben gemeldet wurde, zunächst ins Chateau Rouge gebracht und daselbst durch das 169. Bataillon der Nationalgarde bewacht worden. Wutschnaubendes Gesindel schrie nach seinem Blut. Um 3 Uhr nachmittags machte dieses Geschrei den beiden Kapitänen, welche das Bataillon befehligten, so angst und bange, daß sie, der Verantwortlichkeit sich zu entschlagen, beschlossen, den Gefangenen in die Rue des Rosiers hinauftransportieren zu lassen. Auf dem Wege dahin war das Leben des Generals wiederholt in Gefahr. Droben wurde er von einem Haufen seiner eigenen, verräterischen Soldaten mit scheusäligen Schimpfreden empfangen. Er setzte allem dem Infamen die Verachtungsruhe eines Braven entgegen, die einzige Waffe, welche einem Gentleman dem Mob gegenüber ziemt.

Derweil geschah in einer der an das Elysée Montmartre stoßenden Straßen zur Vervollständigung des Opferfestes dieses. Ein wüster Knäuel von Bürgerwehrleuten, Soldaten, Weibern und Kindern verhandelt die Ereignisse des Tages und erschöpft sich in Verwünschungen des Generals Lecomte. »Er hat seine Soldaten zum Feuern aus das Volk kommandiert; dreimal hat er Feuer kommandiert, der Lumpenhund!« geifert eine Megäre von Marketenderin. »Er hat recht getan,« sagt nachdrucksam ein hochgewachsener, weißbärtiger Greis von soldatischer Haltung, aber in schwarzem Bürgerkleid. Die Menge beantwortet diese Bemerkung mit einem Hagel von Flüchen und Verwünschungen. Aber uneingeschüchtert sagt der alte Herr noch lauter: »Ja, der General tat nur seine Schuldigkeit. Ihm war von seinen Vorgesetzten befohlen, die Kanonen zu holen und die Rottierungen zu zerstreuen, und er mußte diesen Befehl vollziehen.« Die Megäre, vielleicht die Enkeltöchter einer der »Guillotinefurien« von 1793, springt mit einem Satze vor den greifen Wahrheitsager hin, sieht ihn scharf an, hält ihm die geballte Faust unter die Nase, schnaubt ein wütendes »Ha!« hervor und schreit dann, rückwärts gewandt, der Horde zu: »Das ist Clement Thomas.« Ein Todesurteil. Denn seit lange schwärender Pöbelhaß ruhte auf dem General Clément Thomas. Er hatte ja zweimal, im Jahre 1848 und dann wieder im Winter von 1870–71, das Oberkommando über die Pariser Nationalgarde gehabt, und beidemal hatte er ehrlich und energisch seine Schuldigkeit getan. Auch gegen den Pöbel getan. Jetzt war der Pöbel obenauf und pöbelte darauf los, wie von ihm zu erwarten.

Wahrscheinlich wäre der furchtlose Greis auf der Stelle in Stücke zerrissen worden, so nicht ein Blusenmann vorsprang und dem General zudonnerte: »Ha, du wagst es, den Volksmörder Lecomte zu verteidigen? Wart, wir wollen dich ihm beigesellen. Das wird ein hübsches Paar abgeben.« Allseitige Zustimmung zu diesem sinnreichen Vorschlag. Die Rotte zwingt den Greis in ihre Mitte und schleppt ihn unter fortwährenden Lästerungen und Drohungen fort zu dem kleinen, geheimnisvollen Hause Nr. 6 in der Rue des Rosiers. Kurz zuvor war der General Lecomte dort angelangt. Clément Thomas wird ihm beigesellt zu einem furchtbaren Todesgang.

Was für Szenen spielten sich jetzo, zwischen 4 und 5 Uhr, in diesem Hause ab? Man weiß es nur beiläufig, nicht genau; denn alles war ja Trubel und Tumult, Unsinn und Wut. Waren Mitglieder vom »Zentralkomitee« anwesend? Es scheint nicht, denn es wird berichtet, das Komitee habe zu dieser Stunde in der Mairie des achtzehnten Arrondissement Sitzung gehalten. Von anderer Seite wird freilich gemeldet, allerdings seien Mitglieder des Komitee in der Rue des Rosiers anwesend gewesen und sie hätten gewünscht, daß man das Leben der beiden Generale schonte und dieselben als Geiseln in Haft behielte. Aber auch angenommen, dieser Wunsch sei vorhanden gewesen und ausgesprochen worden, so fand er jedenfalls keine Erfüllung. Die unselige Legende der Revolution tat wieder einmal ihre Wirkung, die Nachäfferei des schöngefärbten Schreckensjahres 1793 mit seiner durch Lamartine »vergoldeten« Guillotine verlangte nach einer Gerichtsparodie, wie solche bei Gelegenheit der Septembermorde von 1792 in den Gefängnissen von Paris aufgeführt worden waren. Ein »Kriegsgericht« sollte gebildet werden, um die beiden Generale davor zu stellen. Wer von den Anwesenden noch eine Fiber von Ehre und Scham im Leibe hatte, weigerte sich in dem Mordgerichte zu sitzen. Aber draußen heulte das Pack sein »A mort! A mort!« mit steigender Wildheit, und so tat ihm drinnen eine Dreck- und Spottgeburt von Tribunal den Willen. Ein Kerl, namens Verdaguer, notorischer Dieb zwar, aber dermalen Kommandant des 91. Bataillons, und der »Kapitän« Kerdanski, ein polnischer Revolutionsreisender, saßen mit auf der Richterbank. Die traurige Posse währte jedoch, so kurz sie war, der draußen heulenden Meute zu lange. Die souveräne Pöbelhefe, vermischt mit Franktireurs, Liniensoldaten, garibaldischen Rothemden, strudelt hinein in den Saal und schwemmt die beiden Generale weg, die Treppe hinab und in den kleinen Garten.

Hier spielt sich die Mordszene ab.

Ein Kerl in der Uniform eines Bürgerwehroffiziers packt Clément Thomas, hält ihm einen Revolver an die Kehle und brüllt ihn an: »Gestehe, daß du die Republik verraten hast!«

Der greise Republikaner gibt nur ein Achselzucken der Verachtung zur Antwort.

»Zum Tode mit ihm! Zum Tode!« heulte die dicht am Gartenzaun gestaute Menge.

Er wird gegen die Hintermauer des Gartens gestoßen. Dort richtet er sich zur ganzen Höhe seines Wuchses auf, kreuzt die Arme und erwartet die mörderischen Kugeln.

Ein Augenzeuge hat nachmals sich des Umstandes erinnert, daß der frisch ausgeschlagene Blütenzweig eines der Pfirsichbäume, welche an der Mauer standen, über das Haupt des Generals emporgeragt haben wie zur Bekränzung des Opfers.

Eine Rotte von uniformierten und nichtuniformierten Halunken entladet blindlings die Gewehre auf den verlorenen Mann. Er wird nicht getroffen, nur seinen Hut durchschlägt eine Kugel. Er nimmt ihn ab und entlastet seine Seele mittels des Zornschreis: »Feiglinge und Schurken seid ihr allesamt.« Da kracht wieder ein Schuß. Getroffen stürzt der Gemordete vornüber auf Brust und Antlitz, und nun zerfetzen noch mehr als vierzig Kugeln seinen Körper.

»Jetzt kommst du dran!« brüllt man dem General Lecomte zu.

Gefaßt schreitet der also Gerufene der Mauer zu. Ein fahnenflüchtiger Soldat springt vor, hält dem General die Faust vors Gesicht und schreit: »Du hast mich mal für dreißig Tage in Arrest geschickt. Dafür sollst du von mir den ersten Schuß kriegen.«

Lecomte geht vorwärts, steigt über den Leichnam seines Schicksalsgenossen hinweg und stellt sich an die Mauer. »Feu!« Diesmal ist die Salve besser gezielt, und ins Herz getroffen stürzt der General rückwärts zu Boden.

»Vive la république!« brüllt die grausame Menge, ganz wie ihre Großväter und Großmütter im Jahre 1793 gebrüllt hatten, so das »rasoir national« auf dem Revolutionsplatze sein Tagewerk getan, d. h. den dreißigsten, vierzigsten, fünfzigsten, sechzigsten Kopf abgeschnitten hatte. Der uralte Glaube, daß alles große Neue die Bluttaufe empfangen müsse, will nicht aus dem Volke hinaus. Er ist auch wohlbegründet, wie die Weltgeschichte dartut. Aber sie tut auch dar, daß der Pöbel allzeit und überall unter dem Blute, womit die Vorschrittsideen getauft und befruchtet werden müssen, nicht sein eigenes, sondern das anderer Leute verstanden hat.

Nach vollbrachtem Morde erschien der Herr Maire des achtzehnten Arrondissements, der Citoyen Clemenceau, mit seiner Amtsschärpe umgürtet, auf der Blutbühne. Früher zu kommen sei ihm nicht möglich gewesen, sagte er. Er sei anderwärts zu sehr beschäftigt gewesen. Auch das »Zentralkomitee« war anderwärts zu sehr beschäftigt, als daß es sich um so eine Bagatelle wie die Ermordung von zwei unpopulären Generalen hätte kümmern können. Ebenso war auch der Kommandant der Bürgerwehr von Montmartre, der Bürger Bergeret mit seinem rotbefederten Generalshute, anderwärts beschäftigt gewesen zur Stunde, als der Greuel in der Rue des Rosiers geschah, nämlich im Hotel de Ville, um bei der Teilung der Beute und der Verteilung der Machtrollen nicht zu kurz zu kommen.

Ja, im Hotel de Ville wurde am Abend des 18. März das Halali geblasen. Dorthin hatte sich das »Zentralkomitee« übergesiedelt und seine Mitglieder, die noch heute morgen nichts gewesen als geheime Verschwörer, waren jetzt öffentlich die Herren von Paris und dehnten mit Behagen die proletarischen Glieder auf der damastenen und sammetnen Polsterung der Prachtmöbel, womit das Empire die Säle des Stadthauses ausgestattet hatte.

Ein Zug von wahrhaft Rabelaisschem Zynismus geht durch die ganze Geschichte des roten Quartals von 1871. Auch bei dem Einzuge des Zentralkomitees ins Hotel de Ville kam derselbe zum Vorschein. Froh überrascht, in das alte Hauptquartier der Revolution ohne irgend einen Widerstand eingezogen zu sein, soll der Bürger Assi, welcher der neuen Stadthausregierung vorsaß, ausgerufen haben: »Wir brauchten die Tore des Hotel de Ville nicht einzuschießen, sondern sie gingen von selber auf, als wir auf dem Gioveplatze unser Wasser abschlugen.«

Nach eingebrochener Nacht ging es hoch her in den Schenken der Stadt rechts von der Seine. Das »Volk« von Paris schwelgte in dem Hochgefühle, wieder einmal eine Revolution gemacht zu haben, die Angstphilister luden, statt ihre Gewehre zu laden, ihre Koffer, und ,1a i torkelte weinselig über die Boulevards.

2. Wie die Blauen demonstrieren – Und die Roten remonstrieren.

Es ist überflüssig, mittels Herzählung der Versöhnungs- und Ausgleichungsversuche, welche während der Nacht von feiten der Regierungsmitglieder Favre und Picard und von seiten gemäßigter Demokraten wie Tolain, Langlois und Lockroy angestrengt wurden, Papier und Druckerschwärze zu vernutzen. Alle diese Versuche scheiterten und mußten scheitern, weil von vornherein doch kein rechter Ernst und Eifer dabei war. Auf feiten der Regierung nicht, weil Monsieur Thiers, sobald er den Umfang der Katastrophe erfahren, ein- für allemal seinen Entschluß gefaßt haben mochte, einen Entschluß, welchen ein von ihm gesprochenes oder auch ihm in den Mund gelegtes Wort – so ein »inot«, womit ja die Franzosen gleich bei der Hand find – bündig formulierte: – »Hat Paris uns verlassen, so verlassen wir Paris.« Auf seiten der Insurgenten nicht, weil diese, sobald sie sich im Hotel de Ville festgesetzt hatten, ihre wahre Natur herauskehrten, das von der Regierung gemachte Zugeständnis der demnächstigen Vornahme von Munizipalwahlen spottlächelnd ablehnten und endlich geradeheraus erklärten, sie anerkännten die Autorität von Thiers nicht mehr und würden alle in Paris nötigen Wahlgeschäfte selber besorgen.

Das war Fraktursprache, von dem gescheiten und tatkräftigen Minister Picard ganz richtig also verstanden, daß er bei sotanen Umständen guttäte, von dem Regierungsapparat alles nur Erraffbare auf die Eisenbahn und nach Versailles zu schaffen. Tat so der Mann, rettete Kassen, Akten, Register, Material aller Art, soviel er eben zusammenraffen und wegschicken konnte, das Verwaltungspersonal der verschiedenen Ministerien und anderen Behörden inbegriffen. Die Bank von Frankreich hat er freilich nicht aufzupacken vermocht, auch die Generaleinnahmestelle des städtischen Oktroi nicht. Die Zeit war zu kurz. Denn am Abend des 19. März war die Räumung der Hauptstadt seitens der Regierung von Frankreich vollendet. Eine tröstliche Episode in der traurigen Geschichte dieses Abzuges war die feste, fahnentreue Haltung der Linienregimenter 43 und 69, welche erst am 20. März vom Luxemburgpalast weg durch die Porte Maillot nach Versailles marschierten, nachdem sie auf die Aufforderung des »Zentralkomitees«, die Waffen zu strecken, die Antwort gegeben hatten: »Kommt und holt sie!« Keiner der neuen Stadthausherren hatte für gut gefunden, dieser soldatischen Einladung Folge zu leisten.

Also wären denn doch noch solide Mittel zum Widerstand in Paris vorhanden gewesen? Etliche gewiß. Ob aber ausreichende? Schwerlich. Der am 19. März von der Regierung vor ihrem Abzug an die Nationalgarde gerichtete Hilferuf verscholl wirkungslos. »Wer sind« – so hieß es darin – »die Männer des Zentralkomitee? Niemand kennt sie; ihre Namen sind neu; niemand weiß, was für einer Partei sie angehören. Sind es Kommunisten, Bonapartisten, Preußen? Sind es Agenten dieser dreifachen Koalition? Jedenfalls sind es Feinde von Paris, das sie der Plünderung, Feinde Frankreichs, das sie den Preußen, Feinde der Republik, die sie dem Despotismus ausliefern. Die von ihnen verübten abscheulichen Verbrechen entziehen allen, welche mit ihnen gemeinsame Sache machen oder auch nur sie ertragen, jegliche Entschuldigung. Wollt ihr die Verantwortlichkeit für ihre Mordtaten und für die Ruinen, welche sie zu häufen im Begriffe sind, mit übernehmen? In diesem Falle bleibt ruhig zu Hause! Wenn ihr aber auf eure Ehre, auf eure heiligsten Güter etwas haltet, so schart euch um die Regierung der Republik und um die Nationalversammlung!«

Und siehe, sie blieben ruhig zu Hause, die Herren Philister von Paris. Sie bleiben ja allzeit und überall ruhig zu Hause an Tagen der Entscheidung, die Herren Philister von Europa, und so werden sie auch an dem Entscheidungstage, wann die europäische Kommune ausgerufen wird, ruhig zu Hause bleiben!

Es gab Quartiere in Paris, wo man sich am 19. März nicht nur keine Sorge machte um das am Tage zuvor Geschehene, sondern wo man nicht einmal etwas Bestimmtes wußte. Catulle Mendès begegnete in der Rue de la Grange-Bateliere, also mitten in der Stadt, einem Bekannten und fragte ihn: »Was gibt es Neues?«

»Neues? Wüßte nicht, was. Doch warten Sie! Man sagt, es habe gestern auf dem Montmartre etwas abgefetzt.«

Wohl, es hatte etwas abgesetzt, etwas, das den sorglosen Parisern eine zweite Belagerung zu kosten geben sollte. Zu Mittag erfuhren sie auch, wem sie fortan zu gehorchen und was sie zu tun hätten. Es finden sich ja immer Leute, welche sich mit der Mühsal beladen, ihren lieben Mitleuten das zu sagen.

Die rote Republik proklamierte sich mittels weißer Maueranschläge, deren einer an die Bürger im allgemeinen und deren anderer an die Bürgerwehr im besonderen gerichtet war. Der erste Anschlag lautete: »Französische Republik. Freiheit, Gleichheit, Bruderschaft. Bürger. Das Volk von Paris hat das Joch abgeschüttelt, welches man ihm auflegen wollte. (Hm, wie kann man denn etwas abschütteln, was einem noch gar nicht aufgelegt ist? Logik und Arbeit gehörten und gehören allzeit zu den richtigen Katilinariern verhaßtesten Dingen.) Ruhig und in seinem Kraftbewußtsein unerschütterlich hat es wie ohne Herausforderung so auch ohne Furcht den Angriff der schamentblößten Toren erwartet, welche Hand an die Republik legen wollten. (Woso? Waren denn die Frankreich gehörenden Kanonen, welche die rechtmäßige Regierung der Republik den Händen einer aufrührerischen Sekte entziehen wollte, identisch mit der »Republik«? Gewiß nicht, aber auf eine dumme Lüge mehr oder weniger kommt es in derartigen auf die »Volksmündigkeit« berechneten Kundgebungen bekanntlich nicht an.) Diesmal haben unsere Brüder von der Armee mit Entrüstung sich geweigert, die Bundeslade unserer Freiheiten antasten zu lassen. (Jetzt machen diese Konfusionarii Konfusionariorum die Kanonen vollends zur Bundeslade! Recht hübsch nimmt sich übrigens dieses biblische Bild im Munde eingestanden atheistischer Kommunarden aus.) Dank allen! Mögen Paris und Frankreich jetzt mit vereinten Kräften den festen Grund zu einer echten Republik (nämlich was WIR darunter zu verstehen geruhen) legen, als zu der Staatsform, welche einzig und allein imstande, die Ära der feindlichen Einbrüche und der Bürgerkriege auf immer abzuschließen. (Vom Aufhören der Bürgerkriege faseln in derselben Stunde, wo man selber die Fackel des Bürgerkrieges erhebt, das geht sogar über pfäffische Heuchelei noch hinaus.) Der Belagerungszustand ist aufgehoben. (Für wie lange?) Die Bevölkerung von Paris wird in ihren Bezirken zusammenberufen zur Vornahme der Gemeindewahlen. Schutz und Sicherheit aller Bürger durch die Bürgerwehr wird gewährleistet. (Wir werden diesen Schutz und diese Sicherheit kennen lernen.) Hotel de Ville von Paris, 19. März 1871. Das Zentralkomitee der föderierten Nationalgarde: Assi, Billioray, Ferrat, Babick, Moreau, Dupont, Varlin, Boursier, Mortier, Gouhier, Lavallette, Jourde, Rousseau, Lullier, Blanchet, Groslard, Barroud, Geresme, Fabre, Pougeret.«Außer diesen trugen spätere Kundgebungen des Zentralkomitees auch die Unterschriften Arnaud, Arnold, Bouit, Fortuné und Viard. Sodann werden noch andere wie Avoine, Castioni, Grelier, Josselin, Lisbonne, Maljournal als frühere oder spätere Mitglieder des Komitees genannt.

In einer zweiten Proklamation benachrichtigten die nämlichen Herren Citoyens die Nationalgarde, das Zentralkomitee habe die »Mission«, die Verteidigung von Paris und der Volksrechte zu organisieren, erfüllt und eine Regierung, »die uns verraten hat«, verjagt. In einem dritten weißen Anschlag waren die hochmögenden Herren vom Zentralkomitee so gütig, die Wahl einer »Kommune« für Paris auf den 22. März anzusetzen.

Wir werden also die welterlösende Heilandin, die weltbeglückende Messiasin Kommune endlich haben. Unser biederes Zentralkomitee wird uns binnen drei Tagen geben, was eine »verräterische Regierung« uns seit sechs Monaten vorenthalten hat. Glückauf!

So lautete die öffentliche Meinung in Montmartre, Billette, Belleville »und der Enden« – (wie die Schweizer sagen). Und das übrige Paris? Schwieg still und ließ mit sich machen, was man wollte. Tausende blieben vor den drei signalisierten Straßenplakaten stehen, lasen Inhalt und Unterschriften, begnügten sich aber zu fragen: »Wer sind diese Leute?« und gingen teilnahmelos weiter.

Nun, »diese Leute« waren allerdings lauter »viri obscuri«, obscurissimi, aber sie gaben, mit roten Schärpen umgürtet, Befehle und man gehorchte ihnen. Nicht etwa nur der Ouvrier, sondern mit ganz besonderer Beeiferung auch der richtige Epicier von Paris, wie nicht weniger der Kleingewerbemeister, unter welchen Bevölkerungsklassen die törichte Verordnung der Regierung, alle während der deutschen Belagerung der Hauptstadt gestundeten Wechsel müßten sofort eingelöst werden, großen und gerechten Zorn erregt hatte. Noch ein ähnlicher harter Regierungserlaß, demzufolge alle seit den Belagerungsmonaten rückständig gebliebenen Mieten alsbald bezahlt werden sollten, traf die sogenannte kleine Bourgeoisie schwer. Es wäre nicht nur billig gewesen, es war schlechthin notwendig, gerade den Leuten vom Mittelstande, welcher ja seit dem September von 1870 in Paris am schwersten gelitten hatte, die nötigen Fristen zur Erfüllung von Verbindlichkeiten zu geben, die ein Teil des Nationalunglücks waren.

Überhaupt muß man sagen, daß die Regierung vor wie nach dem Ausbruch der Insurrektion übel beraten war. Die ganze Art und Weise, wie sie durch die Maires von Paris und die Abgeordneten der Hauptstadt zur Nationalversammlung die Vermittelungsverhandlungen mit dem Zentralkomitee führen ließ, beweist dies. Einen weiteren Beweis gibt die Ernennung des Admirals Saisset zum Oberkommandanten der Pariser Nationalgarde ab; denn der Ernannte hat sich ja ganz unfähig erwiesen, die Situation auch nur zu verstehen, geschweige sie zu beherrschen. Der gute Seemann tat, als hätte er es mit angeheiterten, aber im Grunde gutmütigen Matrosen zu tun, während er es doch mit »diesen Leuten« zu tun hatte. Da konnte nur ein schmähliches Fiasko herauskommen.

Wenn man vollends erwägt, daß sich die besitzenden Klassen in Paris denn doch allmählich ermannten, daß die Nationalgarden der mittleren und westlichen Quartiere, nahezu dreißigtausend Mann, eine Abordnung an Thiers nach Versailles schickten, um ihm sagen zu lassen, daß sie acht Arrondissements besetzt hielten und, so er ihnen Offiziere, Geschütze und Munition schickte, bereit wären, gegen die Insurgenten zu marschieren, und wenn man dem gegenüber die kühle Ablehnung von seiten des Herrn Thiers erwägt, der zurücksagen ließ, er könnte ihnen nicht helfen und riete ihnen, mit Kind und Kegel Paris zu verlassen, so dürfte man mittels dieser Erwägungen unschwer zu der Schlußfolgerung gelangen, das Haupt der Exekutivgewalt müßte von vornherein dahin sich entschieden haben, keine »zerteilende« Salbe auszustreichen, sondern vielmehr das Kommunegeschwür reif werden zu lassen, um es aufzuschneiden und auszubrennen. Er hat dann wirklich so getan. Aber wer könnte so töricht sein, zu wähnen, die Eisen- und Feuerkur hätte geholfen? Sie war nur ein Palliativmittel, nichts weiter. Das Krebsgeschwür wird wiederkommen, da oder dort. Die Krankheit steckt ja der Gesellschaft im Blute.

Was die Herren Citoyens vom Stadthause betrifft, so konnte es ihnen nur recht sein, die Regierung mit Unterhandlungen zu »amüsieren«, bis sie sich allseitig in der Macht festgesetzt hatten. Sobald dieses geschehen, ließen sie die Unterhändler barsch abfahren.

Die »Ordnungspartei« raffte sich am 21. und 22. März zu einer »Friedensdemonstration« auf, die ja recht wohlgemeint war, aber sehr übel verlief. Am erstgenannten Tage sammelte sich um halb zwei Uhr ein Häuflein von zwanzig Männern auf dem Platze vor der neuen Oper. Einer, und zwar ein Liniensoldat, trug der sich in Bewegung setzenden Gruppe eine Fahne vor mit der Inschrift: »Union des amis de l'ordre«. In ihrem Vorschreiten durch verschiedene Straßen und Quartiere vergrößerte sich die Prozession der Ordnungsfreunde rasch. Die Boulevards entlang wurden sie allenthalben aus den aufgerissenen Fenstern mit den Rufen: »Es lebe die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Nieder mit der Kommune!« empfangen. Widerstand fanden sie keinen. Da und dort präsentierten sogar Abteilungen der Nationalgarde, an deren Aufstellungen sie vorüberkamen, vor ihnen das Gewehr. So in der Rue Drouot und in der Rue de la Paix. Auch den Zutritt zum Platze Vendôme, der von »föderierten« Bataillonen strotzte, wehrte man ihnen nicht. Als sie unter den Fenstern des Generalstabsgebäudes angelangt waren, trat oben ein junger, rotbeschärpter Mann auf den Balkon heraus und rief herunter: »Bürger, im Namen des Zentralkomitee ...« »Alsbald jedoch« – so berichtet ein Teilnehmer an der Friedenskundgebung – »alsbald wurde er von unserer Seite durch ein vielstimmiges Pfeifen und durch die Rufe unterbrochen: ›Hoch die Ordnung! Hoch die Nationalversammlung! Hoch die Republik!‹ Dessenungeachtet wurden wir in keiner Weise angegriffen, nicht einmal bedroht. Wir umzogen die Napoleonssäule und marschierten wieder auf die Boulevards hinaus nach dem Eintrachtsplatze.« Die Prozession kam schließlich zu ihrem Ausgangspunkte auf dem Opernplatze zurück. Sie zählte jetzt wohl an viertausend Köpfe, und vor dem Auseinandergehen traf man die Verabredung, am folgenden Tage zur selben Stunde die heute so gelungene Kundgebung zu wiederholen.

Diese Verabredung ist eingehalten worden, und zur bestimmten Stunde setzte sich demnach am 22. März eine unbewaffnete, aber teilweise mit der Uniform der Nationalgarde angetane Schar von Ordnungsfreunden, nach etlichen Angaben nicht weniger als zehntausend Männer, jedenfalls aber mehrere Tausende, von der neuen Oper aus in Bewegung. Neben den schon gestern erschollenen Friedens- und Ordnungsrufen vernahm man aus den Reihen ab und zu auch diesen: »Man muß dem Zentralkomitee seine angemaßte Gewalt abfordern und abnehmen.« Dieser Ruf deutete offenbar darauf hin, daß nicht alle Teilnehmer an dem Zuge lediglich friedlich demonstrieren wollten. Auch das vorhin gebrauchte »unbewaffnet« kann nicht von allen gelten. Denn es untersteht keinem Zweifel, daß etliche der Ordnungsfreunde mit Revolvern und Stilettstöcken bewaffnet gewesen sein müssen.

Es ist möglich, daß von keiner der beiden Parteien ein gewaltsamer Zusammenstoß vorhergesehen, gewollt oder gar geplant war. Aber nicht weniger möglich ist, daß ein solcher Zusammenstoß von beiden Seiten gewünscht war. Denn beide Parteien konnten es ganz wohl in ihrem Interesse finden, einen Bruch herbeizuführen. Wenigstens einzelne Personen hüben und drüben konnten die Sache so ansehen. Gewißheit zu erlangen, wird wohl nie möglich sein.

Eine große Trikolore wird dem Zuge vorangetragen, in welchen auch der Admiral Saisset sich eingereiht hat. Man erblickt neben der Uniform der Bürgerwehr auch die der Linie und der Marine, viele Fräcke und Paletots, keine Bluse. Als Erkennungszeichen haben die Ordnungsfreunde ein blaues Band ins Knopfloch geknüpft. Durch die Straße Neuve St. Augustin, dann durch die Straße de la Paix. Aber beim Ausmünden auf den Vendômeplatz, allwo Kanonen und Mitrailleusen aufgefahren und die Föderierten unter den Waffen sind, stockt die Prozession. Wenn man dem Abbe Lamazou, welcher als Diener der bekannten »Religion der Liebe« seine Erlebnisse während der Kommunezeit erzählt hat, glauben wollte, so hätten, was jetzt geschah, einzig und allein die Roten auf dem Gewissen. Wir wollen den Zeugen abhören, weil es bei dem ungeheuren Beifall, welchen sein Buch »La place Vendôme et la Roquette« (12. édit. 1873) in Frankreich gefunden, immerhin von Interesse sein dürfte, eine Stimme aus der schwarzen Internationale über die rote zu vernehmen. »Beim Eingange zum Vendômeplatz stieß die Marschkolonne, ermutigt durch die Quartierinsassen, auf ein Insurgentenkorps, welches Bergeret kommandierte. Dieser ließ seine Leute in Schlachtordnung treten und die Bajonette kreuzen. Einige Augenblicke später konnte ich mit eigenen Augen bemerken, daß diese Insurgenten fast durchweg Leute von vorgerücktem Alter waren. Betrunken und abgerissen, wie sie waren, stellten sie sich so recht dar als die wüsten Gesellen, welche der Aufruhr auf die Gassen speit, und welche das letzte Aufgebot des knechtischen Hundepacks bilden (qui forment le dernier ban de la canaille servile). Es gab darunter eine nicht geringe Anzahl jener Greise, welche, durch Faulheit und Laster heruntergekommen, nichts mehr zu verlieren haben und demzufolge die zuverlässigen Rekruten für jeden Aufruhr sind, mag derselbe kommen, von welcher Seite er will. Die Ordnungsmänner schwenkten ihre weißen Taschentücher und erklärten laut, daß ihre Absicht eine durchaus friedfertige. In dem Augenblick aber, wo etliche der Insurgenten ihre Gewehrkolben aufwärts kehrten, um mit dem gesunden Bevölkerungsteile von Paris zu fraternisieren, ließ Bergeret die Trommeln rühren und nahm eine drohende Haltung an. Ein Flintenschuß wurde auf die dreifarbige (der Friedensprozession vorangetragene) Fahne abgefeuert, und fast in demselben Moment krachte eine mörderische Salve in die Ordnungsleute hinein, welche nach allen Seiten auseinanderstoben. Die Mörder waren so aufgeregt, viele darunter so toll vor Angst, daß sie ihre vor ihnen stehenden Kameraden rücklings niederschossen. Über jeden Zweifel erhaben ist, daß weder eine Flinte noch ein Revolver aus den Reihen der Ordnungsleute abgefeuert wurde.«

Doch nicht so ganz über jeden Zweifel erhaben, Euer Hochwürden! Es ist bei solchen Gelegenheiten in der Regel hüben und drüben etwas nicht in der Ordnung. Wenn die Bestie im Menschen sich aufrichtet und an ihrer Kette rasselt, pflegt ihr der boshafte Leibzwerg der Weltgeschichte, der Zufall, gar gern zu Diensten zu sein. Er rührt dann rasch eine jener Teufeleien an, welche man Mißverständnisse zu nennen pflegt. So eine Teufelei, so ein Mißverständnis, wie z.B. eins in der neunten Abendstunde vom 23. Februar 1848 vor dem Hotel des Capucines in Paris und ein anderes in der dritten Nachmittagsstunde vom 18. März auf dem Schloßplatz in Berlin gespukt, ja, so eins hat allem nach auch auf dem Vendômeplatz zu Paris am 22. März von 1871 seinen diabolischen Spuk getrieben. In solchen Stunden erweist sich namentlich das weise Warnungswort: »Spiele nicht mit Schießgewehren!« als sehr begründet. Denn Schießgewehre scheinen da eine unwiderstehliche Neigung zum Losgehen zu haben.

Die Blauen – so will ich, falls es meinen Lesern und hoffentlich auch Leserinnen genehm, fortan kurzweg die Pariser Ordnungspartei nicht nur, sondern auch die rechtmäßige, vorderhand in Versailles kampierende Regierung der Republik samt allen ihren Anhängern bezeichnen – die Blauen also kamen durch die Rue de la Paix zum Vendômeplatz gezogen. Dort angelangt, sahen sie sich den von dem Bürger Platzkommandanten Bergeret befehligten Roten gegenüber, welche den Zugang zu dem Platze sperrten. Aus den blauen Reihen kamen die Rufe: »Hoch Frankreich! Hoch die Ordnung!« aber auch einzelne Schreie: »Nieder mit dem Zentralkomitee! Nieder mit den Mördern!« Warum hätten sich denn unter den Ordnungsleuten nicht etliche, sogar mehrere Schreihälse sollen befinden können, welche wähnten, da man einmal am Demonstrieren wäre, könnte und müßte man die Roten zu Boden demonstrieren, niederschreien? Vielleicht verlangten die Demonstranten weiter nichts als den freien Durchpaß, aber, alles zusammengehalten, scheint es ausgemacht, daß erstens dieses Verlangen eine drohende Form angenommen habe und zweitens die Roten von vornherein entschlossen waren, die Blauen nicht auf den Vendômeplatz hereinzulassen. Der Bürger Platzkommandant ließ demnach seine Leute ein Viereck formieren, die Gewehre laden, die Bajonette aufpflanzen, und so sperrte diese lebende Barrikade den Zugang von der Friedensstraße her.

Jetzt fällt der in solchen Sachlagen nicht mehr ungewöhnliche Mißverständnisschuß. Wer hat ihn abgefeuert? Natürlich ein Roter, sagen die Blauen. Wogegen die Roten: »Der Schuß, ein Pistolenschuß, kam aus den Reihen der Blauen und hat den Bürger Maljournal, Mitglied unseres Zentralkomitee, am Schenkel verwundet. Das wird uns ein gewiß unverdächtiger und kompetenter Zeuge, der berühmte amerikanische General Sheridan, der aus einem Fenster der Rue de la Paix den Vorfall mit ansah, bezeugen.« Und was sagt der General? Der General sagt »Ja« – aber er fügt hinzu: »Wie die Elenden ihr Land entehren!« und unter den »Elenden« will er die Roten verstanden wissen, welche den sinnlos herausfordernden Schuß – wenn es wirklich ein solcher war – mit einer mörderischen Salve beantworten. Zwar behaupten sie, es sei, als die Blauen den Durchpaß mit Gewalt hätten erzwingen wollen, der warnende Trommelwirbel geschlagen und erst nach Nichtbeachtung des Signals sei Feuer kommandiert worden. Aber Tatsache ist, daß Feuer kommandiert und in die dichtgestauten Reihen der Blauen hinein die Salve gefeuert wurde, bevor es möglich gewesen, das Warnungssignal zu beachten und demselben Folge zu leisten.

Die Wirkung dieser Salve, womit der Bürgerkrieg eröffnet wurde, war, wie sie sein mußte. Die blaue Demonstration zerstob in alle Winde. Zahlreiche Verwundete trugen den Schrecken in die benachbarten Quartiere. Zwanzig Tote, darunter ein Oberst, ein Leutnant, ein Vicomte, ein Bankier, ein Wechselagent, ein Ingenieur, röteten mit ihrem Blute das Pflaster. Die Roten scheinen doch selbst über die Schlächterei erschrocken zu sein. Wenigstens ist festgestellt, daß ihre Offiziere sie am Weiterschießen hinderten. Auch sie zahlten übrigens zwei Tote und acht Verwundete. Muß man annehmen, daß nach Abfeuern der roten Salve auch aus den Reihen der Blauen geschossen worden sei? Oder ist die oben angeführte Behauptung des Abbé Lamazou, die Roten hätten in der Verwirrung selber aufeinander gefeuert, als Erklärung dieser Tötungen und Verwundungen zulässig?

Fest steht, daß die Herren Bürger vom Zentralkomitee das auf dem Vendômeplatze Geschehene ausdrücklich guthießen und nach empfangenem Bericht darüber zweierlei beschlossen. Erstens, daß sich die auf dem Vendômeplatze kommandierenden Offiziere »um das Vaterland verdient gemacht hätten«, und zweitens, daß keine blauen Kundgebungen mehr stattfinden dürften. Denn Freiheit muß sein, d.h. jeder muß nach unserer Fasson frei sein.

Der rote Schrecken, welcher am Abend des 22. März vom Vendômeplatz ausging, unterwarf tatsächlich ganz Paris dem Machtgebote des Zentralkomitee. Fast unglaublich klingt es, daß der Admiral Saisset auch jetzt noch an die Möglichkeit einer friedlichen Ausgleichung glaubte und mit den Herren vom Stadthause in Unterhandlungen blieb. Am Morgen des 24. März ließ er sogar, freilich ohne die Ermächtigung der Regierung eingeholt zu haben, eine Proklamation anschlagen, worin er folgende Zugeständnisse von seiten der Regierung und der Nationalversammlung verhieß: »Volle Anerkennung der Gemeindefreiheiten, Wahl der Offiziere aller Grade durch die Nationalgarde selber, Änderung des Wechselgesetzes, Milderung des Mietzinsengesetzes.«

Von der passiven Bevölkerung der Hauptstadt, aber auch nur von der passiven, wurde dieser Erlaß, der eben doch nur ein Apokryphon, eine gutgemeinte Täuschung war, mit freudiger Zustimmung begrüßt. Im Stadthause lachte man darüber. »Die Blauen sind ebenso dumm wie schwach,« meinte der Bürger Assi. Indessen wurde für gut befunden, die Unterhandlungskomödie, in welcher sich ja auch die Deputierten von Paris, sowie die Maires und ihre Adjunkten zu Dupes-Rollen hergaben, noch vierundzwanzig Stunden weiterzuspielen. Alle die Herren Unterhändler von blauer Seite waren in Wahrheit »ebenso dumm wie schwach«. Sie merkten gar nicht, daß den Leitern der Insurrektion ungeheuer viel, alles daran lag, die Wahl einer Kommune als den Wunsch und die Tat der Gesamtbevölkerung von Paris hinzustellen und erscheinen zu lassen, und bewilligten eine der darauf abzielenden Forderungen des Zentralkomitee nach der andern. So kam die »Vereinbarung« zustande, daß Sonntag, den 26. März, von morgens acht Uhr bis nachts zwölf Uhr Paris seine »Kommune« wählen sollte.

Damit hatten die Stadthausherren, was sie wollten. Der gute Admiral Saisset trieb die Kindlichkeit so weit, daß er, als nach bestverrichtetem Werke die Bataillone der Bürgerwehr, welche noch bis zum 25. März unter seinem Kommando verharrt waren, entließ, und am Abend des Tages mit dem frohen Bewußtsein, den Bürgerkrieg im Keime erstickt zu haben, nach Versailles hinausfuhr. Wie er dort empfangen wurde und bis zu welchem Grade der Verlängerung dieser Empfang sein Gesicht brachte, ist nicht genau bekannt.

Im Hotel de Ville war man an diesem Abend siegesgewiß. Die Blauen hatten sich dumm und schwach erwiesen, die Roten schlau und stark. Die Massen aber fallen bekanntlich überall und allzeit dahin, wo die größere Kraftentwickelung stattfindet.

3. Endlich haben wir die Kommune!

»Aux urnes!« hieß die Losung der Pariser am 26. März, und von allen Wänden herab predigten rote Plakate die Tugenden einer ausgiebigen Anzahl von Kommunekandidaten.

Helles Sonntagswetter, und man macht seine Wählerpflicht im warmen Sonnenschein ab wie ein anderes Sonntagsvergnügen. Alles ist munter und wohlauf. Das Paris beherrschende Rot ist heute kein düsteres, sondern schillert rosenrötlich. Was kümmern uns die von den Wällen der Nord- und Ostforts verwundert nach der »Weltleuchte« hereinschauenden »deutschen Barbaren«? Nichts. Was fragen wir nach dem in Versailles sich duckenden Nußknacker von Thiers? Weniger als nichts. Denn wir sind souverän, wir Söhne der Weltsonne Paris, souveränst, und wir wollen heute wieder einmal den Erdball in Erstaunen setzen, indem wir ihm zeigen, wie man eine Kommune comme il faut zuwegebringt. Es ist endlich an der Zeit, daß unsere dreimalheilige Dreieinigkeit »Liberté, Egalité, Fraternité« zur Wahrheit und Wirklichkeit werde auf Erden. Denn – also hat der Bürger Jules Allix in einer Klubsitzung von Belleville prophetiert und dekretiert – »frei sein muß jeder, gehorchen keiner. Sogar das Kind muß frei sein von der Geburt an, maßen es niemand Gehorsam schuldet, auch seinen Eltern nicht.«

Dieses und andere ähnliche prächtige Prinzipien in Tatsachen zu verwandeln, wählen wir also heute unsere hochgelobte Kommune ....

Es geht dabei ganz ordentlich her, das muß man sagen. Die Pariser scheinen durchaus zeigen zu wollen, daß sie mit allem Anstand, ja sozusagen, mit Eleganz anarchisch zu sein vermögen. Aber was anarchisch? Regierung muß sein, und wir haben den einköpfigen »Tyrannen« Thiers nur abgeschüttelt, um uns einen siebzig- oder gar neunzigköpfigen aufzuladen. Variatio delectat mulieres virosque.

Würdevoll marschieren die Bürgerwehrmänner in größeren und kleineren Gruppen nach den Abstimmungslokalen, während ihre besseren Hälften in die verschiedenen Kirchen zur Messe gehen; denn die Pariserin vom anständigen Mittelstand ist bis über die Ohren in Katholizismus getaucht. Die Herren Bürger vom Stadthause lassen ihre Boten durch die verschiedenen Quartiere rennen, und da es an Pferden für die Adjutanten fehlt, sieht und hört man Garibaldiner im vollen Seiltänzerwichs der Garibalderei auf Velozipedes durch die Straßen sausen. Wer nachmittags sich die Mühe nehmen will, die große Barrikade zu erklettern, welche man am 19. März aufgetürmt hat, um den Stadthausplatz gegen die Rue Rivoli hin abzusperren, kann von dort herab ein fröhliches Drängen und Treiben auf diesem Platz erschauen. An zwanzigtausend Bürgerwehrleute sind da versammelt und die Musikbanden verschiedener Bataillone spielen auf. Rothemden und Blaublusen schäkern mit Damen, die mehr oder weniger »von jener Sorte« sind. Zuaven und Turkos tanzen mit Marketenderinnen zwischen den Geschützen, welche, in Batterie gebracht, ihre Mündungen den Ausgängen des Platzes zukehren.

Die Mitglieder des »Conseil municipal« – diese Benennung klebte man vorderhand noch der Kommune als ein Feigenblatt auf – sollten neunzig sein, der eingeschriebenen Wähler waren vierhundertundneunzigtausend. Aber von diesen hatte sich mehr als die Hälfte den Protest hinter die Ohren geschrieben, welchen am 19. März fünfunddreißig Pariser Journale einmütig gegen die Gültigkeit dieser Wahl zum voraus erhoben hatten, zu nicht geringer Erbosung der Herren vom Zentralkomitee, welche darauf in ihrem »Journal officiel« am 22. März eine drohende Kundgebung erließen, deren kurzer Sinn war, daß sie die Freiheit der Presse achten würden, solange dieselbe so frei wäre, nur in ihrem, der Stadthausherren, Sinne zu schreiben. Nur zweihundertundsiebenundsiebzigtausenddreihundert Wähler gingen zu den Urnen, und aus diesen kamen als gewählt hervor die (nach der Reihenfolge der zwanzig Arrondissements gezählten) Bürger: 1. Adam, Barré, Méline, Rochard; 2. Brelay, Chéron, Loiseau-Pinson, Tirard; 3. Arnaud, Demay, Dupont, Murat, Pindy; 4. Amouroux, Arnould, Clémence, Gérardin, Lefrançais; 5. Blanchet, Jourde, Ledroit, Régère, Tridon; 6. Beslay, Goupil, Leroy, Robinet, Varlin; 7. Brunel, Lefèvre, Parisel, Urbain; 8. Allix, Arnould, Rigault, Vaillant; 9. Desmarest, Ferry, Naft, Parent, Ranc; 10. Babick, Champy, Fortuné, Gambon, Pyat, Rastoul; 11. Assi, Avrial, Delescluze, Endes, Mortier, Protot; 12. Fruneau, Geresme, Theiß, Barlin; 13. Chardon, Duval, Fränckel, Maillot; 14. Billioray, Decamp,Martelet; 15. Clément, Langevin, Ballès; 16. Bouteiller, Marmottan; 17. Chalain, Clement, GerardinMalon, Varlin; 18. Blanqui, J. B. Clément, Dereure, Ferré, Grosset, Theiß, Vermorel; 19. Buget, Courent, Delescluze, Miot, Ostyn, Oudet; 20. Bergeret, Blanqui, Flourens, Ranvier.

Abgesehen von den Doppelwahlen und dem von Paris abwesenden Blanqui, ist die tatsächliche Mitgliederzahl der Kommune nie eine vollzählige gewesen. Denn keineswegs waren alle die Gewählten mit der Sache einverstanden. Die sämtlichen Erkorenen der Arrondissements 1, 2, 9 und 16 verweigerten die Annahme der Wahl. Ebenso in anderen Bezirken die Herren Fruneau, Gouvil, Lefèvre, Leroy, Murat und Robinet. Am 16. April verschritt man zu Ergänzungswahlen, an welchen aber nur ein Achtel der Wahlberechtigten teilnahm. Unter den Gewählten sind Cluseret, Courbet, Garibaldi (Menotti) und Vesinier zu nennen. Andere, wie Briosne und Rogeard, lehnten das ihnen übertragene Mandat ab. In drei Bezirken kam wegen allzu dünner Beteiligung gar keine Wahl zustande. Die Kommune war demnach vom Anfang bis zum Ende niemals vollständig; niemals repräsentierte sie sämtliche Quartiere oder gar sämtliche Bevölkerungsklassen von Paris. Wohl war unter ihren roten Mitgliedern da und dort ein blaues oder wenigstens rötlichbläuliches hineingesprenkelt, z. B. der Bürger Beslay und der wackere Färbergesell V. Clément, aber Blauheit oder auch nur Bläulichkeit vermochte gegen das triumphierend herrschende Rot nicht aufzukommen.

Frühmorgens am 26. März hatte das Zentralkomitee mittels einer vom Tage zuvor datierten Proklamation seine Selbstauflösung angekündigt. Aber es war das eigentlich nur ein so tun. Denn nach öffentlich aufgelöstem Komitee fuhr ein geheimes, welchem Assi vorsaß, zu bestehen und zu amten oder wenigstens mitzuamten fort.

Am 28. März wurden die »Saturnia regna« der Kommune auf dem Stadthausplatz unter großem Festjubel ausgerufen, und sah die frühlingswarm scheinende Sonne wieder einmal eins jener Pariser Haupt- und Staatsspektakel, wie sie deren an derselben Stelle schon so manches gesehen hatte. Einhundert oder gar zweihundert Bataillone Bürgerwehr waren da in Parade aufgestellt. Vor der Front des riesigen Stadtpalastes war eine große Bretterbühne aufgeschlagen. Darauf saßen die Mitglieder des gehenden Zentralkomitee und die der kommenden Kommune, alle mit roten Schärpen geschmückt. Über die Bühne ragte eine gipserne Statue der Republik empor, einen roten Gürtel über den Hüften, die rote phrygische Mütze auf dem Kopfe. Vor die eherne Bildsäule Heinrichs IV. samt seinem bronzenen Gaul hatte man eine spanische Wand von roten Fahnen hingestellt, um die Augen der Bürger und Bürgerinnen, Republikaner und Republikanerinnen durch den Anblick eines »Tyrannen« nicht zu beleidigen. Die eigentliche Zeremonie, das heißt die Übergabe der Gewalt von seiten des Zentralkomitee an die Kommune, wurde kaum bemerkt in dieser Flut von Farben, Sonnenstrahlen und Waffenglitzern, in diesem Schwall von hunderttausend Menschenstimmen. Das »Vive la république!« wurde auf der Estrade ausgebracht, und zur Antwort scholl vom Platze herauf zurück: »Vive la commune!« Ein Meer von Bajonetten, Degenspitzen, Hüten, Käppis und Taschentüchern wogt empor. Die sämtlichen Musikbanden intonieren die Marseillaise; alle Anwesenden, Männer, Frauen, Kinder fallen ein in die herzbewegende Weise des alten Zauberliedes, und die am Seinequai aufgestellte Batterie donnert den Takt des brausenden Chorgesangs.

Eine ganze Reihe von Augen- und Ohrenzeugen hat erklärt, daß dieser Augenblick ein sehr ergreifender gewesen sei, und daß sich dabei das Volk von Paris wieder einmal in seiner ganzen Begeisterungsfähigkeit und Liebenswürdigkeit gezeigt habe.

Zweifelsohne. Aber bei alledem drängt sich einem doch die Wahrnehmung auf, daß schon der festliche Beginn der Kommuneherrschaft die Geistesode, den Ideenmangel und die Gedankenarmut der ganzen Bewegung signalisierte und symbolisierte. Nicht einmal ihre Inthronisierung wußten die Herren von der Kommune irgendwie originell in Szene zu setzen. Das ganze Spektakel vom 28. März mußte jedem Kenner der Revolutionsgeschichte wie ein Abklatsch jener Spektakel vorkommen, welche Anno 1793 der »Oberzeremonienmeister des Schreckens«, der Maler David, inszeniert hatte. Nur mehr Rot wurde jetzt aufgewendet und bedeutend weniger Redekunst. An Phrasenschwulst und Tiradenbombast dagegen fehlte es auch jetzt nicht. Sagte doch das scheinbar gegangene Zentralkomitee am Abend des Tages in einem Maueranschlag den Bewohnern von Paris, daß diesen »heute dem großartigsten Schauspiel anzuwohnen gegönnt gewesen sei, welches jemals Menschenaugen geblendet und Menschenherzen gerührt hat. Denn Paris begrüßte die Republik und hieß sie willkommen. Paris schlug im Buche der Geschichte eine neue Seite auf und schrieb seinen mächtigen Namen darauf« – usw. im Geleier nach bekannter Melodie. Charakteristisch, wenn auch nicht origineller als das übrige, war der Schluß des Aktenstücks. Man weiß ja, daß schon die Reden und Proklame der ersten Revolution neben »la patrie« immerfort »l'humanité« und »le genre humain« gestellt, sowie das Evangelium von der Freiheit, Gleichheit und Bruderschaft allen Völkern des Erdkreises zu bringen verheißen hatten. So auch das Abendproklam vom 28. März. Denn nachdem es die »stolze Parole« ausgegeben: »Den Tod für das Vaterland!« forderte es die Pariser auf, fest und vertrauensvoll um die Kommune sich zu scharen, weil nur dadurch das große Endziel zu erreichen wäre: – die »Universalrepublik«.

Der gewohnte gallische Größenwahnsinn, wiederum der alte Chauvinismus, diesmal mit einem roten Mäntelchen angetan.

4. Wer waren sie? Was wollten sie?

Derweil das souveräne Volk am Abend vom 28. März in seine Tavernen schlampampen ging, setzten sich die neuen Souveräne des Souveräns, Messieurs les Citoyens de la Commune, im Festsaale des Stadthauses zum Installierungsbankett. Dabei ging es aber nicht eben heiter her. Denn schon in der ersten Stunde ihres Bestehens erwies sich die Kommune als ein keineswegs kompaktes Ding und die Gegensätze, welche sie in sich barg, barsten sofort aus. Das konnte gar nicht anders sein, maßen die etlichen sechzig Mitglieder der neuen Regierung von sehr verschiedenen Anschauungen ausgingen und demnach auch verschiedenen Zielen zustrebten. Schon heute brachte es eine bedenkliche Dissonanz in die Festharmonie, daß wenigstens einer der Gewählten, Herr Tirard vom zweiten Arrondissement, mit Betonung erklärte, er betrachte sich nur als Mitglied einer Gemeindevertretung von Paris. Diese sei nach seiner Auffassung durchaus nur eine munizipale, keine politische Behörde, habe daher auf städtische Angelegenheiten sich zu beschränken und ganz und gar keine Berechtigung, Politik zu treiben.

Man kann sich unschwer vorstellen, wie gerade und scharf diese Anschauung solchen Kommunarden gegen den Strich ging, welche – und sie waren die große Mehrheit – in der Kommune eine politische und zwar hochgradig revolutionäre Maschine erblickten. Sicherlich war die Ansicht Tirards auch die von mehreren seiner Kollegen, aber nur er hatte den vollen Mut seiner Überzeugung, indem er, sowie er wahrgenommen, wie wenig Anklang seine Meinung gefunden, sofort das kaum angetretene Mandat niederlegte.

Dieses Vorgehen Tirards zeigte den Ultras, daß sie immerhin noch mit einem gemäßigten, solid bürgerlichen Elemente in Paris zu rechnen haben würden und nicht so ohne weiteres mit den Dogmen eines Blanqui, mit internationalen Phantastereien, sozialistischen Schwarbeleien und kommunistischen Räubereien hervortreten dürften.

Das machte die Bankettierer im Hotel de Ville nachdenklich und das Bankett selber kurz und düster. Beim Hinweggehen soll einer der Festgenossen die Äußerung getan haben: »Mit Wein hat die Kommune angehoben; mit Blut wird sie enden.«

Diese Weissagung zu tun, ist eben keine große Kunst gewesen. Man brauchte nur die Mehrzahl der Gesellen anzusehen, aus welchen die Kommune zusammengesetzt war.

Gewiß müßte man es nicht nur als ungerecht, sondern auch geradezu als stupid bezeichnen, so man leugnen wollte, daß auch Ehrenmänner in der Kommune saßen. Ja, Männer von tadelloser Lebensführung, von nicht gemeinem Wissen und von selbstloser Begeisterung saßen darin. Es gab da Gelehrte, Geschäftsleute, Arbeiter, welche ohne Frage zu den besten Bürgern ihres Landes gehörten. So z. B. der sechsundsiebzigjährige Alterspräsident der Kommune, der Ingenieur Beslay, der Publizist Vermorel, der Jurist Protot, der Arzt Rastoul, der Färbergesell V. Clément, nicht zu verwechseln mit dem wütenden Fanatiker J. B. Clément.

Aber die Mehrzahl, die Mehrzahl! Sie war der Auswurf der Weltkloake Paris. Winkeladvokaten, Winkelliteraten, Winkelärzte, bankerotte Krämer, weggejagte Kommis, verstickte Studenten, verbummelte Arbeiter, ein Rattenkönig von Unwissenheit, Faulheit, Neid, Dünkel, Größenwahn, Vermessenheit und Begehrlichkeit, ein Katilinariat, wie es im Sallustius steht – das waren die Leute, welchen die Hauptstadt Frankreichs ihr Schicksal anvertraut hatte.

Ein gewiß unverdächtiger und kompetenter Zeuge, der schon mehrfach erwähnte brave Viktor Clément, hat dieser Kommune-Sippschaft ein glühendes Brandmal aufgedrückt. In die Kommune gewählt und zum Maire des achtzehnten Arrondissements ernannt, besuchte der heißrepublikanisch und hochsozialdemokratisch gesinnte, aber ehrliche Färbergesell seinen Meister Hallu im Faubourg Vaugirard. »Nun, was halten Sie von der Kommune?« fragte der Meister. »Was ich davon halte?« gab Clément zur Antwort. »Ich fürchte, sie ist eine Rotte von Schurken, eine Bande von Jakobinern, die nichts Gutes zustande bringen werden, und ich wollte, ich stände erst wieder in meinen Holzschuhen und an meiner Bütte.« Dieser wirkliche und wahrhafte, nicht bloß gemalte oder geschriebene Arbeiter, wie deren so viele herumlaufen, ist wohl als der Mensch zu bezeichnen, welcher während des roten Quartals in Paris das meiste Gute getan und das meiste Böse verhütet hat.Clements Persönlichkeit, Auftreten und Handeln haben nachmals sogar auf das Versailler Kriegsgericht einen so günstigen Eindruck gemacht, daß es dieses Mitglied der Kommune mit der fast beispiellos gelinden Strafe von nur drei Monaten Haft belegte.

Zu den gefährlichsten Kommunarden gehörten Pyat, Varlin und Vallès, zu den bösartigsten, Assi, Urbain, Billioray und Régère, zu den verrücktesten Lullier und Allix. Der verbissenste, gefrorenste Fanatiker in der ganzen Bande war ohne Zweifel Delescluze. In dem Schreiner Pindy, welchen seine Kollegen zum Gouverneur des Stadthauses machten, verband sich mit dem rötesten Rot ein brutaler Humor. Er war der Mann, lachend zu sagen: »Geht die Sache schief, so spreng ich das Stadthaus mitsamt der Kommune in die Luft!« und er war auch der Mann, zu tun, wie er sagte. Zwei Narren in Folio waren der verlotterte Schulmeister Lefrançais und der vergeckte Mediziner Babick: sie vertraten mitsammen den höchsten und tiefsten Blödsinn der Kommunisterei. Aber die ruchlosesten, verhärtetsten, kältestgrausamen Mitglieder der Kommune sind ohne Frage der verbummelte Buchhalter Theophil Ferré und der verstickte Student Raoul Rigault gewesen. Ferré, der kleine, dürre, knirpsige Kommis, und der aufgeschwemmte, zierbengelige Kneipenläufer Rigault waren von der Revolutionslegende so recht besessen. Der eine hatte sich den Hébert, der andere den Marat zum Muster und Vorbild genommen. Im Sprechen äfften sie den Hyperbelbombast von Danton nach. Insbesondere tat dies Rigault, dessen namenlose Eitelkeit sich darin gefiel, mit seinem Atheismus und Maratismus staatzumachen und zu renommieren. »Wenn ich für vierundzwanzig Stunden« Polizeipräfekt wäre« – Pflegte er zu sagen – »so würde es mein erstes Geschäft sein, einen Verhaftsbefehl gegen den Herrgott zu erlassen, und wenn er sich nicht finden ließe, würde ich ihn zum Tode verurteilen und in effigie hinrichten lassen.« Ein andermal ließ er sich vernehmen: »Ich habe eine wichtige Erfindung gemacht und will, wo möglich, ein Patent darauf nehmen. Meine Erfindung beseitigt die Guillotine. Diese ist zwar ganz ehrenwert, aber sie ist, wie ja schon der selige Bürger Carrier meinte, zu langsam. Man muß veraltete Einrichtungen dem Fortschritt zu opfern und aus der Wissenschaft Vorteil zu ziehen wissen. Die Guillotine hat ihre Zeit gehabt. Das Ding ist veraltet. Ich habe eine elektrische Batterie konstruiert. Die arbeitet sicher, sauber, schnell und geräuschlos. Sie kann, wenn es euch beliebt, fünfhundert Reaktionäre mit einem Schlag vernichten.« Ein frommer Mann würde es eine Ironie Satans nennen, daß dieser Mensch wirklich seinen Wunsch, Herr in der Polizeipräfektur zu werden, erfüllt sah. Ich für meinen Teil sage nur, daß in Frankreich nichts unmöglich. Es ist auch nicht verwunderlich, daß die Jakobiner von 1871, sobald sie zur Macht gelangten, als die ärgsten Tyrannen auftraten: sie waren ja die Affen der Jakobiner von 1793. Ganz in der Ordnung also, daß diese »Freiheitshelden« mit höchster Erbitterung auch die Pressefreiheit verfolgten. So namentlich Rigault. Als er eines Tages einen Journalisten hatte verhaften lassen, ging ein Kollege desselben zu ihm, um die Freilassung des Gefangenen zu erbitten. Im Verlaufe des Gespräches sagte der Bittsteller:

»Man scheint dermalen die Freiheit der Presse gering zu achten.«

Worauf Rigault: »Freiheit der Presse? Kenne das nicht.«

»Sie wollen nichts davon wissen? Aber sie haben ja dieselbe früher täglich gefordert.«

»Ja, das war eben zur Zeit Badinguets (Napoleons III.). Überdies habe ich für meine Person zum voraus erklärt, daß wir nun und nimmer eine gegnerische Presse dulden würden, wenn wir einmal die Stärkeren wären. Wir sind es jetzt, und folglich dulden wir keine oppositionelle Presse.«

Es fehlte nur noch, daß dieser Marat von 1871 sagte: »La presse c'est moi.« Das wäre eine zeit- und ortsgemäße Variation des alten Despotenwortes von Ludwig XIV. gewesen.

Wenn bei Burschen wie Ferré und Rigault der Fanatiker nur eine leichte Maskierung des Bösewichtes war, so stellte sich dagegen in der Person von Gustav Flourens der Typus des Erzphantasten dar. Sohn eines bekannten Gelehrten und selber wissenschaftlich durchgebildet, hatte Flourens seinem Wissen nie den geringsten Einfluß auf die Phantasmen gestattet, worin er von Jugend auf lebte und webte. Gut und großmütig von Natur, wie vor ihm der ihm geistesverwandte Armand Barbès gewesen, war der junge Mann ebenfalls ein Opfer des Revolutionsmythus geworden, so sehr, daß sich in seinem Gehirne die Idee fixierte, man müßte Revolution machen um der Revolution willen. Zu fragen, was denn am Ende aller Enden aus dieser Revolution in Permanenz werden sollte, fiel ihm natürlich nicht ein. Er wäre ja sonst nicht gewesen, was er war, ein richtiger Wolkenkuckucksheimer, ein enthusiastischer Bürger von Utopia.

Sieht man von diesen und den übrigen schon früher namhaft gemachten Ausnahmen ab, bei welchen der Wahnwitz wenigstens nur auf irregeleiteter Begeisterung und chaotischer Begriffeverwirrung, nicht aber auf den selbstsüchtigen Berechnungen der Eitelkeit, der Ehrsucht, der Gaunerei und Schurkerei beruhte, so ist man vollständig berechtigt, die andern Mitglieder der Kommune als traurige Produkte der rohmaterialistischen Anschauungs- und Denkweise unserer Zeit zu bezeichnen. Auch diese Narren und Verbrecher sind echte Priester der Mammonsreligion des Jahrhunderts, nur in anderer Form als unsere Geldkönige und Börsenfürsten, welche den Schweiß und das Mark der Völker in ihren Kassen ansammeln, und durch ihre übermütige Protzerei den Neid und Groll der vom Bankette des Lebens Ausgeschlossenen herausfordern. Als einer dieser Könige, James Rothschild, in Paris vor etlichen Jahren starb, hinterließ er seinen Söhnen sechzehnhundert Millionen oder mehr. Und zu denken, daß zu solchem ungeheuerlichen, man möchte sagen sündhaften Reichtum einer Familie jene »Blutgelder« den Grund gelegt haben, wofür die Hessen-Kasseler »Landesväter« Karl I., Wilhelm VIII., Friedrich II. und Wilhelm IX. ihre armen »Landeskinder« zu Tausenden und wieder Tausenden an verschiedene kriegführende Potentaten verschacherten, so recht en gros der letztgenannte an die Engländer während des Unabhängigkeitskampfes der Amerikaner! Dieser Familienschatz, an welchem mehr Flüche hafteten als an dem Nibelungenhort, ist dann zur Napoleonischen Zeit dem alten Amschel, dem Begründer der Dynastie Rothschild, zum »Aufheben« gegeben worden, und der alte Amschel wußte damit so geschickt zu jobbern, daß schon sein Sohn, der Großmeister der europäischen Jobberei, der eigentliche Kohen hagadol (Hohepriester) im Tempel Mammonis war.

Auf unserer Zeit liegt das grausame Verhängnis, die gesellschaftlichen Gegensätze immer schärfer zuzuspitzen, den Abgrund zwischen reich und arm, zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig immer breiter und tiefer zu machen. Schon einen Blick in diesen Abgrund tut, wer die Pariser Kommunewirtschaft von 1871 betrachtet. Seht immerhin hinunter, ihr, die ihr zu sehen, zu fühlen und zu denken wagt. Aus der finstern Tiefe starrt euch das rote Drachenhaupt der sozialen Frage entgegen, nicht wahr? Ihr kehrt euch schaudernd ab, und eure zagende Seele überfröstelt die Angst, daß eines Tages der Drache dem Abgrund entsteigen, und Ströme von Wut und Glut und Blut über die Erde hinhauchen könnte. Ja, euch und alle nicht Gedankenlosen schauert die Ahnung an vom Kommen der großen Wehestunde, wann die empörte Arbeit, eine rachewütige Kriemhild, dem grimmen Hagen Kapital den Goldhelm mitsamt dem Haupte herunterschlagen und die soziale Götterdämmerung alle ihre Schrecken loslassen wird ....

Am 29. März erfolgte die Konstituierung der Kommune. Sie bestellte einen Vorstand, welcher wöchentlich wechseln sollte, und den ersten Wochenvorstand bildeten die Bürger Lefrançais als Vorsitzer, Bergeret und Duval als Beisitzer, Rigault und Ferré als Schriftführer. Dann teilte sich die Kommune in zehn Kommissionen, welche die verschiedenen Zweige der Zivil- und Militärverwaltung nach Art der früheren Ministerien besorgen sollten. Es gab z.B. eine Finanzkommission, in welcher der Student Jourde, ein geborenes Finanztalent, die Hauptrolle spielte; eine Kriegskommission, wo sich die Bürger Eudes, Bergeret, Flourens, Cluseret, Rossel, Delescluze an der ersten Stelle ablösten: eine Sicherheitskommission, welche die Funktionen der bisherigen Polizeipräfektur übernahm und worin die Bürger Assi, Ferré und Rigault herrschten. Der letztere hatte sich übrigens schon am 20. März in der Polizeipräfektur installiert und der Gewalten des verjagten Polizeipräfekten sich bemächtigt. Später wärmte man für ihn das Amt und den Titel eines »Procureur de la Commune« von 1792 wieder auf. Göttin der Gerechtigkeit, du hast dir schon allerhand Priester gefallen lassen müssen, aber ein solches Exemplar wie den Bürger Rigault wohl selten. Das war so ein Wächter der öffentlichen Sicherheit, wie der Bürger Jules Ballès, welcher das Diktum von sich gab, Homer sei nur »ein alter Schafskopf« gewesen, eine Art von Unterrichtsminister war.

Die Rede, womit der alte Beslay die erste Sitzung der Kommune schloß und worin er die Losung ausgab: »Friede und Arbeit!« schien eine Gewähr zu bieten, daß Verstand und Mäßigung in der Versammlung obenauf seien. Aber es ging hier, wie es bei derartigen Vorkommnissen immer und überall zu gehen pflegt. Je rascher die Dinge in Fluß und Schuß kamen, desto lauter und gewalttätiger machten sich die Leidenschaften geltend und drängten die verständige Erwägung mehr und mehr beiseite. Bald mußten die Besonnenen und Gemäßigten erkennen, daß sie gegenüber den Überspannten und Wütenden in machtloser Minderheit sich befänden, und so blieb von ihnen einer nach dem andern aus den Sitzungen der Kommune weg.

Auch die Ultras, welche jedoch die herrschende Mehrheit ausmachten, stimmten nicht einmal im Prinzip überein. Sie zerfielen in Jakobiner und Kommunisten. Die einen bekannten sich zum Sankt Jakob von 1793 und wollten eine Republik à la St. Just und Robespierre, jedoch mit Beseitigung der Zentralisation, was doch ein Widerspruch in sich selbst war; die andern ließen die Republik nur gelten als die Basis, auf welcher sie nach dem Bauplan der Internationale den kommunistischen Proletarierstaat aufrichten wollten. Die beiden Fraktionen hielten sich bis zuletzt in der Kommune die Wage, und so ist es gekommen, daß auch dieser kreißende Berg nur eine Maus gebar, d.h. daß die Kommune ein positivrevolutionäres Resultat gar nicht erzielte, daß sie sich politisch, sozial und volkswirtschaftlich als durchaus unfruchtbar erwies, daß sie nur alles, was sie erreichen konnte, zu zerstören, lediglich aber nichts, gar nichts zu schaffen vermochte. Tiefbeschämend für die Menschheit ist es, daß einer Rotte von so mittelmäßigen Köpfen, von so ordinären Gesellen so viel Unheil anzurichten gestattet war. Was man auch tun mag, das Phänomen des roten Quartals von 1871 zu erklären, immer ist und bleibt die Möglichkeit des Phänomens eins der traurigsten Armutszeugnisse, welche das Menschengeschlecht sich ausgestellt hat.

Die Kommune regierte ohne Programm, wenn man nicht etwa für ein solches gelten lassen will, ein an das »Volk von Frankreich« erst am 19. April erlassenes Manifest, ein Aktenstück, womit der ganzen Geschichte des Landes brutal ins Gesicht geschlagen wurde. Das Manifest verlangte eine bis zum Äußersten gehende Dezentralisation. Die französische Republik, wollten die Herren Kommunarden, sollte bestehen aus so vielen Kommunen, als Frankreich Ortschaften besäße, und diese Gemeindefreiheit sollte nur beschränkt sein durch die Gleichberechtigung der Gemeinden, welche mittels Vertrags zu einer staatlichen Einheit zusammentreten würden.

Etwas Unfranzösischeres als diese bis zum äußersten Extrem, geradezu bis zur Pulverisierung getriebene Zerstückelung des Staatskörpers ließe sich kaum aussinnen. Jeder Wissende kennt die mancherlei und großen Schäden, welche für das französische Volk aus der maßlosen Zentralisation erwachsen sind. Aber jeder Wissende weiß auch, daß eine solche Zentralisation dem Galliertum im Blute lag und liegt, und daß demzufolge die gesamte geschichtliche Entwickelung Frankreichs folgerichtig darauf hingearbeitet hat. Das Gute und Vorteilhafte, welches der Zentralisation doch immerhin auch zu eigen, beibehalten, das Schlechte und Schädliche derselben allmählich ausscheiden, das wäre patriotisch und staatsmännisch gehandelt. Aber von heute auf morgen die Genesis des Staates verneinen, den ganzen Staatsorganismus auf den Kopf stellen und dem Franzosentum dekretieren wollen, aus seiner Haut zu fahren, das war offenbar Wahnsinn. Der einzige originelle Anlauf also, welchen die Kommune nahm, mußte sie von Rechts wegen ins Narrenhaus führen.

Von der Gelegenheitsgesetzgebung der Herren vom Stadthause zu reden, ist nicht der Mühe wert. Dergleichen Akte, wie z.B. das zugunsten der Schuldner erlassene Wechsel- und Mietegesetz, gehörten zu den Notbehelfen einer Regierung, die von der Hand in den Mund lebte. Um sich einen sittlichen Firnis zu geben, verbot die Kommune alle Arten von Hasardspielen, und in einem Anfall von kommunistischem, d.h. die persönliche Freiheit und Selbstbestimmung für nichts achtendem Weltbeglückungseifer verbot sie den Bäckern, bei nachtschlafender Weile Teig zu kneten und Brot zu backen. Der »Delegierte beim Unterrichtswesen«, Bürger Vaillant, auf deutschen Hochschulen gebildet, gab sich viele Mühe, Schulorganisationspläne, die an und für sich gar nicht übel waren, zu entwerfen, die aber natürlich Papier blieben. Auf die Anregung von Pyat wird das vom 3. April datierte Dekret der Kommune zurückgeführt, welches die Trennung der Kirche vom Staat aussprach, die Staatsausgaben für den Kultus unterdrückte, und die sämtlichen beweglichen und unbeweglichen Güter der Klöster und Kongregationen konfiszierte und als Nationaleigentum erklärte. Dieses Gesetz gelangte, soweit die Zeit reichte, zur Ausführung.

Die Finanzen der Kommune wurden vom Bürger Jourde ebenso geschickt als gewissenhaft verwaltet, wie denn dieser junge Mann sicherlich auch durch persönliche Ehrenhaftigkeit unter seinen Kollegen hervorragte. Die tägliche Ausgabe betrug etwa achthunderttausend Franken. Gedeckt wurde dieser Bedarf durch die Akzise, die Tabaksregie, die Stempelgebühren, die Zwangsanleihen bei den Eisenbahngesellschaften und bei der Bank von Frankreich. Beraubt wurde diese nicht, weil sich namentlich Jourde und Beslay dem Raube energisch widersetzten, dagegen tüchtig angezapft. Es darf gewiß als ein finanzpolitisches Kuriosum ohnegleichen bezeichnet werden, daß die Bank von Frankreich – mit Vorwissen und Beistimmung von Monsieur Thiers – in den letzten Tagen der Kommune förmlich den Kassierer derselben machte und ihr Tag für Tag achthunderttausend Franken ausbezahlte. Die Bezüge der Beamten waren übrigens sehr mäßige. Am 2. April wurde dekretiert, daß die höchste Jahresbesoldung eines Gemeindebeamten auf sechstausend Franken fixiert sein solle. Die Mitglieder der Kommune bezogen ein Taggeld von fünfzehn Franken, weiter nichts. Ein Obergeneral erhielt sechzehn Franken Taggeld, ein Nationalgardist einundeinenhalben Franken und die Verköstigung. Daß die Kommunarden in sybaritischen Bacchanalien und babylonischen Orgien geschwelgt hätten, ist Verleumdung, Bürger Jourde hat nachmals vor dem Kriegsgerichte in Versailles die Gesamtausgabe der Kommune auf dreiundfünfzig Millionen angeschlagen, und es war ihm aufs Wort zu glauben.

Wie das rote Quartal erst verständlich wird, wenn man die während des zweiten Empire aufgekommene, von den Tuilerien beschützte und von der Börse gehätschelte, so recht aus »boue de Paris« geknetete Literatur kennt, diese Literatur der bronzestirnigen Gemeinheit, der brutalen Selbstsucht und des triumphierenden Lasters, aus welcher ja die Kommunarden wohl den Schluß ziehen durften, eine solche Gesellschaft sei nur der Vernichtung wert, – so muß man die Kommuneliteratur, diese zahlreich wie Brennesseln und Giftpilze aufgeschossenen Journale durchmustern, um so recht zu erfahren, welche Hefe wilder Instinkte und wütender Leidenschaften damals in Paris brodelte und gor. Unduldsam und gewalttätig, wie die roten Komödianten von 1793 gewesen, waren auch durchweg ihre Affen von 1871. Nur ihre eigenen Stimmen wollten sie hören, und so wurde jede abweichende Meinung und Meinungsäußerung geächtet. Diese Freiheitsheuchler waren fanatische Pfaffen der Tyrannei. Was nicht für sie war, sollte gar nicht sein. Die Presse, welche nicht aus der kommunistischen Tonart schrieb, wurde gewaltsam unterdrückt. Nicht etwa nur die monarchischen Blätter mußten verstummen, sondern auch die republikanischen. Nicht etwa nur der bonapartistische »Gaulois« oder die orleanistische »Revue des deux mondes«, sondern ebenso der republikanische »Siècle«. An der Stelle der weggefegten anständigen Journalistik machte sich eine wirkliche und wahrhafte Canaillepresse schamlos breit. Das lumpigste literarische Zigeunertum von Paris kam aus seinen Schlupfwinkeln hervor und tanzte auf den Straßen seine journalistische Carmagnole. Auch hierin, wie in anderem, um nicht zu sagen in allem, wurden die wüstesten Erinnerungen der ersten Revolution wieder aufgewärmt. Da konnte es nicht fehlen, daß auch Héberts blut- und schmutztriefendes Journal »Le père Duchêne« wiedererstand. Und dieses von Vermersch redigierte Blatt verkaufte täglich siebzigtausend Exemplare und brachte seinen Schmierfinken Tag für Tag tausend Franken Nettoprofit. Wollt ihr mit eigenen Augen sehen, was für obszöne und mordluftige Sprünge die Menschenbestie in dem Paris des roten Quartals machte, so nehmt diese oder jene Nummer vom »Vater Duchêne« zur Hand. Aber zieht zuvor, ich bitt' euch, Handschuhe an und verbindet euch die Nasen!

5. Verhaftet euch untereinander!

Wie ging es derweil außerhalb der »intellektuellen Zentralsonne des Weltalls« her? Fand das »hehre« Beispiel, welches Paris gegeben, in den Provinzen Zustimmung und Nachahmung? Was machten die Blauen und was tat Monsieur Thiers?

Es ging in den Provinzen nicht so, wie es die Herren vom Pariser Stadthause wollten und wünschten. Das »hehre« Beispiel war so ziemlich umsonst gegeben. Die Pulverisierung Frankreichs zu einem Chaos von Kommunen entsprach mitnichten dem Nationalgeschmack. Die internationale Verschwörung hatte zwar in verschiedenen Städten tüchtig vorgearbeitet, und es gingen dann auch auf die Stunde vom 18. März hin, da und dort, in Lyon, in St. Etienne, in Marseille, in Toulouse, in Rouen, rote Flatterminen los. Aber eben doch nur Flatterminen oder sogar nur »Feuerteufel«, ein bißchen prasselnd und stinkend, aber ohnmächtig, zu zünden und zu sprengen. Diese Krawalle schlug die blaue Regierung unschwer nieder, und der ganze Rummel in den Provinzen hatte ein Ende, nachdem es gelungen war, den Hauptminierer Blanqui zu Kastelnau festzumachen. Die fünfzig oder sechzig Tyrannen logen zwar sich selber und ihren Untertanen bis zuletzt vor, ihre »Brüder« in den Provinzen würden ihnen zur Hilfe heranziehen, massenhaft, unwiderstehlich; Tatsache aber war, und zwar sehr bald, daß die Pariser Kommune vom Lande nichts zu erwarten hatte. Die Provinz emanzipierte sich diesmal von der Hauptstadt und trieb in ihrer eigenen Manier, welche eine ganz gescheite war, Dezentralisation.

Der kleine Thiers draußen in Versailles war unterdessen auch nicht müßig. Im Gegenteil, tätig bis zum Fieber. Er hatte mehr als eine begangene Dummheit gutzumachen, und er machte sie gut. Vorderhand freilich nur teilweise; denn maßen er schon am 25. März eine Streitmacht von vierzigtausend Mann mit fünfhundertundzwanzig Geschützen zur Hand hatte, so ist wohl die Frage erlaubt, warum Thiers die ganz kopflosen, wahrhaft rührend einfältigen Machenschaften des Admirals Saisset zugelassen und nicht vielmehr einen Angriff auf Paris unternommen habe, der ja am genannten Tage noch unendlich viel leichter gewesen wäre als eine Woche später, wo die Roten die ganze Umwallung von Paris in ihrer Gewalt und ihre Streitkräfte organisiert hatten. Sogar der Forts auf der Südseite der Stadt waren sie leicht Meister geworden, dagegen in dem Versuch, auch der riesigen Zitadelle des Mont Valerien sich zu bemächtigen, gescheitert. Ein noch rechtzeitig auf den Mont geschickter zuverlässiger Kommandant hielt an der Spitze einer pflichttreuen Besatzung diese wichtige, die Westfront von Paris deckende Festung für die Blauen, – ein für die Roten, wie sich bald zeigen sollte, höchst widerwärtiger Umstand. Ein höchst eigentümlicher, ja in seiner Art einziger war es dagegen, daß die Anwesenheit der deutschen Truppen in den Nord- und Ostforts nicht weniger den Roten als den Blauen zum Vorteile gereichte. Den Roten, weil sie demzufolge nur die West- und Südseite der Stadt zu verteidigen hatten, den Blauen, weil sie nicht die ganze Stadt zu umschließen brauchten und die Kraft ihres Angriffs auf die südliche und westliche Front konzentrieren konnten. Aber der Mensch ist eine undankbare Bestie. Nachmals haben Blaue und Rote brüderlichst mitsammen über die Deutschen geschimpft wie Rohrspatzen und unser oben zitierter hochwürdiger Abbé Lamazon hat, vom heiligen römischen Geiste inspiriert, sogar die sublime Entdeckung gemacht, die Kommune sei nichts anderes gewesen als eine »preußische Intrige«, item die Kommunisten und Petroleurs seien »beim Bismarck und beim Moltke in die Schule gegangen«.

Daß die Roten über bedeutende Streitkräfte und über ausreichendes Kriegszeug aller Art zu gebieten hatten, ist schon früher dargetan worden. Auch an Generalen fehlte es der Kommune nicht. Freilich waren das Generale von der Sorte der Flourens, Eudes, Brunel, Duval, Bergeret und Lullier, welche an den obersten Stellen befehligen sollten, bis zur Übernahme des allerobersten Befehls der damit betraute und eilends herbeigerufene Garibaldi eingetroffen wäre. Diesmal war aber der Alte von Kaprera klüger als Anno 1870. Eingedenk der Erfahrungen, welche er neulich mit den Franzosen und die Franzosen mit ihm gemacht hatten, blieb er ruhig auf feiner Geißeninsel sitzen.

Es war aber auch kein Spaß, General der Kommune zu sein. Der Revolutionsmythus, der Konvent habe seine Generale so lange zur Guillotine geschickt, bis sich welche gefunden hätten, die zu siegen verstanden, hatte ja im Stadthause bedenklich viele Gläubige und Bekenner. Das Messer der Guillotine zwar machte man vorderhand nicht zum Kritiker der Strategen und Taktiker, aber man verhaftete sich mehr oder weniger gemütlich untereinander. Der zweifelsohne mehr als halbtolle weiland Marineleutnant Lullier wurde schon am 26. März von seinem Bürgerwehrkommando abgefetzt, verhaftet und eingesteckt. Es hieß, von wegen eines Stuhles, welchen er im Feuer der Debatte seinem ehrenwerten Kollegen Assi an den Kopf geworfen hätte. Am 2. April brach aber der ehrenwerte Lullier aus und erklärte in Rocheforts »Mot d'ordre«, er werde fortan nur mit zwölf Revolvern in den Taschen herumgehen. An demselben Tage ließ die Kommune ihr ehrenwertes Mitglied Assi verhaften und an den Schatten tun unter der Anschuldigung, ein Weibler und Werber für den Bonapartismus zu sein. Ja, ja, diese ehrenwerten Bürger von der Kommune hatten der großen Mehrzahl nach vollauf Ursache, einander für verdächtig zu halten.

Am 1. April ernannte die Kommune den verbummelten Mediziner Eudes zum Quasikriegsminister (zum »Delegierten beim Kriegswesen«) und den, gewesenen Buchdruckereifaktor Bergeret, bislang Sergeant in der Bürgerwehr, zum Generalstabschef. Am folgenden Tage hat dann der Krieg zwischen den Blauen und den Roten ernstlich angehoben, infolge der Vorschiebung einer Truppenschar von St. Cloud her bis an die Seine durch den General Vinoy, obzwar Monsieur Thiers der Meinung war, erst dann zum Angriff auf Paris zu verschreiten, wann er über mindestens hnndertdreißigtausend Mann zu verfügen hätte. Eine solche oder noch größere Truppenzahl unter der Trikolore zu versammeln, wurde aber dem Regierer Frankreichs erst möglich, mittels Unterhandlungen mit dem Deutschen Reiche. Diese Unterhandlungen haben dann auch, wie bekannt, zum Ziele, d. h. viele Taufende und abermals viele Taufende französischer Offiziere und Soldaten aus der deutschen Kriegsgefangenschaft heim und unter die dreifarbige Fahne geführt.

Am 2. April also ging der blutige Tanz los. Eine über die Seinebrücke von Neuilly und bis Courbevoie vorgegangene Erkundungsschar der Roten stieß dort mit den Vortruppen Vinoys zusammen und schoß sich mit denselben herum. Die Roten sagten, die Blauen, und die Blauen sagten, die Roten hätten angefangen – natürlich »verräterisch«. Da sich auch die Feuermäuler des Mont Valerien in den Zank mischten, hatten die Roten bewegliche Gründe, nicht nur über die Seinebrücke, sondern auch hinter die Porte Maillot, d.h. hinter die schützende Umwallung von Paris zurückzugehen. Die Blauen füsilierten in ihren Händen gebliebene Gefangene , »sans phrase«. Zur Antwort auf die Mordschüsse vom 18. März, sagten sie später. Man sieht, in diesem französischen Bürgerkriege begann es tüchtig zu spaniolen.

Nun brauste, was rot in der Stadt, gewaltiglich auf. Was, wir sollten uns von dem Nußknacker Thiers und seiner Krautjunker- und Bauernversammlung also mitspielen lassen? Kanonen auf den westlichen Wall! Aux armes, citoyens! Nach Versailles! Nach Versailles! Laßt unsere Generale ihre Schuldigkeit tun, damit wir das vermaledeite Nest des Royalismus und Klerikalismus da draußen ausnehmen und mit einem Schlage unserer hochgelobten Kommune Bahn brechen im schönen Frankreich!

»Unsere Generale« Eudes, Bergeret, Duval und Flourens taten denn auch richtig ihre Schuldigkeit, hielten Kriegsrat und setzten einen Plan auf, wozu die Vollziehungskommission im Stadthause Ja und Amen sagte. Abends heizte ein Maueranschlag, worin mit Charettes »Chouans«, »päpstlichen Zuaven«, Trochus »bretonischen Läusekerlen«, »royalistischen Verschwörern« und ähnlichem Zornfutter nicht sparsam umgegangen wurde, den mehr oder weniger heldischen Bürgern tüchtig ein.

Am folgenden Morgen geschah der Ausfall, der aber nicht glänzend ausfiel. Um vier Uhr in Marsch gesetzt, brachen die Roten in drei Kolonnen aus der Umwallung hervor. Zur Linken sollte der »General« Endes über Montrouge auf der Straße von Clermont gegen Villacoublay vorgehen. In der Mitte der »General« Duval über Issy und Meudon gegen Viroflay. Auf der Rechten sollten die »Generale« Bergeret und Flourens Rueil und Bougival zu erreichen suchen. Als Gesamtwirkung dieser drei Ausfallsstöße war ein Vorstoß auf Versailles geplant, »um die Schlange in ihrem Neste zu zertreten«. Nun aber gehören zur Ausführung eines Plans bekanntlich immer zwei. Einer, welcher denselben ausführt, und ein anderer, welcher die Ausführung zuläßt. Im vorliegenden Falle versagte der andere den Dienst, d.h. die Blauen schickten die Roten mit blutigen Köpfen heim, nachdem wiederum insbesondere das mörderische Feuer des Mont Valerien das ganze Unternehmen von vornherein dem Scheitern nahegebracht hatte. Die sämtlichen »Generale« der Kommune wurden auf allen Punkten geschlagen und der ganze Ausfall schließlich am folgenden Tage hinter die Wälle zurückgeworfen. Zwei der roten Häuptlinge kehrten nicht wieder in die Stadt zurück. Der phantastische, aber ehrlich-fanatische und tapfere Flourens wurde, mit seinen Truppen von Paris abgeschnitten, am 4. April in einem Hause unweit Ruel, wo er genächtigt hatte, von Versailler Gendarmen, welche von Bauern auf ihn gehetzt wurden, überfallen und fiel, den Säbel in der Hand, unter dem Säbel eines Gegners. Den gefangenen Duval ließ der General Vinoy erschießen. Als diesem der Gefangene vorgeführt worden, fragte er ihn: »Was würden Sie mit mir machen, so ich Ihr Gefangener wäre?« worauf Duval als aufrichtiger Mann antwortete: »Sie erschießen lassen.« Man tat ihm, wie er getan haben würde. Wie du mir, so ich dir.

Die arme Mutter von Gustav Flourens holte den toten Sohn von Versailles, wohin man ihn gebracht hatte, nach Paris herein. Man hatte ihr den Leichnam ausgeliefert, aber unter der Bedingung, daß die Bestattung ohne Pomp und Demonstration vor sich ginge. So folgten nur die trostlose Mutter mit ihren zwei übrigen Söhnen und ein Priester dem Sarge zum Père Lachaise. Am Tage darauf stand in einem roten Blatt: »Ein Priester hat Flourens in geweihter Erde begraben. Das ist ein Unglücksschlag über das Grab hinaus.« Der Schlag tat aber nicht mehr weh einem, welcher eingegangen war in das große Schweigen, worin ja dereinst der verglühte Erdball selbst versinken wird, mit allen seinen Scheinfreuden und Peinleiden still versinken wird, wie eine verblühte Wasserlilie in die Tiefe sinkt ... Aus dem Begräbnis von anderen einunddreißig Gefallenen machte man ein großes Spektakel. Denn wie alle Despoten wußten auch die Stadthausherren, daß man der Menge »panem et circenses« verschaffen müßte. Zugleich wurde eine Proklamation ausgegeben, worin es lapidarisch hieß: »Die Banditen von Versailles erwürgen oder erschießen unsere Brüder, die in ihre Hände gefallen. Wenn sie noch einen einzigen unserer Wehrleute ermorden, so werden wir das mit der Hinrichtung einer gleichen oder doppelten Anzahl von Gefangenen beantworten.« Ein Vorwink, aber ein Vorwink mit der Mordkeule auf das Scheusälige hin, was später in La Roquette und anderwärts geschehen sollte. ... Am Tage des mißlungenen großen Ausfalls war der Bürger Cluseret von der Kommune zum Delegierten beim Kriegswesen ernannt worden. Dieser neue Kriegsminister durfte sich kecklich General schelten lassen. Vorzeiten, im Krimkrieg, Kapitän in einem Jägerbataillon, hatte er – man weiß nicht recht, warum – den französischen Dienst verlassen, das sizilische Abenteuer Garibaldis mitgemacht, dann den großen amerikanischen Bürgerkrieg. Ein richtiger Kondottiere unseres Jahrhunderts, hatte er die Witterung der Revolution und lief überallhin, wo »etwas los war«. Im übrigen war er ein mutiger Soldat und kein ungeschickter Offizier. Seinem organisatorischen Talent und seiner kriegsministerlichen Tätigkeit ist es hauptsächlich auf Rechnung zu schreiben, daß die Roten Paris so lange gegen die Blauen zu halten vermochten. Er brachte Ordnung und Straffheit in den militärischen Dienst. Mit den aus Buchdruckern und Buchbindern zu »Generalen« gewordenen Nullen machte er wenig Federlesens. Den Hohlkopf Bergeret, welchen die Kommune nach seiner kläglichen Feldherrnprobe vom 3. April zum Stadtkommandanten ernannt hatte, ließ er absetzen und verhaften, um den tüchtigen Polen Dombrowski auf diesen wichtigen Posten zu stellen. In einer unglücklichen Stunde ernannte Cluseret zum Generalstabschef den jungen, begabten, aber vom Ehrgeiz verzehrten und ränkesüchtigen Geniekapitän Rossel, welcher nach dem Falle von Metz sein den Deutschen gegebenes Ehrenwort gebrochen hatte, und später von der dreifarbigen Fahne seines Landes zur roten übergelaufen war, – ein Mensch, welcher den ihm später zuteil gewordenen Tod an dem roten Pfahl auf der Ebene von Satory wohlverdient hat. Sofort nach seiner Bestallung fing er gegen Cluseret zu ränkeln und zu zetteln an, und seinen Machenschaften ist es zweifelsohne in erster Linie zuzuschreiben, daß die Kommune am 30. April ihren Kriegsminister absetzen und verhaften ließ. An seine Stelle trat Rossel als provisorischer Kriegsminister. Weil er aber merkte, daß die übernommene Würde nur eine für seine Schultern viel zu schwere Bürde sei, warf er sein Ministerium schon am 9. Mai der Kommune vor die Füße. Darauf obligate Verhaftung des auflüpfischen Menschen, der aber mitsamt seinem Wächter, dem Kommunarden Gerardin, aus seinem provisorischen Arrest im Stadthause verduftete und spurlos verschwunden blieb bis zum 8. Juni, wo ihn die blaue Polizei in seinem Pariser Versteck abfaßte.

Nach der mit Rossel gemachten Erfahrung wollte die Kommune von keinem Offizier mehr als Kriegsminister wissen und ernannte zum Delegierten beim Kriegswesen den Bürger Delescluze, genannt »der Alte vom Berge«, welcher dann die letzten Kämpfe und Krämpfe der Kommune im streng jakobinischen Stile von 1793 diktatorisch geleitet hat. Von Jugend auf Verschwörer, hatte er gegen das Julikönigtum, gegen die Pseudorepublik von 1848, gegen das zweite Empire gekämpft und schwere Verfolgungen erlitten. Was er in französischen Gefängnissen und unter der Glutsonne von Cayenne ausgestanden, hatte seinen Leib ausgetrocknet und sein Herz zu Stein gemacht. Dieser lange, hagere, bleiche Graubart sah aus wie der verkörperte Gedanke von Robespierre. Zudem, was hatte er zu verlieren? Nichts. Am 18. März begegnete ein Bekannter dem Bürger Delescluze auf der Straße und äußerte besorgnisvoll: »Und wenn nun die Preußen sich dreinmischen und Paris in Brand schießen?« – »Mir ganz egal,« gab der Alte vom Berge zur Antwort; »ich bin nicht Hausbesitzer.«

6. Es wird kanoniert, prophetiert und scharlatanisiert

Das »Alles schon dagewesen« hält auch nicht mehr stand. Denn in unseren Tagen hat die menschliche Tragikomödie, sonst auch Geschichte genannt, uns wahrhaftig verschiedene noch nicht dagewesene Figuren und Szenen vorgeführt. War nicht die ganze Szenerie des Kommunespiels eine neue, insofern die deutschen Soldaten sehr wahrnehmbar in den Kulissen standen? Und ist nicht der Marschall Mac Mahon eine neue, noch nicht dagewesene Figur? Gewiß ist er das. Nicht darum zwar, weil er, der notorische Royalist, den Präsidenten einer Republik vorstellt, sondern deshalb, weil er, der bei Wörth davongerittene und bei Sedan davongetragene General, zum Staatsoberhaupt seines Landes erkoren worden. Daß siegreiche Degen zu Szeptern wurden, das ist schon oft dagewesen. Daß ein zerschlagener Degen als Szepter fungiert, das ist neu.

Maßen der alte Thiers nicht selber zu Pferde steigen konnte – gewiß zu seinem großen Leidwesen – so mußte er sich nach einem passenden Obergeneral umsehen, und seine Wahl fiel auf den aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Mac Mahon. Daß dieser trotz Wörth und Sedan noch ein solches Ansehen behalten hatte, zeugt immerhin von seiner soldatischen Tüchtigkeit. Vielleicht wollte die Quasi-Republik durch die Ernennung des sehr katholischen Marschalls der hochwürdigen Klerisei eine Bürgschaft geben. Übrigens war ja auch die Auswahl nicht groß.

Der Marschall hatte ausreichende Streitkräfte unter seiner Hand, an hundertundfünfzigtausend Mann. Die »aktive« Armee, anfänglich drei, später fünf Korps stark, wurde von den Generalen Ladmirault, Cissey, Du Barrail, Douay und Clinchant kommandiert. Die »Reservearmee« befehligte der General Vinoy. Nachdem die Organisation, Ausrüstung und Verteilung der Truppen vollendet war, begannen die Blauen am Grünen Donnerstag (6. April) ihre Angriffsbewegungen gegen die Roten, In der Richtung auf Neuilly zunächst. Die Feldwachen der Roten, welche sich wieder bis Courbevoie vorgewagt hatten, wurden von dort über die Seinebrücke und die Avenue hinab bis zur Porte Maillot zurückgetrieben. Zugleich überschüttete der Mont Valerien Neuilly und dessen Umgebung, sowie am folgenden Tage die Champs-Elysees und das Quartier Les Ternes mit Kugeln, welche eiserne Boten den Parisern den ganzen Ernst der Lage und den Beginn des zweiten Bombardements der Stadt verkündeten. Der Karfreitag sah einen achtstündigen mörderischen Kampf um den Besitz der Brücke von Neuilly. Die Roten schlugen sich mit Todesverachtung, und erst am nächsten Tage (8. April) verzichteten sie darauf, die von den Blauen genommene wichtige Brücke wiederzunehmen. Nach schweren Verlusten konnten demzufolge die Regierungstruppen am rechten Seineufer Batterien errichten, welche im Verein mit denen des Mont Valerien die Porte Maillot in der Umwallung und über diese hinweg den Arc de Triomphe und die Champs-Elysees zu Zielpunkten nahmen. Den Ostersonntag und Ostermontag über ruhten die Waffen. Um 11. April sodann inaugurierte der Marschall seine Oberbefehlshaberschaft durch ein heftiges Artilleriefeuer, welches die blauen Batterien von Neuilly und Chatillon aus gegen die Porte Maillot und die Südforts richteten. Ein in der Nacht mit bedeutenden Streitkräften unternommener Versuch, die Südforts mittels Überrumpelung zu nehmen, schlug gänzlich fehl. Die Roten waren wachsam und gut vorbereitet. Sie bereiteten den Überrumpelern einen so heißen Empfang, daß diese ihn zu heiß fanden und eiligst den Rückzug antraten. Viel besser gelang etliche Tage darauf den Blauen ein Schlag vor der Westfront der Stadt: die Erstürmung des bei Asnières gelegenen, von den Roten besetzten und befestigten, den Strom, sowie die Straße zwischen Courbevoie und Asnières beherrschenden Schlosses Bécon durch die Truppen des Generals Montaudon am 17. April. Dies war für die Roten ein nicht zu mißachtendes Signal, sich definitiv auf das rechte Seineufer zurückzuziehen. Die Fortsetzung der Kämpfe in dieser Gegend, hartnäckige Feuergefechte ohn' Ende mit sich bringend, fiel schwer auf die zwischen der Umwallung und dem Strome gelegenen Ortschaften Clichy, Levallois, Champerret, Villiers und Neuilly, deren Insassen sich und ihre Habseligkeiten, so gut es ging, nach Paris hineinflüchteten, während die zierlichen Dörfer oder Städtchen selbst unter den sich kreuzenden Geschossen in Trümmer sanken. Der Plan des Marschalls wollte, daß die Truppen auf der Südseite wenigstens ebensoweit vorgeschritten sein müßten wie auf der Westseite, bevor von beiden Seiten ein gleichzeitiger Angriff auf die Umwallungslinie geschehen könnte. Aber in den Südforts, namentlich in Issy und Vanves, behaupteten sich die Roten mit wilder Zähigkeit bis in den Mai hinein gegen ihre blauen Belagerer. Denn hier sahen sich die Generale der letzteren genötigt, zu förmlichen Belagerungen zu schreiten, mit Laufgräben und allem Zubehör vorzugehen. Der Kampf um diese Zitadellen führte allerhand Krisen im Schoße der Kommune mit sich und gab auch den unmittelbaren Anstoß zum Sturze von Cluseret. Am 9. Mai fiel Issy, am 14. Mai Vanves endgültig in die Hände der Blauen. Die rote Fahne war selbst auf den Trümmerhaufen, wozu die Kugeln der Belagerer die beiden Burgen gemacht hatten, bis zur äußersten Möglichkeit aufrechtgehalten worden.

Nunmehr konnten die Truppen des Marschalls gegen die Umwallung der Stadt selber vorgehen, aber nicht etwa mit einem Sturmangriff, welcher vorerst ganz aussichtslos gewesen wäre. Spitzhacke, Spaten und Schaufel, die Berechnungen und Künste des Ingenieurs, die Wirksamkeit des Belagerungsgeschützes mußten vorerst in Anwendung gebracht werden und wurden es. Im Lieblingsparke der Pariser, im Bois de Boulogne, zwischen jenen kokett sich kreuzenden Fahr-, Reit- und Wandelwegen, auf welchen sonst der Luxus allen seinen Übermut und Frauenschönheit alle ihre Lockungen entfaltet hatten, wurde jetzt eine riesige Schanze aufgebaut und mit siebzig Geschützen schwersten Kalibers bewaffnet. Diese Batterie spie sofort ihren Eisenhagel auf den ihr gegenüberliegenden Wall und die dahinter gelegenen anmutigen Vorstädte Auteuil und Passy, und dank diesem Eisenhagel vermochte der hier kommandierende General Douay seine Laufgräben der Umwallung rasch näher zu treiben.

Aber aller Eifer der Blauen, alle ihre Vorschritte waren doch bei weitem nicht rasch genug, um den unheilvollen Gedanken, womit die Kommune oder wenigstens die Fanatiker in derselben sich trugen, von vornherein die Möglichkeit einer Verwirklichung abzuschneiden. Daß solche Gedanken, eine beispiellose Katastrophe vorzubereiten, vorhanden waren, hat nachmals die kriegsgerichtliche Untersuchung klargestellt. Übrigens hatten die Fanatiker und die Scharlatane des roten Schreckens ihrer Absichten auch gar kein Hehl. Im Gegenteil, sie machten förmlich damit Parade. Einer der roten Hauptscharlatane – zum Fanatiker war er viel zu schlecht – Jules Vallès, Mitglied der Kommune, sagte jedem, der es hören wollte, mündlich und in seinem Gossenblatt »Cri du peuple« schriftlich, daß die Roten den Blauen Paris nur als einen Trümmerhaufen überlassen wollten und würden. »Die Banditen von Versailles mögen ein Fort nach dem andern nehmen. Sie mögen auch die Stadtumwallung niederwerfen. Aber keiner ihrer Soldaten wird trotzdem Paris betreten. Wenn Thiers etwas von Chemie versteht, so wird er uns verstehen. Die Armee von Versailles mag wissen, daß Paris vor nichts, aber auch vor gar nichts zurückschrecken wird, und daß alle Maßregeln getroffen sind.«

Wie wohlbedacht diese Drohungen waren, hat der Schlußakt des roten Quartals nur allzu rot, zu blut- und feuerrot bewiesen. Unser Scharlatan von Prophet freilich scheint nicht daran geglaubt zu haben, daß andere seine finsteren Prophezeiungen in Erfüllung bringen würden. Nachstehende Szene, die ein durchaus verläßlicher Zeuge mitgeteilt hat, zeichnet den Menschen und mit ihm alle jene gewissen- und schamlosen Zigeuner, welche aus der Agitation ein Handwerk und aus der Revolution eine Versorgungsanstalt gemacht haben und machen.

Am 11. Mai erzählte im Café Madrid ein Pariser dem deutschen Publizisten G. Schneider folgendes: »Ein Freund von mir, der Direktor des Journals ›Eclipse‹, war von einem gewissen Pilotell, der – ein Karikaturenzeichner letzten Ranges und verkommenes Subjekt – vom Zentralkomitee zum Quasiminister der schönen Künste erhoben, diesen hohen Posten mit der Stelle eines Polizeikommissärs vertauscht hatte, ausgeplündert und arretiert worden. Ich wollte versuchen, durch Vallès die Freilassung des Verhafteten zu erlangen, und da man mir sagte, daß er bei dem Weinhändler Delille an der Place des Victoires zu speisen pflegte, ging ich dort hin. Bald trat Vallès ein. Er hatte sich den Bart verschneiden lassen und trug Sommerkleider mit einer roten Rosette im Knopfloch. Den unvermeidlichen Schleppsäbel an der Seite, eingehüllt in einen polnischen Schnürenrock, Ungarstiefeln an den Füßen, eine Fischottermütze auf dem Kopfe, rief er mir zu: ›Wollen Sie meine Stelle im Hotel de Ville einnehmen?‹ – ›Schönen Dank! Ich habe keine Lust, füsiliert zu werden.‹

Er legte Mütze, Rock und selbst Weste ab. Seine schwarzen Haare tropften von Schweiß; seine Augen glühten in Fieberhitze; seine Brust keuchte. ›Was für ein Handwerk!‹ rief er aus. ›Und ich, der ich so faul bin! Diese Leute dort werden mich noch verrückt machen. Sitzung bei Tage, Sitzung bei Nacht. Und wozu? Das Lob Babeufs zu singen! Sehen Sie, die Versailler entreißen uns Stunde für Stunde Terrain, Mauer, Hoffnung, wir aber sind auf heute abend zusammenberufen, um über einen Antrag Courbets zu ratschlagen, der mit seiner Demission droht, wenn man nicht die Absetzung Gottes dekretierte. Ich meinerseits werde gegen den Antrag stimmen. Gott geniert mich nicht. Nur Christus mag ich nicht leiden, so wenig wie alle Scheinberühmtheiten.‹ Vallès, der niemals gutherzig gewesen, schlug mir meine Bitte ab. Ich fragte dann noch: ›Wie soll das enden?‹ – ›O, auf die einfachste Weise von der Welt‹, entgegnete er. ›Cluseret oder ein anderer verkauft den Versaillern ein Walltor, und eines schönen Morgens liest man uns in unseren Betten auf – ein hübscher Blumenstrauß für Cayenne! Ich jedoch hoffe zur rechten Zeit benachrichtigt zu werden; mein Koffer ist gepackt: ich mache mich aus dem Staube nach der Schweiz oder Belgien. Binnen sechs Monaten gibt es in Frankreich einen Regierungswechsel, der eine Amnestie mit sich bringt. Dann kehre ich zurück und werde, dank meiner Popularität, Deputierter. Als solcher nehme ich Platz auf den Bänken der Opposition, d. h. der gemäßigten Opposition, und meiner Treu, es ist ja alles möglich, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht Minister werden sollte. Ernest Picard ist's ja auch geworden.‹

7. Verfolgungswahnsinn

»Einen Diktator müssen wir haben. Wir brauchen die Diktatur!« rief Rochefort in seinem »Mot d'ordre« aus, und wahrscheinlich fühlte dieser Schnurrant mit der Feder in sich selber das Zeug zu einem richtigen Diktator. Die ins Schranken- und Sinnlose überspannte Demokratie ist auch wirklich allzeit und überall in eine Diktatur ausgelaufen. Wenn die Menschen merken, daß ihnen mit dem Aberglauben an den souveränen Unverstand der Mehrheit nicht geholfen sei, so werfen sie sich wieder dem Aberglauben an den souveränen Verstand der Minderheit in die Arme, so leidenschaftlich, daß sie die Minderheit schließlich auf eine Persönlichkeit einschränken und nun von einem einzelnen Menschen erwarten, was die ganze Menschenmasse nicht zu leisten vermochte. Natürlich werden sie dann auch wieder betrogen. Denn von der Täuschung zur Enttäuschung und von dieser wieder zu jener zu taumeln, das ist das Los der Menschheit.

In der Kommune fand jedoch die Forderung Rocheforts keinen Anklang. Die Herren vom Stadthause hielten sich für viel zu wichtig, als daß sie irgendwem die Diktatur gegönnt hätten. Sie amteten also fort, hatten aber unter sich fortwährend mehr oder minder heftige Schismen auszugleichen. Auch mußte ja die Kommune das tatsächlich fortbestehende, aus dem Hotel de Ville in ein Haus der Rue de l'Entrepot übergesiedelte Zentralkomitee mitregieren lassen.

Wenn aber die einköpfige Diktatur verwerflich, wie war es mit einer vielköpfigen? Im Evangelio Sankti Jakobi vom dreimalheiligen Jahr 1793 steht ja zu lesen, daß so eine Diktatur, genannt Comité du salut public oder Wohlfahrtsausschuß, Frankreich und die Republik gerettet habe. Also fahren wir getrost fort in unserer Affenpolitik und machen wir ebenfalls einen Wohlfahrtsausschuß, auf daß Frankreich und die Kommune gerettet werden. Der Bürger Miot stellt den bezüglichen Antrag, und derselbe geht durch mit 34 gegen 28 Stimmen. Darauf am 1. Mai Wahl des Ausschusses durch die 34 Bejaher der Frage. Resultat: die Bürger Arnaud, Meillet, Ranvier, Pyat, Gérardin sind Wohlfahrtsausschüßler. Diese Fünfeinigkeit ist aber nicht von Dauer. Nach dem 9. Mai, von wo ab – Fort Issy war verloren – der ganze Handel schief, sehr schief zu gehen anfing, wird ein neuer Wohlfahrtsausschuß bestellt – aus den Bürgern Arnaud, Billioray, Eudes, Gambon und Ranvier. Allein das Ding ist überhaupt nicht recht lebensfähig. Eine starke Minderheit, worunter Beslay, Clément, Jourde, Vermorel, protestiert von vornherein gegen die ganze Wohlfahrtsausschüsselei, als der Einheit und dem Zwecke der Kommune zuwider. Die wirkliche Macht, soweit solche noch einheitlich vorhanden, geht nach dem 9. Mai auf den Kriegsdelegierten Delescluze über. Mit der Oberbefehlshaberschaft über die sämtlichen Streitkräfte wird der Pole Dombrowski betraut, an welchen alsbald zwei Landsleute, zwei jener »edlen Polen aus der Polakei«, wie Heine sie besungen, Byszynski und Wolowski, sich heranmachen, um ihn mit Versailles in Verbindung zu setzen, d.h. zum Verrat zu verlocken, was aber nicht gelingt. Dombrowski hält fest an der übernommenen Verpflichtung. Im übrigen spielt von jetzt an so ziemlich jeder Kommunard in Paris den Diktator auf eigene Faust, soweit eben seine Faust reicht. Die Fäuste von Gesellen wie Rigault und Ferré reichen leider weit, viel zu weit ...

Am 12. Mai gab der Wohlfahrtsausschuß in einer Proklamation den Notschrei von sich, daß die »Reaktion daran verzweifelte, Paris mittels Waffengewalt zu besiegen«, und darum darauf ausginge, die Kräfte der Roten »mittels Korruption zu zerstören«. Dann noch bestimmter: »Ihr (der Reaktion) mit vollen Händen ausgestreutes Gold hat bei uns käufliche Gewissen gefunden«. Jawohl! Selbst der schaugespielte Fanatismus eines Billioray und Mortier von der Kommune soll der gelben Beredsamkeit des Versailler Goldes nicht widerstanden haben. Indessen wurden alle Anschläge der Verräter, dieses oder jenes Tor den Blauen zu öffnen, vereitelt. Das Unheil wollte und mußte seinen Verlauf haben.

Mit dem Anfang des Maimonds kam es in rascheres Rollen und Stürzen. Die Mißachtung der Freiheit der Personen und der Sicherheit des Eigentums nahm von Tag zu Tag größere Verhältnisse an. Die Razzias bei mißliebigen reichen Leuten, die Plünderung von Kirchen und Privathäusern, die Verhaftungen »Verdächtiger«, die Jagd auf »Refraktoren«, d.h. auf Leute, welche sich dem Zwangsdienste in der Bürgerwehr entziehen wollten, das alles mehrte sich in erschreckendem Maße und nahm immer entschiedener den Charakter rohroter Brutalität an. Am 14. Mai ließ der Wohlfahrtsausschuß der Kommune das Dekret ausgehen, daß jeder und jede ihr gehörig ausgefertigte und visierte »Bürgerkarte« bei sich tragen solle. Wer nicht im Besitze einer solchen betroffen würde, sollte ohne weiteres eingetürmt werden. Auch damit hat sich der rote Schrecken von 1871 wiederum nur als der Affe des roten Schreckens von 1793 erwiesen. Doch muß man zugestehen, daß die Terroristen von 1871 in ihrem weiteren Vorschreiten etwelche Originalität entwickelten. In der Verfeinerung der Teufelei, wie auch im Ungeheuerlichen, trugen sie es sogar über ihre Vorgänger und Vorbilder davon. Die Machenschaft mit den »Geiseln« einerseits, der Hunnengedanke, Paris zu verbrennen, andererseits, geben hierfür Zeugnis. Aber nein, auch dieser Gedanke war nicht neu. Die Zerstörung von Lyon durch die alten Jakobiner konnte die neuen zur Zerstörung von Paris reizen, und hat uns nicht Frau Dudevant (Georges Sand) in ihrer Lebensgeschichte erzählt, daß, als sie eines Spätabends zu Anfang der vierziger Jahre mit ihrem Freunde Michel de Bourges den Quai der Tuilerien hinabgegangen, der genannte Radikale mit seinem Stocke gegen die Quadern des Palastes geschlagen und ausgerufen habe, dieses Schloß und alle die Paläste und Monumente in Paris müßten zerstört werden, bevor eine neue Zeit anbrechen könnte? Die düstere Wahrsagung ging in Erfüllung. Und was für ein »Neuzeitliches« ist dann gekommen? Die Republik des Belagerungszustandes, die Republik, welche sich vor dem eigenen Namen fürchtete...

Wenn man, was freilich nicht leicht ist, kaltblütig den Gang der Tragödie des roten Quartals betrachtet, so drängt sich einem der Gedanke auf, die vortretenden Rollenträger des Stückes müßten vom Verfolgungswahnsinn ergriffen worden sein. Vom tätigen, wohlverstanden! nicht vom leidenden. Man spürt da überall den Narren, aber den blutdürstigen Narren, welcher Methode in seinen Wahnwitz zu bringen weiß und folgerichtig rast.

Daß aber die Jakobinische Verfolgungswut von 1871 in erster Linie gegen die Priester sich kehrte, ist sehr begreiflich. Was hatten die Pfaffen nicht alles an Frankreich gesündigt! Sie, die jeder Scheusäligkeit des Despotismus ihren Segen gegeben, jedem an dem französischen Volke durch das Königtum verübten Frevel ihr Tedeum gesungen und im hellen Lichte des 19. Jahrhunderts ihr schandbares Verdummungs- und Verdunkelungsgeschäft mit mehr als mittelalterlicher Schamlosigkeit getrieben hatten. Sie, die sich unter die eifrigsten Bekenner und Verkünder der größten Lüge, welche jemals gelogen worden, der Papstlüge, eingereiht, und das Christentum in Frankreich zu einem der rohesten und abgeschmacktesten Götzendienste gemacht haben, womit irgendwann und irgendwo plumpe Gaukler die stupide Menge äfften. Extrem ruft ja das Extrem. Zu allen Zeiten und überall war es so. Es ist kein bloßer Zufall, es ist eine furchtbare, weltgeschichtliche Lehre und Warnung, daß die schwarzen Orgien des Afterglaubens von La Salette, Lourdes und Paray-le-Monial und die roten Orgien des Jakobinismus von La Roquette in demselben Lande und in derselben Zeit in Szene gesetzt worden sind.

Die Verhaftungen der Priester, Mönche und Nonnen war schon im April ein Lieblingsgeschäft der Kommunarden und wurde so eifrig betrieben, daß bis zum Ende des Monats wenigstens 200 Personen dieser Kategorie in der Conciergerie, in Mazas und La Santé eingekerkert waren. Etliche ließ man wieder laufen. Die Auslese behielt man vorderhand als »Geiseln«, um dieselben gelegentlich gegen von den Blauen gefangene Rote auszuwechseln oder auch an diesen »Geiseln« zu rächen, was die Versailler gegen Leute von der Kommune sündigten. Der Erzbischof von Paris, Darboy, wurde verhaftet in der ganz bestimmten Absicht, seine Freilassung Herrn Thiers anzubieten als Äquivalent für die Freigebung Blanquis. Herr Thiers fand es nicht geraten, auf dieses Ansinnen einzugehen.

Die Verhaftung des Erzbischofs erfolgte am 4. April, nachmittags 2 Uhr. Zugleich mit ihm wurden verhaftet seine Generalvikare Lagarde und Jourdan. Weiterhin die Abbés Surat, Petite Blondeau, Cerze, Allard, der Pfarrer Deguerry von der Madeleine, sechs Dominikanermönche von St. Jean de Beauvais, die Jesuiten Ducoudray, Caubert und Clerc, und diesen priesterlichen Gefangenen gesellte man den alten Herrn Bonjean, weiland Senator des Empire. Allein die Verhaftungswut richtete sich nicht etwa nur auf Priester, auf Royalisten und Bonapartisten, sondern auch auf Republikaner, welche der Kommune nicht huldigten oder welche den Groll eines der Stadthaustyrannen auf sich gezogen hatten. Aus beiderlei Ursachen wurde der allgemein geachtete Republikaner Gustav Chaudey vom »Siecle« eingekerkert, um später schandbar hingemordet zu werden. Es hatte den Bürger Rigault verdrossen, daß der arme Chaudey in ihm schlechterdings keinen großen Mann, sondern höchstens einen travestierten Danton sehen wollte.

Der Bürger Rigault blähte sich aber in der Polizeipräfektur wie ein Sultan des roten Schreckens. Als der verhaftete Erzbischof von Paris vor ihn geführt wurde und den salbungsvollen Sermon erhob: »Liebe Kinder, ich bin kein Politiker, ich verstehe nur die Ausübung meines Friedensamtes. Liebe Kinder, denkt doch nach und bedenkt, was ihr tut!« – da runzelte und rasselte ihn der Prokurator der Kommune an: »Was, Kinder! Sie stehen hier nicht vor Kindern, Bürger, sondern vor einer Behörde. Und was Ihr Gepredige betrifft, so können Sie das beiseite lassen. Wir kennen das Zeug; seit achtzehnhundert Jahren macht ihr es der Welt vor.« Der Erzbischof wagte von der Ungesetzlichkeit seiner Verhaftung zu reden. Aber da kam er übel an. »Pflichtvergessener Pfaffe!« schrie ihm Rigault zu. »Sie, der Sie dem Meineid auf dem Throne geweihräuchert haben, Sie wagen es, das Wort Gesetzlichkeit im Munde zu führen?«

Leider war die brutale Abfertigung keine ungerechte, sondern nur eine allzu verdiente. Denn allerdings hatte Monseigneur Darboy, gleich seinem Vorgänger Sibour, vor der bekannten semitischen Nase des meineidigen Verbrechers vom 2. Dezember huldigend und segnend das Weihrauchfaß herumgeschwungen.

Etliche Tage später, als der Erzbischof nach Mazas gebracht worden, ging der Doktor Demarquay, bekannt und beliebt wegen seiner unermüdlichen Fürsorge für die Verwundeten, den Beherrscher der Polizeipräfektur um die Freilassung des Prälaten an. »Wie mögen Sie sich um solches Pack kümmern?« fragte Rigault lachend. »Wenn Sie nicht aufhören damit, laß ich Sie versohlen.« Als aber der Arzt weiter in ihn drang, rief er zornig aus: »Unmöglich, Bürger Doktor! Die Losung unserer Revolution ist: ›Tod den Priestern!‹«

8. Zerstörungscancan

Wer schon Wahnwitzige beobachtet hat, weiß, daß mit ihren Wutschreien das blödsinnige Lallen, mit ihren Zorngrimassen das kindische Lachen zu wechseln pflegt.

Die Kommune hat es auch so getrieben. Sie fiel aus dem Wilden ins Läppische, aus dem Schrecklichen ins Lächerliche und umgekehrt. Wo ihr Zerstörungstrieb nicht mordete und sengte, faselte er. Die Zerstörung des Hauses von Thiers war die kindische Rache eines dummen Lümmeljahrejungen, die Zerstörung der Napoleonsäule auf dem Vendômeplatz eine barbarische Albernheit, welche bewies, daß die Kommunarden den Geist ihrer eigenen Nationalität gänzlich verkannten, und daß für den mit Recht berühmten, französischen »Esprit« im roten Quartal kein Platz war.

Die erste Gebäulichkeit, an welcher die Kommune ihren roten Zorn ausließ, war die Kirche Bréa, zur Erinnerung an den während der Junischlacht von 1848 durch die Insurgenten schändlich ermordeten General dieses Namens im dreizehnten Arrondissement erbaut. Dieses Zerstörungswerk sah ganz so aus, als wollten dadurch die Mörder der Generale Thomas und Lecomte den Mördern des Generals Bréa eine nachträgliche Ehrenerklärung geben. Dann sollte die Reihe an die sogenannte Sühnkapelle (für die Hinrichtung Ludwigs XVI.) kommen, allein der Zerstörungsbefehl gelangte nicht zur Ausführung.

Schon am 3. April hatte die Kommune ein Anklagedekret gegen Thiers und sein Ministerium geschleudert. Zugleich ein Raubdekret, denn die Besitztümer der Regierungsmitglieder sollten mit Beschlag belegt werden, bis die Angeklagten »vor der Volksjustiz« erschienen wären, um sich zu verantworten. Wofür? Dafür, daß sie patriotisch genug gewesen waren, das ihnen von seiten der rechtmäßigen Nationalversammlung Frankreichs übertragene Regierungsmandat unter den schwierigsten Umständen anzunehmen und dem roten Wahnsinn entgegenzutreten. Am 9. Mai wurde in Paris eine Proklamation bekannt, welche Herr Thiers tags zuvor an die Bevölkerung der Hauptstadt gerichtet hatte. Darin versprach er den Wehrleuten, welche die Waffen niederlegen würden, Verzeihung, sowie den Arbeitern jede mögliche Unterstützung, zugleich aber kündigte er die nachdrucksame Niederwerfung des Aufstandes an. Am 10. Mai oder, wie sie datierte, am 21. Floréal – denn auch die historische Kuriosität des »republikanischen« Kalenders von 1793 hatten die Stadthausaffen unter dem Staube der Verschollenheit hervorgescharrt – gab die Kommune ihre Antwort auf diese Proklamation, das heißt der Wohlfahrtsausschuß dekretierte, das Vermögen von Thiers sei zu konfiszieren und sein Haus auf der Place St. Georges dem Erdboden gleich zu machen.

Am 14. Mai wurde unter der Leitung der Bürger Fontaine und Andrian, jener sozusagen Domänen-, dieser Bautenminister, der kindische Vandalismus in Ausführung gebracht. Das Mobiliar, die Gemälde, die beträchtliche Bibliothek, die reiche Münzensammlung des gesetzmäßigen Staatsoberhauptes wurden weggenommen und das Haus bis auf den Grund zerstört. Ein Mitglied der Kommune illustrierte den Bildungsgrad dieser Sippschaft mittels seines scharfsinnigen Vorschlags, die aus dem niedergerissenen Hause geraubten Bronzestatuetten und alten Münzen in die Münze zu schicken, um eine hübsche Anzahl von Soustücken daraus zu prägen.

Am vorhergegangenen Tage hatte im »Journal officiel« dieses Dekret gestanden: »In Anbetracht, daß die kaiserliche Säule auf dem Vendômeplatz ein Symbol viehischer Gewalt (un symbole de force brute) und falschen Ruhmes, eine Bekräftigung des Militarismus, eine Verneinung des internationalen Rechtes, ein den Besiegten durch die Sieger zugefügter Schimpf, ein fortwährendes Attentat auf eins der drei großen Prinzipien der französischen Republik, die Bruderschaft, – befiehlt die Kommune die Säule auf dem Vendômeplatz wird umgestürzt.« Den Kommentar zu diesem Dekret gab der Bürger Pyat in seinem »Vengeur«: – »Paris wird den Mann vom Brumaire mitsamt dem Piedestal umwerfen, welches er seinem Stolz und unserer Schande, seiner Tyrannei und unserer Knechtschaft, unseren Attentaten auf uns selbst und auf andere, endlich unseren Verbrechen gegen die Freiheit Frankreichs und Europas aufgerichtet hat. Die eroberungslustigste, aber auch erobertste, die kriegerischste, aber auch friedfertigste Rasse gibt dieses Freundschaftspfand den Nationen. A bas la colonne!«

So angesehen – das ist wahr – hatte die Sache schon ihren Sinn. Aber gerade diese Betrachtungsweise war durch und durch unfranzösisch, so unfranzösisch, daß gerade der Umsturz der Napoleonischen Gloiresäule Hunderttausende, vielleicht Millionen von Franzosen standhaft Glauben machte und noch immer Glauben macht, die Kommune, welche so ungeheuerlich Unfranzösisches wollen und tun konnte, müßte schlechterdings eine fremde Machenschaft gewesen sein.

Für den eigentlichen Vendômesäulestürzer muß bekanntlich der Maler Gustav Courbet gelten, Mitglied der Kommune, in seiner Kunst ein Realist, in der Politik ein Narr. Nur ein solcher konnte beim Beginne der Belagerung von Paris durch die Deutschen an diese ein Sendschreiben erlassen, worin es hieß: »Gebt uns eure Kruppschen Kanonen! Wir wollen sie mit den unserigen zu einer zusammengießen. Diese letzte Kanone soll mit ihrer Mündung in die Höhe gerichtet, mit einer Freiheitsmütze bekränzt und als ein gemeinsamer Denkmalkoloß auf dem Vendômeplatze aufgestellt werden. Diese Säule soll euch und uns gehören; sie soll die Säule der Völker, die Säule der für immer Verbündeten Länder Deutschland und Frankreich sein.« Um dieser deutsch-französischen Phantasieriesenkanone des exaltierten Malers Platz zu machen, mußte die Napoleonsäule weg. Also bringen wir es dahin, daß die Kommune, in welcher wir ja selber sitzen, das ohnehin – künstlerisch betrachtet – unschöne Ding von bronzenem Pfahl wegdekretiere.

Und er brachte es richtig dazu. Sehr wahrscheinlich haben wir es, wie auf Schritt und Tritt in dieser Historie, auch hier wieder mit einem Plagiat zu tun, mit einer Nachäfferei der sansculottischen Nivellierungswut von 1793. Hatten damals doch in der Wolle rotgefärbte »Patrioten« die Abtragung der Türme von Notre Dame, sowie des Münsterturmes von Straßburg gefordert, weil diese »aristokratischen Unverschämtheiten von Türmen« dem Gleichheitsprinzip hohnsprächen.

Den Umsturz der Säule, Dienstags, den 16. Mai, umgab man mit allerlei rotem Brimborium und Firlefanz. An zwanzigtaufend Menschen oder mehr wohnten dem Spektakel an. Es hieß in der Menge, ein Engländer habe tausend Franks geboten, so man ihm gestattete, als der letzte zur Balustrade der Säule hinaufzusteigen, von wo man eines so prächtigen Rundblickes über die schönste Stadt auf Erden genoß. Ein anderer Engländer soll gar eine Million angeboten haben, so man ihm den ehernen Koloß käuflich überließe. Um dreieinhalb Uhr begannen die Ingenieure das Zerstörungswerk, das nur mit Hindernissen vor sich ging. Um fünfeinhalb Uhr wankte die Säule, neigte sich, löste sich von ihrem Sockel und stürzte mit einem dumpfen Krach auf die aufgeschichteten Sand-, Reisig- und Strohhaufen nieder. Im Sturze löste sich von der auf dem Säulenknaufe stehenden Napoleonstatue der Kopf ab und rollte weithin. Die Menge brach in einen Schrei aus, der ebensogut Freude als Trauer signalisieren konnte, Musikbanden spielten die Marseillaise, rotbeschärpte Kommunarden stiegen auf den Stumpf der Säule, schwangen rote Fahnen und hielten rote Reden, Veteranen aus der Napoleonischen Zeit stießen Flüche aus oder vergossen Tränen, aber man hörte auch die Bemerkung: »Das ist das Ende der (Napoleonischen) Legende«, was freilich nur eine philosophische Ansicht, keine geschichtliche Tatsache war. Denn der Glaube an den napoleonischen Mythus ist in Frankreich so wenig zu Ende wie der Glaube an den römisch-katholischen. Der weiland Graf Rochefort klatschte in seinem »Mot d'ordre« dem Sturze der Säule Beifall und forderte das Volk auf, annoch ein anderes »monument dépravateur« zu zerstören, d.h. die »Histoire du consulat et de l'empire« von A. Thiers auf dem Vendômeplatze zu verbrennen.

Man sieht, die Fanatiker aller religiösen wie aller politischen Glaubensbekenntnisse sind mit dem Verbrennen geschwind bei der Hand. Der Marschall Mac Mahon kannte und traf die Stimmung der Franzosen jedenfalls besser denn die Spektakelmacher der Kommune, als er die Nachricht von der Zertrümmerung der Säule mit einem Tagesbefehl an seine Soldaten beantwortete, worin er sagte: »Die Vendômesäule ist gefallen. Sie, welche der Feind geschont, die Kommune von Paris hat sie zerstört. Leute, welche sich Franzosen nennen, haben es gewagt, angesichts der Deutschen, deren Blicke auf uns gerichtet sind, diese Bezeugung der Siege unserer Väter gegen das verbündete Europa zu zerstören. Hofften etwa die ehrlosen Urheber dieses Attentats auf den nationalen Ruhm, damit die Erinnerung an die kriegerischen Tugenden auszutilgen, deren glorreiches Symbol dieses Denkmal war? Nein, die Erinnerungen, an welche die Säule uns mahnte, werden in unseren Herzen fortleben, und wir werden, durch sie begeistert, Frankreich ein neues Unterpfand unserer Vaterlandsliebe, Hingebung und Tapferkeit geben.« Das war französisch zu Franzosen gesprochen, und das ganze Gebaren der Soldaten des Marschalls während des jetzo anhebenden Verzweiflungskampfes um den Besitz von Paris hat den Beweis geliefert, daß sie diese Sprache verstanden und befolgten.

Am folgenden Tage, 17. Mai, hielt die Kommune eine ihrer wichtigsten Sitzungen. Es handelte sich dabei um die Ausführung ihres schon am 7. April erlassenen Dekrets in betreff der Geiseln, dessen sechs Artikel also lauteten: »1. Jede Person, die des Einverständnisses mit der Versailler Regierung beschuldigt wird, soll sofort in Anklagezustand versetzt und in Haft genommen werden. 2. Eine Anklagejury wird binnen vierundzwanzig Stunden eingesetzt, um von den Verbrechen, die ihr überwiesen werden, Kenntnis zu nehmen. 3. Die Jury entscheidet binnen achtundvierzig Stunden. 4. Alle Angeklagten, die durch den Urteilsspruch der Anklagejury gefangen gehalten werden, sind die Geiseln des Volkes von Paris. 5. Jeder Tötung eines kriegsgefangenen Anhängers der Kommune von Paris folgt sofort die Tötung einer dreifachen Anzahl von Geiseln, die auf Grund des Artikels 4 gefangen gehalten sind und durch das Los bezeichnet werden sollen. 6. Jeder Kriegsgefangene wird vor die Anklagejury geführt, welche entscheiden wird, ob er in Freiheit gesetzt oder als Geisel zurückgehalten werden soll.« Plagiat wiederum, nichts als Plagiat! Das ganze Machwerk war nicht dem Text, aber dem Sinne nach nur ein Abklatsch des »Gesetzes in betreff der Verdächtigen«, welches der Konvent im August von 1793 erlassen hatte.

Die in vier Sektionen geteilte Anklagejury trat sofort in Tätigkeit und verwies demnächst sechsunddreißig arme Teufel von pflichttreuen Gendarmen und Stadtsergeanten, welche sich in ihrer Gewalt befanden, in die lebensgefährliche Kategorie der »Geiseln«. Es war das nur ein geschminktes Todesurteil, gerade soviel wert wie die Verdikte, welche der »Bürger« Maillard inmitten des Blutdampfes der Septembermetzelei von 1792 in der »Abtei« gefällt hatte.

Es existiert eine Zeugenaussage des Herrn Rousse, Stabträgers der Advokaten von Paris, welche in drastischer Weise das Amten des Bürgers Delegierten beim Justizwesen, Protot, im Justizministerium und das des Bürgers Prokurator der Kommune, Rigault, im Justizpalast beleuchtet. An beiden Orten ging es formlos und etwas pöbelig zu, doch nicht tumultuarisch. Herr Rousse versuchte mutig zugunsten des Erzbischofs Darboy und des auf eine Angeberei von seiten des »Père Duchêne« hin verhafteten Redakteurs und Advokaten Chaudey zu intervenieren. Natürlich umsonst. Der Bürger Rigault – »ein kleiner Mensch von etwa dreißig Jahren, brünett, mit einem Vollbart, einem harten Gesichtsausdruck und einem breiten roten goldgeränderten Band im Knopfloche«, wie Rousse ihn beschreibt – gab auf die gelegentliche Frage seines Besuchers: »Wie viele Priester haben Sie denn verhaften lassen?« die Antwort: »Ich weiß es nicht genau, aber jedenfalls lange nicht genug.« Auf ein Besorgniswort des Herrn Rousse, ob nicht eine Wiederholung der Septembermorde von 1792 zu befürchten wäre, entgegnete Bürger Rigault beschwichtigend: »O, fürchten Sie nichts Derartiges! Wir sind ganz und gar die Herren und Meister des Volkes.«

In der Tat, das waren sie. Wie ein wohldressierter Pudel die Winke oder Worte seines Herrn, also befolgte das Volk von Paris die Anordnungen und Befehle der Stadthausgebieter. Dadurch kam Ordnung in die Unordnung, Methode in den Wahnsinn. Die Regierungsmaschine arbeitete so regelrecht wie eine andere. Abgesehen von der dem Systeme anhängenden Unannehmlichkeit, daß niemand auch nur eine Stunde sicher war, für den Dienst in der Bürgerwehr gepreßt und den Kugeln der Blauen entgegengetrieben oder als des Einverständnisses mit Versailles verdächtig verhaftet und den Geiseln beigesellt zu werden, abgesehen auch von dem Ärgernis für fromme Seelen, daß die Kirchen geschlossen oder in Klublokale verwandelt waren, konnte man in Paris während der zweiten Belagerung ganz anständig, ja vergnüglich leben. Viele, sehr viele Leute lebten auch wirklich ganz vergnüglich in den Tag und vergnüglichst in die Nacht hinein. Von einem bis zum Morgengrauen verlängerten Bacchanal auftaumelnd, fuhren Lebemänner und Liebeweiber mitsammen nach den Champs Elysees hinaus, um sich am Anblick der Flammenfurchen zu ergötzen, welche die von diesseits und jenseits des Stromes sich kreuzenden Bomben und Granaten in der Luft hinter sich herzogen. Die Theater waren überfüllt, und während von der Umwallung her der Kanonendonner dröhnte, wollte sich das Publikum über Possen wie »Die dreischnäbelige Ente« und andere ähnliche fast zu Tode lachen.

Und was gab es nicht täglich auf den Straßen zu begaffen! »La mère Commune« sorgte ja beflissentlichst, daß es nie an Spektakeln fehlte. Eines schönen Aprilmorgens veranstalten wir auf dem Boulevard Voltaire zu Füßen der Statue des Patriarchen von Ferney einen »Auto de fé«, aber keinen spanischen Glaubensakt, sondern einen, wie er uns Bürgern der Republik Utopia geziemt. Angesichts einer ungeheuren Menschenmenge zertrümmern wir feierlich eine Guillotine, »die der Tyrann Thiers hat neu anfertigen lassen«, und verbrennen die Trümmer des vermaledeiten Mordinstruments, welches der Menschenbruderschaft hohnspricht, feierlichst auf einem zu diesem Zwecke geschichteten Holzstoße. Wozu denn soll uns noch die umständliche Wegsäuberungsmaschine des Doktors Guillotin, da wir die einfacheren, expeditiveren, »wunderwirkenden« Chassepots haben? Der Wonnemond bringt uns reichen Wechsel von Augenweide. Wir sehen das verfemte Haus am St. Georgsplatze einreißen, sehen die Vendômesäule fallen, und nachdem am 17. Mai die große Munitionsfabrik auf dem Marsfelde in die Luft geflogen – zweifelsohne eine teuflische Bosheit der Blauen! –veranstaltet die Kommune den mehr als hundert Opfern der Explosion einen Bestattungspomp, welcher die ganze Majestät der Trauer und der Rache zur Schau stellt. Und sind nicht Tag für Tag die Schaufenster der Kaufläden von Karikaturen voll, die so drastisch, daß sie sogar unseren Loretten und Biches und Kokotten unter dem Rot ihrer Schminke noch ein anderes Rot auf die Wangen jagen? Und regnet es nicht täglich geistreiche und zwanglose Bonmots? Was kommt dem Witze gleich, den der Bürger Prokurator der Kommune riß, indem er einem Pfaffen, welcher ihn gebeten, seine Amtsbrüder in Mazas besuchen zu dürfen, diesen Passierschein ausstellte: »Ein gewisser N. N., welcher sich für den Diener eines gewissen Herrn Gott ausgibt, darf ein und ausgehen.«

Sodann steht es uns frei, die in den Sälen der Tuilerien zur Ergötzung des »peuple souverain« von seiten der Kommune veranstalteten Konzerte zu besuchen, oder aber wir verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen, die Übung unserer Bürgerpflicht mit dem Amüsement, indem wir einen der in den weiland Kirchen debattierenden Klubs besuchen, wo es abends immer laut und lustig hergeht und Damen in Menge vorhanden sind – Damen, sag' ich euch, wie sie im Pandämonium sein müssen. Etliche dieser Klubs treiben die Liberalität und Toleranz bis zum Exzeß. So ist z.B. am Eingange der Kirche Nikolas des Champs in der Rue St. Martin die Klubordnung angeschlagen, welche also lautet: »1. Von heute an finden die Klubsitzungen und der Gottesdienst in demselben Lokale statt. 2. Um der Einträchtigkeit willen wird der Priester die Gläubigen anreden: Bürger! und die Klubredner ihrerseits werden sagen: Meine Brüder! 3. In der Sakristei ist eine Wirtschaft eingerichtet, damit die Bürger, welche der Messe angewohnt haben, die Eröffnung der Klubsitzung abwarten können, ohne die Kirche zu verlassen. 4. Den Klubrednern ist untersagt, das als veraltet abgeschaffte Wort Gott in den Mund zu nehmen.«

In diesem »duldsamen« Klub stand eines Abends die These: »Verachtung der Gesetze und Umsturz aller Einrichtungen sind die ersten Pflichten eines freien Mannes« – auf der Tagesordnung. Hier, in der Kirche Nikolas des Champs, hörte ein deutscher Ohrenzeuge am Abend vom 14. Mai einen Vortrag mit an, gehalten von einer Emanzipierten, einen raren Vortrag über die Rechte der Frauen. Die Vorträglerin kam zu dieser Schlußfolgerung: »Die Männer sind dazu da, um viel, sehr viel Geld zu verdienen und nur um Geld zu verdienen; die Frauen dagegen, um 1. dieses Geld auszugeben und um 2. möglichst wenige Kinder zu haben. Denn die Kinder sind nächst den Regierungen das größte Übel auf Erden. Je mehr es Menschen gibt, desto mehr verteilt sich der Besitz, folglich desto mehr Armut. Wir Französinnen haben den wesentlichen Vorzug vor den Frauen anderer Nationalitäten, daß wir keine solchen Fruchtbäume sind, wie z. B. die Deutschinnen und die Engländerinnen, welche, das ist klar, ebenso langweilig als kostspielig sind.« Zu derselben Zeit, vielleicht an demselben Abend, wohnte ein französischer Ohrenzeuge der Klubsitzung in der Kirche St. Jacques an. Hier ging es schon weniger tolerant zu: Gott, Priester und Gottesdienst wurden nicht geduldet. Das Becken beim Eingang enthielt statt des Weihwassers Tabak. Der Altar diente zum Schenktisch und war mit Flaschen und Gläsern besetzt. Der Statue der Muttergottes in einer Seitenkapelle hatte man die Uniform einer Marketenderin angetan und eine Tabakspfeife in den Mund gesteckt. Auch hier überwog die Anzahl der Bürgerinnen die der Bürger weit, und »ein großer Teil dieser Patriotinnen erfreute sich mit gerechtem Stolze einer Nase, deren Rot würdig gewesen wäre, auf den Zinnen des Hotel de Ville zu flattern«. Von der Kanzel herab, welche als Rednerbühne diente, donnerte ein emanzipiertestes Frauenzimmer gegen das »abscheuliche Institut der Ehe«. Unter großem Beifall argumentierte die Rednerin: »Die Ehe, vielgeliebte Mitbürgerinnen, ist der größte Irrtum der alten Gesellschaft. Verheiratet sein und Sklave sein ist ganz einerlei. Wollt ihr Sklaven sein? (Nein! Nein!) In einem wahrhaft freien Staate müßte die Ehe gar nicht geduldet werden, man sollte sie für ein Verbrechen ansehen und strenge verbieten. Denn niemand hat das Recht, mittels Preisgebung seiner eigenen Freiheit seinen Mitbürgern ein schlechtes Beispiel zu geben. Die Ehe ist, wie leicht zu beweisen, nichts als ein fortwährendes Attentat auf die guten Sitten.« (Beifallssalve.) Ein dritter zahlreich besuchter Weiberklub trieb seine Mummereien in der Kirche St. Ambroise. Hier war besonders die »totale Abschaffung der Religion« das Thema, über welches das Geschnatter der tollgewordenen Gänse sich ausließ. Im Klub der Kirche St. Eustache dagegen führten sich die Weiber verhältnismäßig konservativ auf und fistulierten mitunter heftig gegen die Maßnahmen der Kommune.

Das Jahr 1793 hatte seine »Strickerinnen Robespierres« und seine »Guillotinefurien« gehabt; das Jahr 1871 hatte seine »Amazonen« und seine »Marketenderinnen der Kommune«. Alte Narrheiten kehren in neuen Verkleidungen immer wieder. Die Weltgeschichte würde ja ein unausstehlich trauriges Trauerspiel sein, wenn sie nicht zugleich ein lustiger Karneval wäre. Welche Sorte von Weibern in den Rollen von Amazonen oder Marketenderinnen sich gefiel, braucht nicht erörtert zu werden. Doch ist um der Wahrheit willen zu sagen, daß nicht lauter Auswurf in die bewaffneten Weiberbanden – es sollen an den letzten verzweifelten Kämpfen der Kommune an zehntausend Streiterinnen teilgenommen haben – sich einreihen ließ. Jugendgrüner Enthusiasmus oder die gefrorene Verbitterung des Altjungferntums machten auch reinere Frauen zu Amazonen. Dies gilt z.B. von der jungen Russin Demitriew, welche die erste Anregung zur Weiberbewaffnung großen Stils gegeben, und von der ältlichen Institutrize Louise Michel, der ihr heldisches Fechten den Namen einer »Jeanne d'Arc der Kommune« eintrug und die auch nachmals vor dem Kriegsgerichte zu Versailles noch die ganze Unbeugsamkeit einer Fanatikerin bewies. Wenn das Weib einmal die Schranken der Weiblichkeit übersprungen hat und in der Region der Extreme sich herumtreibt, überbietet es bekanntlich den Mann an Wildheit und Wut. Das Amazonentum von 1871 war demnach häufig genug reines oder vielmehr unreines Megärentum. Eines Apriltages tritt so ein streitbares Weib, das Gewehr mit blutigem Bajonett über die Schulter gehängt, in der Rue de Montreuil in einen Laden. Eine anwesende Bürgersfrau, welche die Eintretende kennt, sagt zu ihr: »Wäre es nicht besser, Sie blieben zu Hause und pflegten Ihre armen Würmer?« Sofort wirft sich die Kommunesoldatin auf die Frau, beißt sie in den Hals, springt dann etliche Schritte zurück und reißt wütend ihr Gewehr von der Schulter, um auf die Gegnerin Feuer zu geben. Aber plötzlich überzieht eine fahle Blässe ihr Gesicht; sie läßt die Waffen fallen, stürzt selber zu Boden und ist tot. Die Wut hatte ihr eine Herzader zerrissen.

Wollt ihr den sittlichen oder unsittlichen Zustand einer Zeit, eines Ortes kennen, so fragt dem Weibe nach. Wie die Frau, so die Gesellschaft. Das Paris der Kommune war ein ungeheures Freudenhaus. Lest die Schilderungen der Augen- und Ohrenzeugen Bacciocco, Schneider und Mendès. Der letztgenannte schrieb in sein Tagebuch, einer seiner Freunde habe, empört über die Frechheit, womit das Laster auf den Boulevards seine schmachvollen Triumphe feierte, die düsteren Worte zu ihm gesprochen: »Wann Paris vollständig zerstört sein wird, wann seine Häuser, seine Paläste, seine Denkmäler in Trümmer und Staub zerfallen, den verfluchten Boden bedecken und der Himmel nur noch auf eine ungeheure Ruine herabsieht, dann wird man aus dieser unermeßlichen Totenstadt das Gespenst eines Weibes auftauchen sehen, ein Skelett, mit gleißender Robe angetan, entblößt bis unter die Rippen, den Schädel aufgeputzt mit falschen Locken und flimmerndem Geschmeide, und dieses von Trümmerhaufen zu Trümmerhaufen wankende Gespenst wird zeitweise den Kopf umwenden, um zu sehen, ob nicht irgend ein ebenfalls ins Leben zurückgerufener Wüstling ihm in diese Öde folge, und dieses schauerliche Gespenst wird der verfluchte Schemen der Sünderin Paris sein.«

9. »O, welcher Mordkampf hat sich da entsponnen!«

Derweil nahm der Bürgerkrieg seinen Fortgang und steigerte von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde seinen Grimm und sein Grausen.

Aber fanden sich denn nicht hüben und drüben Männer, welche gesund genug fühlten und dachten, das Vaterland über die Partei zu stellen und um jeden Preis, d.h. um jeden Preis gegenseitiger Nachgiebigkeit diesem schrecklichen, ärgernisvollen Kampfe ein Ende zu machen? Nein. Oder wenigstens hatten solche Männer keine Macht. Diese war hüben und drüben bei den Fanatikern, welche von nichts wissen wollten als von der Vernichtung des Gegners.

Es war rein vergeblich gewesen, daß am 9. April die »Union républicaine«, ein Verein von besonnenen Republikanern, mit gemäßigten Mitgliedern der Kommune eine Vereinbarung erzielte, welche das Programm aufstellte: »Staatliche Einheit Frankreichs und munizipale Selbständigkeit der Gemeinden« – und dieses Programm zur Basis einer Waffenstillstands- und Friedensverhandlung mit der Nationalversammlung gemacht wissen wollte. Die royalistischen und pfäffischen Ultras, welche die Mehrheit der Versammlung ausmachten, wollten von diesem Programm nichts hören. Diese Rückwärtser schrien auch jetzt wieder, wie sie oder ihre Gesinnungsgenossen im Juni von 1848 geschrien hatten: »Man muß ein Ende machen mit der Revolution!« und das Haupt der Exekutivgewalt, Herr Thiers, war ganz entschieden derselben Meinung. Das äußerste Zugeständnis, zu welchem er sich herbeiließ, war das Versprechen einer allgemeinen Amnestie im Falle der Unterwerfung von Paris. Nur die Mörder von Thomas und Lecomte sollten, wie billig, von dieser Amnestie ausgenommen sein.

Auch das Auftreten der Pariser Freimaurer zugunsten einer Ausgleichung und Versöhnung schlug gänzlich fehl und vermehrte nur die ohnehin reiche Spektakelsammlung des roten Quartals um ein weiteres. Als am 29. April die Brüder Freimaurer, achttausend oder gar zehntausend Köpfe stark, beim Stadthause sich versammelten, um durch ihren Bruder Redner Thirifocq mit den Kommunarden Beslay, Meillet und Pyat höchst wohlgemeinte und sonor deklamierte Standreden über die Schönheit und Wünschbarkeit des Weltfriedens und der Menschenbruderschaft auszutauschen, und als sie sodann in feierlicher Prozession mit ihren Fahnen, Schurzfellen, Winkelmaßen und Kellen durch die Stadt zur Umwallung hinauszogen, um auf derselben ihr großes weißes Friedensbanner mit der Inschrift »Aimons-nous!« aufzupflanzen, da konnte man wieder einmal recht deutlich sehen, daß vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt ist. Die Freimaurer taten diesen Schritt mit allem Anstande, das muß man sagen, mit echt französisch-theatralischer Grazie. Allein das ganze Schauspiel endete damit, daß eine aus einem Geschützrohr der Blauen kommende Kugel das Friedensbanner mitsamt seiner liebseligen Devise in Fetzen riß.

Ein letzter Vermittelungsversuch ward noch in der letzten Stunde gemacht, d.h. als der Todeskampf der Kommune bereits begonnen hatte. Gegen den 29. Mai hin mußten nämlich selbst die rötesten Roten in der Kommune erkennen, daß keine Hoffnung auf Sieg mehr sei. Am genannten Tage ließ demnach der Wohlfahrtsausschuß sich herbei, Delegierte der »Union républicaine« zu ermächtigen, auf Grund des vorhin erwähnten Programms derselben in Versailles einen Waffenstillstand zu beantragen. Allein die Delegierten vermochten erst am 22. Mai eine Audienz bei Thiers zu erlangen, und dannzumal waren die Blauen schon in die Stadt eingedrungen und raste der Kampf innerhalb derselben so wütend, daß selbst beim besten Willen kaum daran zu denken war, demselben Einhalt zu tun. Übrigens war dieser beste Wille auch nicht vorhanden, in der Präfektur zu Versailles so wenig wie im Stadthause von Paris. Dort nicht, weil man des Sieges gewiß war; hier nicht, weil man sich so oder so verloren sah, obzwar man sich und anderen noch immer vorlog, daß Rettung und sogar Triumph möglich wäre.

Die letzte Maiwoche brachte die Katastrophe, brachte hochrote Pfingsten, wie Paris noch keine gesehen hatte.

Wenn man vom Boulogner Walde her durch die Porte La Muette die große Umwallung passiert und den Schienendamm der Gürteleisenbahn hinter sich hat, so erblickt man in der Richtung auf Passy zur Rechten Park und Schloß La Muette. Hierher hatte der Obergeneral der Kommune, Dombrowski, sein Hauptquartier verlegt, als es der Entscheidung zuging. Er stellte den mehr und mehr an den Wall herangekommenen Belagerern einen zähen und geschickten Widerstand entgegen, vermochte aber mit seinen Mitteln die Überlegenheit der blauen Artillerie in die Länge nicht zu bestreiten. Diese Überlegenheit machte es dem Polen am 20. Mai klar, daß die Walllinie, obzwar bis zur Stunde noch keine Bresche in dieselbe gelegt war, nicht mehr zu halten wäre und daher von der Porte Maillot bis hinunter zur Porte St. Cloud geräumt werden müßte. Aber nur, um eine zweite Verteidigungslinie desto hartnäckiger zu halten, den Schienendamm der Gürtelbahn, welcher ganz zweckentsprechend gelegen und gebaut war. Den Rückzug auf diese Linie befahl Dombrowski am folgenden Tage.

Wäre nun der Rückzug mit der erforderlichen Ordnung vollzogen worden, und hätten sich die Roten auf und hinter dem Eisenbahndamm gehörig einzurichten vermocht, so würden sie zweifellos imstande gewesen sein, die Westfront der Stadt noch mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen vor dem Einbruch der Blauen zu schützen. In diesem Falle, so hat man mit Recht gefolgert, müßte die Katastrophe noch viel schrecklicher geworden sein, weil der rote Zerstörungswahn mehr Zeit gehabt hätte, seine Absichten zu Taten zu machen. Auf das Vorhandensein solcher Absichten ist schon früher hingewiesen worden. Doch mag hier noch die Bemerkung stehen, daß die Behauptung, es sei im Schoße der Kommune oder des Wohlfahrtsausschusses oder des Zentralkomitee ein förmlicher Plan zur systematischen Zerstörung von Paris im Falle der Niederlage, ein förmlicher Plan der Unterminierung, Sprengung und Verbrennung der Stadt ausgearbeitet worden, nirgends erwiesen wurde, auch durch die nachmalige Prozedur der Kommunarden vor dem Kriegsgerichte nicht. Freilich die Tendenz zu einer solchen Ungeheuerlichkeit rumorte unter mehr als einer Schädeldecke, wie uns ja von der Hand mehr als eines Mitgliedes der Kommune schwarz auf weiß bezeugt ist. Aber es wird nichts so heiß gespeist, als es gekocht ist, und von der fixen Vorstellung eines Narren bis zur methodischen Ausführung derselben ist ein weiter Weg. Demnach dürfte, alles zusammengehalten, die geschichtliche Wahrheit sein, daß der wahnwitzige Zerstörungsgedanke, obzwar von diesem oder jenem Fanatiker schon viel früher ausgeheckt, erst in den Nöten des Verzweiflungskampfes systematisch-tatsächliche Gestalt gewann, und daß die mit Petrol getränkte Brandfackel zunächst als strategisches Mittel in Anwendung kam. Jedoch soll damit keineswegs verneint werden, daß diese Fackel, nachdem sie einmal geschwungen war, in den Händen von Gesellen wie Ferré und Rigault zur gemeinen Mordbrennerfackel geworden, und daß diese und ihnen ähnliche Bösewichte dem teuflischen Gelüste nachgegeben haben, die Zerstörung der Paläste und Häuser von Paris um der Zerstörung willen zu betreiben.

Wäre diesen Rasenden Zeit gelassen worden, ja dann würde Paris, ganz Paris in einem Flammenmeere versunken sein.

Sie hatten keine Zeit.

Montag, den 22. Mai, wurden in der Morgenfrühe die Pariser durch einen furchtbaren, von Westen her vorschreitenden Kanonendonner geweckt. Wer auf die Straßen hinabeilte, sah Volkshaufen vorüberlaufen und hörte sie schreien: »Die Blauen sind in der Stadt. Die Versailler sind einmarschiert.« Oder: »Die Rothosen sind da. Wir sind verraten.« Oder: »Man schlägt sich beim Viadukt von Auteuil und auf dem Marsfelde.« Dem Geschützedonner vom Westen gibt solcher vom Nordosten Antwort. Die Batterien auf dem Montmartre werfen ihre Bomben zum Triumphbogen hinüber. Neue Volkshaufen, neue Schreie der Angst, der Wut, der Verzweiflung. Dann das alles zusammengefaßt in den Ruf: »Barrikaden!« Auf den Boulevards wenige Eilgänger, Wirtschaften und Magazine geschlossen. Der Barrikadenbau beginnt in allen gegen den Rundplatz, aus welchem der Are de Triomphe aufragt, hinausführenden Straßen. Vorübersprengende Offiziere, kreischende Kommandoworte, fieberische Tätigkeit von Männern, Frauen, Kindern, welche Pflastersteine und anderes Barrikadenmaterial herbeischleppen. Hochaufgeschürzte Amazonen, Ingrimm in den bleichen Gesichtern, die rote Kappe aufs wirre Haar gestülpt, haben sich vor Mitrailleusen gespannt und ziehen dieselben im Laufschritte herbei. Vorbeigehende, die weder Bürgerwehrröcke noch Blusen anhaben, werden ohne Umstände zum Steinetragen gepreßt, mehr oder weniger höflich oder grob. »Nicht wahr, Monsieur, Sie werden so freundlich sein, uns ein bißchen zu helfen?« Aber auch aus der Dur-Tonart: »Bürger, du wirft so gefällig sein, uns nicht zu bespionieren, sondern Steine herbeizutragen, oder ich schlage dir den Schädel ein.«

Die Blauen waren also in der Stadt. Wie war das zugegangen? Hatte wirklich der Prophezeiung des Bürgers Jules Vallès gemäß einer der Kommunegenerale dieses oder jenes Tor an die Versailler verkauft? Nein. Ihr Erfolg, d.h. die Möglichkeit des Eindringens in die Stadt, war für die Regierungstruppen selbst eine Überraschung gewesen. Die zweite Belagerung von Paris endete mit einem Handstreich, welcher zunächst durch die kühne Entschlossenheit eines einfachen Bürgers ermöglicht wurde.

Die Belagerer hatten ihre Laufgräben bis unter den Wall vorgetrieben. Bis Dienstag, den 23. Mai, hofften sie Bresche schießen und dann zum Sturmangriff schreiten zu können. Sie wußten nicht, daß die Überlegenheit ihrer Batterien den Roten die längere Behauptung der Umwallung unmöglich gemacht und demzufolge Dombrowski den Rückzug zum Gürtelbahndamm befohlen hatte. Ebenso unbekannt war ihnen, daß dieser Rückzug sehr unordentlich bewerkstelligt wurde und die Streiter der Kommune, statt in ihrer neuen Aufstellung sich gehörig einzurichten, vorgezogen hatten, in den Schenken von Auteuil und Passy sich ein Sonntagsvergnügen zu machen. Bei sotanen Umständen war die Umwallung aufgegeben und leer, der Bahndamm dagegen entweder noch gar nicht oder doch nur ungenügend besetzt.

Um drei Uhr nachmittags sahen Rothosen, welche in der bis nahe vor die Bastionen der Porte St. Cloud getriebenen Tranchee wachtstanden, einen bürgerlich gekleideten Mann auf der Höhe der Umwallung erscheinen, ein weißes Tuch schwenkend. Das war der Bürger Jules Ducatel, ein Subalternbeamter beim städtischen Straßenwesen. Mit Einsetzung seines Lebens benutzte er den günstigen Augenblick, um die Regierungstruppen zu verständigen, daß sie den Wall übersteigen könnten, ohne Gegenwehr zu finden. Ein Kapitän vom Genie, Garnier, der an dieser Stelle die Belagerungsarbeiten leitete, bemerkte den winkenden Mann ebenfalls, traute jedoch dem Gewinke nicht recht, sondern argwöhnte auf seiten der Roten die Kriegslist, die Blauen auf eine Mine zu locken. Trotzdem, da Ducatel, auf die Gefahr hin, in jedem Augenblick von Wehrleuten der Kommune in seinem gefährlichen Beginnen überrascht und niedergeschossen zu werden, mit seinem Taschentuche zu wehen fortfuhr, näherte sich der Offizier dem Manne bis auf Gehörweite, rief ihn fragend an und erfuhr von ihm den Sachverhalt. Garnier vergewisserte sich mittels einer sofort vorgenommenen Erkundung von der Wahrheit der Aussage Ducatels, und ein gerade zufällig in den Laufgräben weilender Seekapitän, namens Tréves, depeschierte die unverhoffte Neuigkeit nach Versailles. Die Führer der zunächst stehenden Truppenteile wurden ebenfalls eilends benachrichtigt und begannen noch vor vier Uhr ihre zweckdienlichen Bewegungen. Die Division Bergé bemächtigte sich der Porte St. Cloud, die Division Berthaut des Raumes zwischen der Umwallung und dem Bahndamm. Dann wurden fliegende Kolonnen innerhalb der Wälle nordwärts vorgeschoben, um sich der Tore von Auteuil und Passy zu bemächtigen, durch welche dann die draußen bereitstehenden Mannschaften des Generals Ladmirault hereindrangen. Etwas später marschierte auf der Südseite das Korps Cissey durch die Tore von Versailles und Vanves in die Stadt. Die Dunkelheit war noch nicht völlig hereingebrochen, als sich schon achtzigtausend Mann Regierungstruppen auf der Stadtseite der Umwallung befanden, die drei Korps der Generale Douay, Ladmirault und Cissey. Es muß denn doch eine große Lockerung und Lotterung unter den Roten eingerissen gewesen sein an jenem Sonntagsabend. Denn der Widerstand, welchen die Blauen fanden, war so nichtssagend, daß sie noch an demselben Abend zu weiterem Vorgehen sich entschließen konnten. Die Dunkelheit begünstigte diese weiteren Handstreiche, welche das Schloß La Muette, den Trokadero, den Triumphbogen, das Marsfeld und das ganze Quartier Vaugirard in die Gewalt der Truppen brachten. Auf dem Trokadero und beim Arc de Triomphe versuchten die überraschten Roten allerdings Gegenwehr, vermochten aber damit nicht aufzukommen. Am letztgenannten Orte waren sie mitten im Bau einer Batterie überrascht worden. Die Blauen kehrten die Geschützemündungen alsbald gegen die Champs Elysees hinab und schickten Kugeln bis zum Industriepalast und Eintrachtsplatz. Diese Begrüßung beantworteten die Roten mit Geschossen, welche eine von ihnen auf der Terrasse der Tuilerien errichtete Batterie die Prachtstraße der Champs Elysées entlang zum Triumphbogen hinaufsandte.

In der inneren Stadt vernahm man wohl dieses Kanonenduett, aber man war solchen Singsangs seit Monaten so gewohnt, daß man sich zum schlafen niederlegte, ohne zu ahnen, daß die Blauen innerhalb der Umwallung. Soweit diese am Abend in der Dunkelheit hatten vordringen können, waren sie in diesen Quartieren, namentlich in den Westendquartieren rechts der Seine laut sympathisch empfangen und als Befreier begrüßt worden. Das war ganz in der Ordnung. Aber nicht in der Ordnung war, daß die Soldaten der Regierung jetzt schon alle Roten, deren sie habhaft werden konnten, erbarmungslos niedermachten und von ihren Offizieren von dieser Mordwut keineswegs abgemahnt, sondern vielmehr noch dazu angeeifert wurden. Alle auch nur halbwegs anständigen Menschen in Europa haben sich über die Greuel, welche die Roten während des Verzweiflungskampfes der Kommune verübten, entsetzt. Aber der nur allzu gerechtfertigte Abscheu hätte nicht bloß auf eine Seite fallen sollen. Denn nicht allein die roten Besiegten, sondern auch die blauen Sieger haben sich wie wilde Bestien aufgeführt. Nein, nicht so, sondern so wild und wüst, wie nur der Mensch, nicht das Tier, zu wüten vermag. Da, in dieser schrecklichen Pariser Woche hat sich die vielgerühmte »christliche« Zivilisation wieder einmal herrlich sehen lassen, wie sie sich eben immer und überall sehen ließ und sehen läßt, wo die elementaren Triebe und Leidenschaften der Menschenbestien, alle konventionellen Anerzogenheiten abstreifend, kämpfend aufeinanderprallten und aufeinanderprallen ....

Das war ein Erwachen am Morgen dieses 22. Maitags! Von Vaugirard im Süden bis zum Montmartre und La Villette im Norden, vom Kai d'Orsay und von der Madeleine im Westen bis nach Belleville und zum Père Lachaise im Osten lief der Schreckensruf: »Die Versailler sind in der Stadt!« Aber alsbald rollte diesem Ruf wie ein Widerruf der Alarmschrei nach: »Zu den Waffen! Auf die Barrikaden!« Und mit diesen in tausenderlei Modulationen wiederholten Rufen und Schreien mischten sich das Wirbeln der Trommeln, Hörnersignale, das Heulen von tausend Sturmglocken, das Rasseln fahrender Geschützzüge, das »Husten« der Mitrailleusen, Bombengezische, Chassepotsgeknatter – und alle diese Laute stoßen zusammen in einen chaotischen Schwall, in ein dumpfes, unartikuliertes, nervenfolterndes Gedröhne. Man konnte glauben, das Todesröcheln der Riesenstadt zu hören.

Noch war es aber nicht so weit. Die rote Fahne senkte sich nicht faul und feig vor der tritoloren. Nein, bis zur äußersten Möglichkeit wurde sie emporgehalten, solange überhaupt noch Arme da waren, sie zu halten. Nur deutsche Hofhistoriographen, Leute ohne Eingeweide, Liberale mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung könnten bestreiten wollen, daß hier für eine schlechte Sache mit einem Todesmut gestritten würde, wie er selbst für eine beste nie heldischer aufgewendet worden.

In der Frühe wurde ein Aufruf vom Kriegsdelegierten Delescluze ausgegeben, der zum Widerstande bis aufs Messer aufforderte. Ein wunderliches Dokument, ganz aus unbestreitbaren Wahrheiten und grotesken Lügen zusammengerührt. Alles aus dieser Tonart: »Zu den Waffen, Bürger, zu den Waffen! Ihr wißt, es handelt sich darum, zu siegen oder den Pfaffenknechten von Versailles in die unbarmherzigen Hände zu fallen, diesen Schuften, welche Frankreich den Preußen ausgeliefert haben und uns jetzt den Preis für ihren Verrat bezahlen lassen wollen. Zu den Waffen! Auf die Barrikaden!«

Die Kommune, des Zentrums der Stadt, sowie der im Norden und Osten gelegenen Vorstädte sicher, hatte also den Kampf um ihr Sein und Nichtsein an- und aufgenommen. Nicht vergebens auch rief sie zu den Waffen. Wohl an fünfzigtausend Streiter gehorchten dem Rufe, darunter ganze Bataillone von Amazonen. Es mußte selbst von den Siegern, als sie die Geschichte der Besiegten schrieben, widerwillig anerkannt werden, daß von Frauen die Barrikaden häufig am hartnäckigsten verteidigt wurden. Auf den endlich von den Truppen erstürmten Trümmern vieler dieser improvisierten Zitadellen fand man die Leichen schöner Mädchen, auf der Schulter die Offiziersepauletten, im jungen Busen die Todeswunde. Überwältigt und gefangen, ließen Streiterinnen der Kommune nicht ab, noch mit den Fäusten und Zähnen zu kämpfen, bis man sie niederschoß.

Das unerwartete Eindringen der Blauen hatte das Verteidigungssystem der Roten sehr lückenhaft gelassen. Der Barrikadenbau konnte in vielen Straßen erst Montags, den 22. Mai, angehoben werden und mußte daher überhastet werden. Etliche Hauptpunkte jedoch konnten für wohlvorbereitet gelten, dem Angriff zu trotzen. So auf dem linken Stromufer das rechts von der Rue Jacques gelegene Pantheonquartier, auf dem rechten das Hotel de Ville, der Vendômeplatz, das Chateau d'Eau, weiterhin die Butte Montmartre, die Butte Chaumont oberhalb Belleville und der bekannte Kirchhof Père Lachaise, ostwärts zwischen der Gürteleisenbahn und der Umwallung gelegen.

Am 22. Mai hörte die Kommune als solche zu existieren auf, indem sich ihre Mitglieder an ihre verschiedenen Posten in den einzelnen Bezirken begaben. Zu einer vollzähligen gemeinschaftlichen Beratung traten sie nicht wieder zusammen. Im Stadthause verblieb nur die Delegation beim Kriegswesen und das Komitee der öffentlichen Sicherheit. Die letzte Nummer des »Journal officiel« kam am 23. Mai heraus. Zu den letzten Bekanntmachungen der Kommune, die aber schon nur noch von Hand zu Hand verbreitet werden konnten, gehört das berüchtigte, vom »3. Prairial des Jahres 79« datierte, von Delescluze, Régère, Ranvier, Johannard, Vesiner, Brunel, Dombrowski unterzeichnete Branddekret: »Bürger Millière wird an der Spitze von hundert Zündern (fuséens) die verdächtigen Häuser – (d.h. Häuser, aus welchen irgend ein feindseliger Akt hervorgehen sollte) – und die öffentlichen Denkmäler auf dem linken Ufer anzünden. Bürger Derreure mit hundert Brandmännern ist für das erste und zweite Arrondissement beauftragt. Bürger Billioray mit hundert für das neunte und zehnte Arrondissement. Bürger Besiner mit fünfzig im besonderen für die Boulevards von der Madeleine bis zur Bastille. Die Bürger werden sich mit den Barrikadenchefs ins Einvernehmen setzen, um die Ausführung dieser Befehle zu sichern.« Gegen die Echtheit dieses Dokumentes haben sich jedoch schwerwiegende Bedenken erhoben, so schwere, daß ich es ausdrücklich nur als ein zweifelhaftes gelten lassen kann, ja sogar, was meine persönliche Meinung angeht, für ein nachträglich fabriziertes anzusehen geneigt bin. Dagegen halte ich den berüchtigten, obzwar von roter Seite her ebenfalls für untergeschoben erklärten, lapidarisch-lakonischen Brandbefehl Ferrés: »Verbrennt sofort das Finanzministerium!« (faites de suite flamber Finances) für echt, bis die Falschheit der Unterschrift dargetan ist.

Wäre des Grafen und Abbé Sieyès Todesvotum gegen den sechzehnten Ludwig (»la mort sans phrase«) nicht Apokryph, so hätten wir hier ein recht dazu passendes Parallelwort: »Die Brandfackel schlechtweg!« Aber klingt aus dem Brandbefehl des Bürgers Ferré für hörende Ohren nicht etwas wie Weissagung heraus? Etwas, das alle die »Großen Bücher« in den Finanzministerien Europas bedroht? Könnte es nicht geschehen, daß unsere Nachkommen zu der Einsicht gelangten, sie wären für die Sünden ihrer Vorfahren doch eigentlich nicht verantwortlich? Nicht verantwortlich und haftbar für unsere gewissenlose Staatsschuldenmacherei, für dieses selbstsüchtige Vorwegessen der Zukunft, für diese schändliche Belastung noch ungeborener Geschlechter? Wird die Prämisse der gesamten dermaligen Finanzwissenschaft, d.h, Schuldenwirtschaft, die ja zumeist nur der Raubritterschaft vom goldenen Kalbe zugute kommt, nicht logischerweise zu der Konklusion führen: »Unser Schuldbuch sei vernichtet!« und müßte dann ein europäisches »Faites flamber Finances!« nicht als Wahrspruch der Nemesis anerkannt und begrüßt werden? ...

10. Das rote Gespenst geht leibhaft um

Der Marschall Mac Mahon hat sich als Leiter der Einnahme von Paris und der Niederwerfung der Kommune zweifellos als tüchtiger General erwiesen, wenigstens als ein weit tüchtigerer, denn im Feldzug von 1870. Nachdem die Kommune einmal im Vollbesitze der Hauptstadt und ihrer unermeßlichen Hilfemittel, waren zur Wiedergewinnung von Paris Streitkräfte nötig, die sich nicht aus dem Boden stampfen ließen. Es hat sich überhaupt noch nie etwas Rechtes und Tüchtiges aus dem Boden stampfen lassen. Woher dem Marschall das Material an Soldaten hauptsächlich zufloß, ist schon früher erwähnt worden. Nach der Unterzeichnung des Definitivfriedens zwischen Deutschland und Frankreich am 10. Mai zu Frankfurt und nach der Ratifikation dieses Friedensvertrages durch die Nationalversammlung zu Versailles am 13. Mai war der Zufluß ein so ausgiebiger geworden, daß sich Mac Mahon instand gesetzt sah, die Organisation seiner Truppen zu vollenden. Er hatte zuvorderst drei Korps formiert, zwei Infanterie- und ein Kavalleriekorps (Ladmirault, Cissey, Du Barrail). Dazu waren dann zwei weitere Armeekorps gekommen (Douay und Clinchant) und endlich noch eine aus drei Divisionen bestehende Reserve unter dem General Vinoy. So gerüstet, sah sich der Marschall kräftig genug zum entscheidenden Handeln und dieses war, wie wir gesehen, auf den 23. Mai angesetzt. Die Ereignisse vom 21. Mai. hatten aber den Angriff vorgerückt. Vom Mont Valerien herab hatte der Obergeneral den Einbruch der Truppen in die Stadt geleitet. Dann hatte er sich zur Stunde, als der Trokadero, das Marsfeld und die Kriegsschule von denselben genommen waren, von der Zitadelle herab und in die Mitte seiner Regimenter begeben. Während der Nacht traf er seine Bestimmungen und Verfügungen in betreff der großen Straßenschlacht, welche am folgenden Tage anhob und erst nach siebentägigem Streiten zu Ende sein sollte, – nach einem Streiten, von welchem der Dichter hätte sagen können, was er von der Bestürmung Jerusalems durch die Römer des Titus gesagt hat:

»O, welcher Mordkampf hat sich da entsponnen!
Aus tausend Wunden sprang so voll das Blut,
Als wären unversiegbar solche Bronnen ...«

Frisch, klar, sonnig, so recht ein Maimorgen, ging der vom 22. über Paris auf, welches diesem Frieden und Glanz der Natur gegenüber wieder einmal dartat, was es mit der vielgepriesenen Zivilisation unseres Jahrhunderts eigentlich auf sich hat. Von beiden Seiten wurde die siebentägige Schlacht mit gleicher Wut gefochten. Der Unterschied war nur, daß die Blauen mit Methode, die Roten dagegen mit Verzweiflung wüteten.

Der Marschall hütete sich wohl, den Stier bei den Hörnern fassen zu wollen, d.h. einen Massenangriff auf das furchtbar barrikadierte Zentrum der Stadt zu unternehmen. Er und seine Generale griffen die Sache anders an. Im Besitze einer festen Operationsbasis, verschritten sie zu einer Reihe konzentrischer Angriffsbewegungen, welche den Zweck hatten und erreichten, auf Seitenwegen und selbst mitten durch Häuserwände und Häuserreihen hindurch die festesten »Volkszitadellen« zu umgehen, Paris mittels Besetzung der Hauptverkehrsadern und der strategischen Punkte mählich zu umstricken und einzuwickeln, um dann die Umschnürung fester und enger zu machen, zuletzt so eng und fest, daß mit einem letzten Würgegriff der Insurrektion ihr letzter Atemzug zu entpressen wäre.

Angenommen, ein Beobachter hätte von der Kuppel des Invalidenpalastes herab den Bewegungen der fünf Kolonnen, in welche der Marschall seine Streitkräfte geteilt hatte, am 22. Mai zusehen können und hätte bei dieser Schau das Antlitz nach Norden gekehrt, so würde er ganz linkswärts die Kolonne des Generals Ladmirault die Linie der Gürteleisenbahn aufwärts verfolgen gesehen haben, eine Bewegung, welche den Zweck hatte, einem der Hauptbollwerke der Roten in den Rücken zu kommen, dem Montmartre. Demselben Ziele strebt der General Clinchant zu, welcher vom Triumphbogen aus gegen den Park von Monceaux und Batignolles hinausdrängt. Der General Douay seinerseits sucht im Zentrum die Champs Elysées und den Beauvauplatz zu gewinnen. Zur Rechten, auf dem linken Seineufer lenkt der General Cissey seine Truppen auf den Bahnhof Montparnasse zu, um sich von dort den Weg zum Pantheon zu öffnen. Die Reserve unter Vinoy behält der Marschall bei der Hand, um damit nach Bedarf Douay oder Cissey zu unterstützen.

Den ersten bedeutenden Vorschritt machte der letztgenannte General. Noch am 22. Mai. Sein Sturm auf den bezeichneten Bahnhof gelang, auch entriß er den Roten die gewaltige Barrikade, welche sie hinter der Umwallung auf der Straße nach Orleans erbaut hatten, und brach sich damit Bahn zur Butte aux Cailles. Auch im Zentrum und auf der Linken war die Schlacht im Gange, führte jedoch erst am folgenden Tage zu einem für die Blauen beträchtlichen Ergebnis. Dies war kein anderes als der am 23. Mai mit ganzem Erfolg unternommene Angriff auf das Montmartre-Quartier. Clinchant bedrängt es vom Süden und Westen aus, Ladmirault faßt es vom Norden her. Mittags 1 Uhr flattert die Trikolore auf der Spitze des Turmes von Solferino. Noch zwei Stunden lang aber tobt der Kampf um die mächtige Barrikade auf dem Platze Pigalle, so recht die Arx oder Akropolis der Kommune. Hier befehligt Dombrowski in Person, wird niedergestreckt und sterbend zum Spital Lariboisière getragen, wo er am nächsten Morgen ausatmet. Der Verlust des Montmartre bedeutet für die Roten schon ihre entschiedene strategische Niederlage. Auf Sieg kann jetzt nicht einmal der Wahnsinn mehr hoffen. Die beiden Plätze Pigalle und Blanche sind mit Blutlachen bedeckt, hundert Kanonen, mehrere Tausende von Gefangenen sind die Beute der Sieger. Die Rache beginnt ihre Füsilladen an der Stelle, wo am 18. März der Frevel die seinigen begonnen hatte. Der General Ladmirault bleibt vorderhand auf Montmartre stehen; der General Clinchant steigt auf die äußere Boulevardlinie hinab, um von dieser aus und über die innere hin mit dem General Douay im Zentrum Fühlung zu suchen. Links der Seine hat inzwischen der General Cissey seinen Vormarsch, allerdings unter schwerem Ringen, bis zur Kirche St. Sulpice fortgesetzt.

Die Nacht sinkt herab auf die roten Walstätten des zweiten Schlachttages, auf Weh und Wunden ohne Zahl. Tausende von Wachtfeuern lassen kein Dunkel aufkommen und das Gebrause und Getöse ruht kaum für etliche Stunden. Dann kommt der dritte Tag –

»Aufgeht die Sonne; untersinkt sie wieder;
Sie sieht nur Blut und Tod; sie steigt empor –
Im Kampfe stehen immer neue Glieder.«

Noch hielten die Roten nicht nur den Osten der Stadt, sondern auch das Zentrum unter ihrer Hand. Die Tuilerienterrasse, das Schloß selber, den Louvre, das Palais Royal, die Madeleine, den Vendômeplatz machten sie am 23. Mai den Angreifern noch immer streitig und behaupteten diese Punkte den ganzen Tag hindurch.

Mittels Umgehungen, Häuserdurchbrüchen, Massenwirkungen des schweren Geschützes suchten die Blauen, deren Harste in sicherem Einvernehmen und unter festeinheitlicher Oberleitung handelten, diese Zentralstellung ihrer Gegner zu bewältigen, um dann, stromaufwärts dringend, den Herzstoß auf den Aufstand zu führen, d.h. das Hotel de Ville anzugreifen. Gleichzeitig mit diesen Operationen im Mittelpunkte der Stadt gingen draußen an der Peripherie derselben andere vor sich, welche die Absicht hatten und erreichten, die drei Südforts Montrouge, Bicêtre und Ivry den Roten zu entreißen. Die von dem Generalstabsoffizier Leperche geschickt geleiteten, von den Obersten Deloffre und Desgarets tüchtig geführten, durch die Reiterei des Generals Du Barrail kräftig unterstützten Angriffe auf die genannten Zitadellen hatten zur Folge, daß die Verteidiger es geraten fanden, die Werke aufzugeben und in mehr oder weniger eiligem Rückzug ihr Heil zu suchen. Jedoch erst, nachdem sie bis zum 25. Mai ausgehalten hatten.

Sie hielten überhaupt überall aus, solange auszuhalten war. Die Kämpfer der Kommune der Feigheit zu bezichtigen, ist nicht allein ungerecht, sondern heißt auch die Tatsachen nicht sehen wollen und ist demnach ganz albern. Der gerechte Urteiler muß es ja geradezu staunenswert nennen, daß die Roten der ganzen Überlegenheit militärischer Technik und Disziplin gegenüber den Kampf so lange zu führen vermochten, sie, die ohne einheitliches Kommando und darauf angewiesen waren, alles, was ihre Gegner vor ihnen voraushatten, mittels ihrer Anstelligkeit und Todesverachtung einigermaßen auszugleichen.

Aber, wohlverstanden, ich spreche von den wirklichen Kämpfern der Kommune, nicht von dem schandbaren Gesindel, welches die Waffen nur trug, um damit wehrlose Opfer hinzuschlachten, zum Abscheu der Mit- und Nachwelt.

Solches Gesindel, Auswurf der Riesenkloake Paris, durch alle Latrinen der Gaunerei gekrochene Halunken, auf allen Schmutzwegen der Ausschweifung bewanderte Dirnen, sah man schon am 23., zahlreicher noch am 24. Mai in den Straßen zwischen dem Bastilleplatz und dem Père Lachaise lungern und lauern, Aasvögeln gleich, welche Leichen wittern. Sie umkreisten die Mauern des Gefängnisses La Roquette und krächzten gräßliche Drohungen zu den vergitterten Fenstern empor, hinter welchen die »Geiseln« gefangen saßen.

Aber nicht diese Elenden hätten das rote Gespenst vom September von 1792 wieder heraufzubeschwören vermocht. Von Amts wegen wurde es heraufbeschworen. Die Kommune hatte den Beschluß gefaßt, die sämtlichen Geiseln sollten umgebracht werden.

Ort, Tag und Stunde dieses Beschlusses, sowie die Namen der Mitglieder, welche dabei mitgewirkt, genau zu ermitteln, ist bislang nicht gelungen. Fest aber steht, daß das Exekutivkomitee am Mittwoch, den 24. Mai, diesen Befehl erließ: »Der Bürger Rigault in Gemeinschaft mit dem Bürger Régère wird mit der Ausführung des Dekrets der Kommune in betreff der Geiseln beauftragt. Unterzeichnet: Delescluze, Billioray.«

Die Verteidiger der Kommune sagen, dieses Blutdekret sei nur erlassen worden zur gerechten Wiedervergeltung der Greuel, welche die »Insurgentenjagd« verübte, die von den Blauen in den von ihnen eroberten Stadtvierteln erbarmungslos angestellt wurde. Das mag so sein, und kein gerechter Mann wird anstehen, die Greuel dieser Menschenjagd zu brandmarken. Allein immerhin besteht ein Unterschied zwischen diesen Barbareien, welche eine kampftoll gewordene Soldateska auf von dem Blute ihrer Kameraden dampfenden Walstätten gegen mit den Waffen in der Hand ergriffene oder ihr als solche bezeichnete Kommunarden verübte, und, der kaltblütig angeordneten und kannibalisch-roh ausgeführten Abschlachtung von armen Gefangenen, welche an dem Mordkampfe gar nicht teilgenommen hatten. Nicht die Leidenschaft, nein, die kühlberechnende Grausamkeit hat das Signal zu den ruchlosen Massenmorden gegeben, wie sie am 24. Mai begannen. Das ist das glühendste Brandmal, welches die Kommune sich aufgedrückt hat.

Der Bürger Rigault zauderte nicht, zu tun, was ihm eine Lust. Dieser Mensch war einer von jenen in unserer Zeit nicht eben seltenen Kalkulatoren, welche die materialistische Lehre des Jahrhunderts als einen Panzer tragen, an welchem alles abprallt, was Gefühl, Menschlichkeit, Ehre, Wahrheit und Gerechtigkeit heißt. Solchen Strolchen ist das Laster eine Eleganz und der Frevel ein Zeitvertreib. Sie kennen und anerkennen nichts als ihr eigenes kleines, hohles, eitles, vom Größenwahn aufgeblähtes Ich, und die Selbstsucht, keck, frech, schamlos bis zur Hündischkeit, ist das Idol, vor welchem sie auf dem Bauche liegen.

Der Mordbefehl des Exekutivkomitee war kaum in Rigaults Händen, als er nach St. Pélagie eilte, wo der von ihm gehaßte Republikaner Chaudey eingekerkert war. Der Prokurator der Kommune zeigte dem Gefängnisdirektor Ranvier an, daß die Stunde der »Hinrichtung« der Geiseln geschlagen habe, und daß Chaudey »den Tanz beginnen werde«. Selbstverständlich hatte die Kommune beizeiten dafür gesorgt, das Verwaltungs- und Aufsichtspersonal in den Gefängnissen aus »Bürgern« zusammenzusetzen, auf die sie sich verlassen konnte. Ihre Gefängnisdirektoren waren jedenfalls Leute, die als im Gefängnisleben erfahren bezeichnet werden mußten. So dirigierte z.B. in La Roquette ein gewisser François – in einigen Zeugenaussagen heißt er auch Lefrançais – welchem die Züchtlingsjacke, die er früher getragen, noch jetzt ganz gut auf Leib und Seele gepaßt hätte.

Der arme Chaudey wurde in die Schreibstube des Gefängnisses heruntergebracht, wo ihn der Bürger Prokurator also begrüßte: »Bürger, ich bin beauftragt, die Hinrichtungen in den Gefängnissen zur Ausführung zu bringen. Sie kommen heute daran, sofort – binnen einer Stunde werden Sie erschossen sein.« Chaudey ward durch diese brutale Eröffnung begreiflicherweise verblüfft, faßte sich aber rasch und sagte: »Aber, Raoul Rigault, haben Sie denn auch bedacht, was Sie tun wollen?« – »Allerdings. Ich vollziehe einen Beschluß der Kommune. Das ist alles.« – »Aber Sie wissen doch, ich bin ein guter Republikaner. Sie schädigen eine heilige Sache. Sie bringen die Republik um.« – »Gleichviel, Sie sterben wie alle die übrigen Geiseln.« – »Aber, Bürger Rigault –« »Genug, meine Zeit ist knapp. Wollen Sie etwa einen Beichtvater?« – »Scherzen wir nicht! Sie wissen recht gut, daß ich keinen Beichtvater will.« – »Sie sind ein Mörder, Sie haben es verschuldet, daß Blanqui umgebracht wurde.« – »Aber Blanqui lebt ja; ich kann es beweisen. Vielleicht vermag ich sogar seine Austauschung zu bewirken.« – »Aha, Sie stehen also mit Versailles in Verbindung? Wohlan, Sie und alle die andern Geiseln sterben.« – »Gut, ich werde Ihnen zeigen, daß und wie ein Republikaner zu sterben weiß.«

Der Wackere zeigte es. In den Rundgang des Gefängnisses geführt, wo das Mordpeloton seiner harrte, wurde er der Kapelle zur Seite in einen Mauerwinkel gestellt. Der Bürger Prokurator gönnte sich das Vergnügen, mit gezogenem Degen den Mordakt zu kommandieren. Schlecht getroffen stürzte Chaudey zu Boden und hatte noch die Kraft, zu rufen: »Vive la république!« Da wirft sich mit den Worten: »Ich will dir die Republik schon aus dem Schädel treiben!« der Brigadier Gentil, ein Haupthandlanger Rigaults, auf den Verwundeten und jagt demselben eine Revolverkugel »durch den Rachen«, wie er sich später lachend rühmte. Die Ausplünderung des Toten durch die Mörder gehörte mit zum Ganzen. Neben Chaudeys Leichnam wurden etliche Minuten darauf noch die von drei gefangenen Gendarmen hingeworfen, auf welche man, den Greuel zu würzen, in dem Rundgange wie auf Jagdtiere unter Zoten, Flüchen und Gelächter geschossen hatte. Nach also vollzogenem Menschenopfer brach der Bürger Rigault nach dem Gefängnisse La Santé auf, »um sein Geschäft fortzusetzen« ...

Die Muse der Geschichte hat die traurige Verpflichtung, vor nichts zurückschaudern zu dürfen und alles sagen zu müssen, aber sie hat auch das Recht, mit beschwingten Sohlen über Blutlachen hinwegzuschreiten. Müßte man doch selber so eine rote Bestie von 1871 sein, wollte man sich dazu hergeben, die gräßliche Reihe der Niedermetzelungen der Geiseln und anderer Opfer breitspurig zu durchwaten. Auch zu zählen brauchen wir die Gemordeten nicht genau. Die Zahl macht bei solchen Schrecknissen eigentlich gar nichts aus. Nicht wie viele Opfer die Inquisition, die Hexentribunale, die Bartholomäusnacht, die Septembermorde und das rote Quartal hingeschlachtet, macht den Greuel aus, sondern dieses, daß überhaupt Menschen so gegen Menschen wüten konnten und gewütet haben.

Den scheusäligsten Anblick gewährten auch wiederum hierbei die weiblichen Scheusale, wie die »Amazonen« Katharina Rogissart, Natalie Lemel, Zelie Grandel und Marguerite Gandair, genannt Lachaise. Die letztgenannte hat eine Hauptrolle bei den Mordtaten gespielt und sich ganz unglaublich greulich in La Roquette aufgeführt, sowie bei der Abschlachtung des Grafen de Beaufort, welcher als Offizier in der Armee der Kommune gedient hatte, aber plötzlich, ohne einen Schatten von Grund, durch die Furie des Verrats bezichtigt und auf ihr Betreiben auf dem Voltaireplatze niedergemacht wurde. Das Wildschwein von Weib stampfte auf dem noch warmen Leichnam herum und sagte etwas und tat etwas, was nicht beschrieben werden kann.

Mittwochs, den 24. Mai, begannen die Massenmorde. An der Spitze der Mörderrotte, welche schon seit etlichen Tagen La Roquette umlauert hatte, brachen die Grandel und die Lachaise in das Gefängnis ein. Die letztgenannte Megäre tat gerade so, als wäre sie die amtlich bestellte Leiterin der Mordarbeit, welche von den Gefängnisbeamten freilich mehr nur zugelassen als angeordnet worden ist, aber doch zugelassen.

Das Nachtstück, wie der Erzbischof Darboy und fünf seiner Mitgefangenen im Hofraume des Gefängnisses beim Fackelschein niedergemetzelt wurden, hat sich dem schauernden Gedächtnis der Zeitgenossen unverlöschbar eingeprägt.

Nach verübtem Frevel wies einer der Mörder den Wächtern Pinet und Bourguignon ein Pistol mit den Worten: »Seht, es raucht noch. Damit hab' ich dem Kerl von Erzbischof den Garaus gemacht.« Ein anderer bemerkte grinsend: »Dieser alte Hund von Darboy wollte nicht sterben, dreimal noch versuchte er aufzustehen.« Draußen auf dem Platze prahlten die Mordbuben ganz laut: »Wir haben fünfzig Franken verdient.«

Etliche Tage darauf fand man auf der Mairie des elften Arrondissements dieses lakonische Protokoll: »Komitee der öffentlichen Sicherheit. Heute, den 24. Mai, acht Uhr abends, sind im Gefängnisse La grande Roquette Georges Darboy, L. B. Bonjean, L. Ducoudray, M. Allard, A. Clerc und G. Deguerry hingerichtet worden. Kommune von Paris. Kabinett des Chefs der öffentlichen Sicherheit. Gemeindepolizei.« Dieses Aktenstück trägt das amtliche Siegel der Polizeipräfektur, aber keine Unterschrift. Es ist jedoch festgestellt, daß der Bürger Ferré, der Delegierte bei der öffentlichen Sicherheit, am 24. Mai zweimal in La Roquette sich zu schaffen machte, am Vormittag und am Nachmittag. Vor dem Kriegsgerichte zu Versailles hat ein Hauptzeuge dem Angeklagten Ferré ins Gesicht gesagt, daß dieser die Mordrotte persönlich in das Gefängnis geführt habe. Dieser Augenzeuge war der Zivilingenieur Duval, ein Ehrenmann, ebenfalls als »Geisel« eingetürmt. Der Gerichtspräsident: »Sie sind also ganz sicher, in dem Angeklagten Ferré das Mitglied der Kommune zu erkennen, welches gemeinschaftlich mit Ranvier das Exekutionspeloton in La Roquette einführte und welches Sie am 24., 26. und 27. Mai in der Schreibstube des Gefängnisses gesehen haben?« Herr Duval: »Ja, ich schwör' es.« Übrigens ist auch die Anwesenheit Rigaults in La Roquette während jener Mordtage wohlbezeugt. Summa: die Schlächtereien in dem genannten Gefängnis sind nicht etwa nur zufällige gewesen, sondern amtlich angeordnete, nicht ein bloßer Pöbelexzeß, sondern eine vorbedachte, berechnete Tat der Kommune, eine Tat, bei deren Ausführung sie sich solcher Tiermenschen bediente, wie sie ihr in Hülle und Fülle zur Hand waren.

Donnerstags, den 25. Mai, mußten die Dominikanermönche von Arcueil, wo sie eine Schule hatten, in den Tod gehen. Sie waren, dreiundzwanzig Patres und Fratres, auf Befehl des Wohlfahrtsausschusses am 19. Mai verhaftet und in das Fort Bicêtre gebracht worden. Als am 25. die Roten das Fort aufgeben mußten, schleppten sie die Mönche mit sich, stellten sie auf einer Barrikade der Avenue d'Italie den Kugeln der Blauen bloß, und nachdem sie gegen Abend zu auch die Barrikade hatten verlassen müssen, massakrierten sie mit schon gewohnheitsmäßiger Brutalität die wehrlosen Opfer, von welchen nur einige wenige zu entfliehen vermochten.

Weiter, weiter in diesem Blutsumpfe! Wir müssen hindurch ...

Nach der Ermordung des Erzbischofs und seiner Todesgenossen war es drei Geistlichen, dem Generalvikar Surat, dem Abbé Beourt und dem Missionär Houillon, gelungen, in Gemeinschaft mit dem Stadtsergeanten Chaulieu aus der großen Roquette zu entweichen. Aber alsbald hatte sich eine Jägerschar, geführt von einer Megäre, welche in der Linken eine rote Fahne und in der Rechten ein Messer hielt, auf die Fährte der Flüchtlinge geworfen. Sie wurden eingeholt, in den Hof der Petite Roquette geschleppt, an die Mauer gestellt und niedergeschossen. Chaulieu bat die Fahnen- und Messerträgerin – Wolff-Guyrad hieß die Vettel – sein Leben zu schonen, da er der Vater von acht unerzogenen Kindern sei. Sie schleuderte ihm eine Zote ins Gesicht und kommandierte »Feuer!« Ein Gassenjunge, einer jener Gamins, welche August Barbier mit dem ätzenden Griffel eines Juvenal also gezeichnet hat:

»Dein echt Geschlecht, Paris, das ist der Straßenschreier, Halbwüchsig, schmutzig fahl, wie ein verschliffner Dreier, Das ungezogne Kind, der Taugenichts, der träg Verschleudert Tag um Tag, der gern auf seinem Weg Die magern Hunde quält und, seinen Gassenhauer Sich pfeifend, schlüpfrig Zeug hinkritzt an jede Mauer; An nichts glaubt dieses Kind; es speit die Mutter an; Der Himmel dünkt ihm nur ein abgeschmackter Wahn; Was zuchtlos nur und frech, spukt in des Buben Hirne, Dem reif das Laster steht auf fünfzehnjähr'ger Stirne« –

ja, ein solcher Sproß »de la race de Paris« stand später, der Mitschuld an diesem Mord angeklagt, vor dem Kriegsgericht und gab auf die Frage des Vorsitzenden, warum er auf die Priestergeiseln geschossen habe, kurzweg die Antwort: »Weil man keine Religion mehr braucht.« Das sind so Folgen der Tatsache, daß eine Stadt, welche sich rühmt, die »Weltleuchte«, die »Sonne der menschlichen Zivilisation« zu sein, barbarisch genug war und ist, innerhalb ihrer Mauern sechzigtausend Kinder ohne alle Schulbildung und Erziehung aufwachsen zu lassen.

Freitags, den 26. Mai, gab man dem Pöbel von Belleville jenes entsetzliche Schauspiel, welches unter dem Namen des Gemetzels in der Straße Haxo bekannt ist. Man hatte zu dieser schrecklichen Opferung fünfzig Geiseln, vierzehn Geistliche und sechsunddreißig Stadtpolizisten (Gardes de Paris), aus La Roquette geholt. Zwischen fünf und sechs Uhr abends führte man die Opfer inmitten einer Prozession von johlenden Banditen und lachenden Vetteln die Rue de Paris hinauf und dann rechts hinein in die Rue Haxo. In dieser stand rechts und links dichtgedrängt die Menge, welche die dem Tode geweihten Männer mit wütenden Verwünschungen überschüttete. »Nieder mit ihnen! Schießt sie tot!« war der Kehrreim des kannibalischen Gebrülls. Bei dem Hause Nr. 83 wurden die Geiseln in einen Hofraum oder vielmehr in einen ummauerten Graben hineingetrieben. Stabsoffiziere von verschiedenen Bataillonen, in Schärpen und Borten prangend, wohnten der anhebenden Schlächterei an. Chassepot und Revolver taten ihr Werk, taten es so lange, bis keins der Schlachtopfer mehr atmete. Die Leichen warf man in den Kellerraum eines unvollendeten Gebäudes. Als der Greuel zu Ende, brach die Menge in ein wildes Beifallsgeheul aus, und junge Weiber liefen auf die Mordbuben zu, drückten ihnen die pulvergeschwärzten, blutbespritzten Hände und riefen ihnen zu: »Brav gemacht, gut gearbeitet, Schatz!«

Auf Sonnabend, den 27. Mai, scheint noch eine Schlächterei größten Stils geplant gewesen zu sein, darauf deutete es hin, wenn der Bürger Ferré in der Schreibstube der großen Roquette erschien und die Freilassung und Bewaffnung der in dem Gefängnisse verwahrten Kriminalverbrecher und Bagnokandidaten anordnete. Offenbar in der Meinung, durch diese ehrenwerten »Bürger« alle noch im Hause vorhandenen »Geiseln« niedermachen zu lassen. Allein den Bösewichten gelangen an diesem Tage nur noch einzelne Mordtaten. Zu weiteren ließ ihnen das bedrohliche Vorrücken der Blauen keine Zeit mehr. Auch verbarrikadierten sich die Geiseln, durch diesen und jenen Wächter heimlich unterstützt und von der Annäherung der Retter unterrichtet, in ihren Zellen, entschlossen, ihr Leben so teuer als möglich zu verkaufen. Die Bagnokandidaten ihrerseits fanden es mehr nach ihrem Geschmacke, davonzugehen, als eine mehr und mehr gefährlich werdende Blutarbeit zu verrichten. Der »Bürger Gefängnisdirektor« François hatte zwar eine hübsche Anzahl von Orsinibomben in Bereitschaft, um damit, wie er prahlte, noch im letzten Augenblick die sämtlichen Geiseln zu vernichten. Aber auch er fand es in der Erinnerung an Züchtlingskleider und Züchtlingskost geraten, sich davonzumachen, bevor der »letzte Augenblick« gekommen war. Die aufgehende Pfingsttagssonne strahlte Trost und Befreiung in die Angst- und Todeshöhle von La Roquette.

11. Blut und Feuer – Feuer und Blut.

»Wann ich tot, mag die Welt im Feuer aufgehen!« sagte Tiberius.

»Nach uns die Sündflut!« sagte Madame de Pompadour.

»Wann unsere Zeit gekommen, wird Paris uns gehören oder Paris wird nicht mehr sein! Wir oder das Nichts!« sagte schon vor der Katastrophe von Sedan, also vor dem Sturze des Kaiserreichs, ein Häuptling der roten Mongolen von 1871.

Ja, der roten »Mongolen«. Denn genau so, wie es im Mittelalter die gelben Mongolen getrieben hatten, so trieben es im Mai von 1871 die Kommunarden. Was sie nicht zu besitzen und zu behaupten vermochten, sollte vernichtet werden, damit es wenigstens auch andere nicht besäßen.

Ganz dieselbe wilde Selbstsucht, wie sie aus dem finsteren Despoten Tiber gegrollt und aus dem leichtsinnigen Buhlweib Jeanne Antoinette Poisson gelacht hatte.

Es war etwas, nein, viel, alles, von der Entmenschung, welche die Bürgerkriege der Römer zur Zeit des Unterganges der Republik kennzeichnete, in diesem französischen Bürgerkriege des roten Quartals. Aus der mörderischen Maiwoche heraus schaudert uns auf Schritt und Tritt das Zähnefletschen und das Wutgebrüll wilder Tiere an. Das ist nichts Menschliches mehr, weder hüben noch drüben. Auf der einen Seite nur noch die Raserei der Verzweiflung, auf der andern nur noch der Rausch der Rache.

Wenn der Wohlfahrtsausschuß der Kommune in einem seiner letzten Aufrufe zeterte: »Zu den Waffen! Auf die Barrikaden! Kein Erbarmen! Schießt alle nieder, welche den Versaillern die Hand reichen könnten. Feuer! Feuer!« so gab es unter den Blauen Offiziere genug, welche die Soldaten zu massenhaftem Niederschießen ihrer Gefangenen unaufhörlich anstachelten. Vor allem aber hat sich ein Bonapartist, der Marquis und Oberst de Gallifet, durch sein blutgieriges Wüten verrufen gemacht.

Freilich, es mußte biegen oder brechen. Vom 23. Mai an handelte es sich für die beiden kämpfenden Parteien schlechterdings um nichts anderes mehr, als welche von ihnen die Kraft hätte, die Gegnerin unter die Füße zu treten.

Nachdem der düstere Jakobiner Delescluze die Einbußen des Tages erfahren und damit die Überzeugung erlangt hatte, daß der Anfang vom Ende gekommen sei, sagte er: »Paris soll in die Luft! Eher soll es bis auf den Grund niedergebrannt als den Royalisten überliefert werden!«

Dieses Wort kann füglich als das Signal genommen werden, welches den Zündern und Zünderinnen – (eine hübsche Sorte von »flamines« und »flaminicae« fürwahr!) – an ihr schreckliches Werk zu gehen und dem Pulver das Petrol zu gesellen gebot.

In der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch (23. bis 24. Mai) wurde das Namenlose vorbereitet: die Feuerbestattung der »Weltmetropolis«.

Wer dann im Morgengrauen von den Höhen von Meudon oder Montretout auf Paris hinabgeschaut hätte, würde gesehen haben, wie der rote Hahn seine ersten Flüge tat, um, eine Feuerfurche hinter sich herziehend, von den Tuilerien zum Louvre, zum Palais Royal, zum Finanzministerium und weiter, immer weiter zu fliegen.

Aber wer nach allen den vorhergegangenen Schrecken noch leichtherzig genug gewesen war, die Nacht zu verschlafen, den machte der Entsetzensschrei: »Paris steht in Flammen!« aus dem Bette springen. Und ein Tag brach an, nein, eine ganze Reihe von Tagen, von denen jeder glauben konnte, das alte Weltgerichtslied wäre für ihn gesungen: –

»Dies irae, dies illa Solvet urbem in favilla« ...Tag des Zornes, Tag der Rache, Wirfst die Stadt in Schutt und Asche.

Derweil war das wilde Ringen zwischen Roten und Blauen um den Besitz von Paris noch lange nicht zu Ende. Hier und dort schlug man sich mit steigender Erbitterung. Angriff und Verteidigung waren gleich heldisch. Als föchten sie für die beste Sache, für welche jemals ein Gewehr geladen und ein Schwert gezogen worden, gaben die Kämpfer der Kommune ingrimmig ihr Leben dahin. Auch, mitunter mit jenem lachenden Gleichmut, womit die alten Nordlandsrecken in den Tod gingen. Bei der Porte St. Martin hielt mitten im Kugelregen ein Blusenmann die rote Fahne, deren Träger er war, hoch empor und lehnte sich dabei mit dem Rücken an ein hinter ihm stehendes Faß. »Bist du müde oder faul?« fragte ihn ein Mitstreiter. »Weder dies noch jenes,« gibt er zur Antwort; »ich lehne mich an, um nicht umzufallen, wenn ich getroffen werde, und auch dann noch die Fahne festhalten zu können.«

Noch am Dienstag hatten die Blauen, abgesehen von der Wegnahme des Montmartre, von dessen Höhe sie ihre Bomben nach Belleville und zum Père Lachaise hinüberwarfen, beträchtliche Eroberungen gemacht. Der General Ladmirault schob seine Truppen die äußeren Boulevards entlang ostwärts vor, der General Clinchant verfolgte in den Quartieren zwischen den beiden Boulevardslinien die gleiche Richtung. Ebenso im Zentrum die Generale Douay und Vinoy. Alle diese Bewegungen, welchen der General Cissey auf dem linken Ufer die seinigen anpaßt, richten sich konzentrisch auf das Hotel de Ville. Cissey ist noch am Dienstag bis gegen die Rue du Bac hin vorgedrungen, während auf dem rechten Stromufer die Terrasse der Tuilerien, die Madeleine und der Vendômeplatz von den Truppen genommen werden, welche auch in der Chaussee d'Antin und in der Rue Lafayette festen Fuß fassen.

Fürder bereitet die Nacht dem Kampfe keine Unterbrechung mehr. Für Beleuchtung sorgen ja die Petroleurs und die Petroleusen. Es hat den Anschein, als müßte sich die ganze Riesenstadt zu einem ungeheuren Feuerherde gestalten, und inmitten von Glut und Rauch geht das Gewürge weiter.

Am Morgen vom 24. Mai nehmen die Blauen die Börse und den Börsenplatz, Douay geht gegen die hochbarrikadierte und zähverteidigte Pointe de St. Eustache vor und bewältigt sie nach herben Verlusten. Dann bedroht er von der Rue Rambuteau her das Stadthaus, gegen welches von der Uferseite her Vinoy auf der Rue Rivoli vorgeht, während Cissey nach Bemeisterung der Barrikaden auf dem Pont Neuf seinen Waffengefährten von der Seineinsel her die Hand reicht. Der jetzt anhebende Kampf um das Hotel de Ville währt mit wachsender Wut die ganze Nacht hindurch bis zum folgenden Tag. Dann räumen die Roten ihr Hauptquartier, das Hauptquartier so mancher Revolution. Aber die Blauen sollen es nicht haben! Ein furchtbarer Knall, welcher ringsum die Erde bebend macht, eine ungeheure tiefschwarze Dampfmasse, die sich langsam aufwärts wälzt, dann ein greller Feuerschein, der an allen vier Ecken des Stadthauskolosses emporspringt. Der Bürger Pindy hat sein Wort gehalten: das Hotel de Ville steht in Flammen und brennt um die Wette mit den Tuilerien, der Louvrebibliothek, dem Palais Royal und dem Finanzministerium, dem Ehrenlegionspalast, dem Palais d'Orsay, dem Justizpalast und der Polizeipräfektur, die brennenden Theater, Markthallen, Fabriken und Privathäuser nicht gerechnet. Nur das rasche Vordringen Cisseys auf dem linken Ufer hatte den Petroleurs die Anzündung des Pantheon verwehrt oder waren die Zünder und Brenner selbst davor zurückgeschreckt? Sie wußten ja, daß in den Kellern des Tempels sechzehn Millionen Patronen, zwanzig Tonnen Pulver und mehrere Kisten Dynamit lagerten – ein schlafender Vulkan. Wäre derselbe mittels der Brandfackel geweckt worden und ausgeborsten, so müßte die Verwüstung eine geradezu unerhörte gewesen sein.

Um die dritte Hauptstellung der Kommune im Zentrum, um das Chateau d'Eau, mußte noch lange gerungen werden, vom Donnerstagsmorgen bis zum Freitagsmorgen. Das Vorschreiten der vier vereinigten Truppenkorps, welche auf dem rechten Ufer kämpfen, zum Kanal St. Martin und zum Bastilleplatz ist mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Unaufhörlich regnen auf die zwischen der Gürteleisenbahn und der inneren Boulevardslinie gelegenen Standquartiere die Granaten und Petrolbomben, welche die Batterien der Roten von der Butte Chaumont in Velleville und vom Pere Lachaise herab- und hereinschleudern. Diese Punkte, sowie der Faubourg du Temple und die Rue d'Angoulème sind die letzten Halte der Insurrektion, welche ihr gehärtetster Führer, Delescluze, schon am Tage vor dem Verluste des Stadthauses als eine Sache bezeichnet hatte, für die kein Sieg mehr zu hoffen, sondern nur noch der Tod zu suchen sei.

Es dürfte ein eitles Mühen sein, von dem Paris, wie es vom Mittwoch, den 24., bis zum Sonntag, den 28. Mai sich darstellte, eine auch nur annähernd deutliche Vorstellung sich zu machen. War es doch wie das Hereinbrechen des Chaos. Nur etwa die giganteske Phantasie eines Dante vermöchte von dieser »città dolente« der Wirklichkeit ein Bild zu geben. Was uns Augen- und Ohrenzeugen berichten, ist bloßes Stückwerk und kann nicht mehr sein. Sie vermochten nicht alle die Schrecknisse, die sie mit allen Poren einatmeten, zu unterscheiden und festzuhalten, geschweige zu einem Gesamtgemälde zu gruppieren. Ein französischer Zeuge sagt aus: »Man muß vom 23. bis zum 28. Mai in Paris gewesen sein, um sich eine Vorstellung von dem entsetzlichen Anblick bilden zu können, welchen die große Stadt während der Feuersbrünste darbot, die nach der Meinung ihrer Urheber sie in Asche legen sollten. Die mörderischen Kämpfe, welche die Armee der Ordnung und die der Demagogie einander lieferten, die Hohlgeschosse, welche nach allen Richtungen platzten, die Gefahren jeder Art, von denen das Leben der Bewohnerschaft in jedem Augenblick bedroht war, – das alles war gewiß angetan, hochgradigen Schrecken zu erregen. Aber dennoch war nichts so erschütternd, so erstarrend, so verzweifelnd wie der Anblick von allen diesen den Flammen überlieferten Monumentalbauten, in welchen seit Jahrhunderten mit religiöser Sorgfalt so viele Schätze der Kunst und Wissenschaft angesammelt worden waren. Beobachter, welche von der Höhe von La Roquette« – (wo unser Zeuge als Geisel gefangen saß) – »oder von der Hochebene von Chatillon diese Feuersbrünste betrachteten, sagten sich mit Entsetzen, daß die prächtige Hauptstadt der modernen Zivilisation zu einem Trümmerhaufen werden müßte; denn sie glich ja einem ungeheuren Glühofen, einem kolossalen Feuerherd, von welchem Flammenströme aufschössen und riesige Rauchwolken emporwirbelten.« Ein Augenzeuge von jenseits des Kanals brach beim Anblick der brennenden Tuilerien, des brennenden Louvre, des brennenden Palais Royal, der brennenden Rue Royale in die Worte aus: »Sie brennt wahrhaft königlich, die ganze Seite der Straße von dem Madeleineplatz bis zur Rue des Faubourg St. Honoré. In dieser letztgenannten Straße sind alle Gossen voll Blut. An jeder Straßenecke steigt eine Barrikade auf. Kanonendonner, Musketengeknatter, Mitrailleusengehuste bilden zusammen ein Orchester, das zu diesem Drama der Zerstörung die Musik macht. Angesichts dieser Schrecknisse faßt unbeschreibliche Wut die Menge. Bislang hatte sie im Gefühl ihrer Befreiung nur Hoch und Hurra geschrien, jetzt aber wandelt sich ihre Freude in bestialischen Rachegrimm. Zitternd und keuchend vor Zorn erzählt man sich, daß das Petrolfeuer auch das Finanzministerium und alle öffentlichen Gebäude am Quai d'Orsay, sowie in der Rue du Bac verzehre. Die das Sonnenlicht auslöschenden Flammengarben und Rauchmassen fachen in den Herzen der Pariser einen Brand an, nicht weniger wild, teuflisch und vernichtend. »Schießt alle Gefangenen nieder! Kein Erbarmen! Nieder mit den Petrolmännern und Petrolweibern!« schreien die Leute wie wahnwitzig den Soldaten zu. Und alsbald hebt eine wütende, schauderhafte, haarsträubende Jagd auf die Verdächtigen an. Man sucht, faßt und füsiliert Männer und Weiber auf der Stelle. Und dieses Höllengeschäft treiben am eifrigsten die Frauen.«

Man hat es ein Wunder genannt, daß nicht die äußersten Befürchtungen sich verwirklicht, daß nicht die Flammen ganz Paris eingeäschert hätten. Das Wunder erklärt sich aber wie alle die sogenannten Wunder aus natürlichen Umständen. Zunächst aus der schon früher betonten Hauptursache, daß der unerwartet frühzeitige Einbruch der Blauen in die Stadt die Vernichtungspläne der Roten nur teilweise zur Reife und zur Ausführung kommen ließ. Nebenursachen kamen hinzu: das energische Vorschreiten der Truppen warf Unordnung in die Reihen der Kommunestreiter, und diese störte dann auch vielfach die Arbeit der Zünder; Hauseigentümer fanden in der äußersten Gefahr so viel Mut, den Brandlegungen mit Gewalt sich zu widersetzen; pfiffige Portiers führten die anlangenden Brandmänner in die Keller und füllten sie mit Wein bis zur Besinnungslosigkeit; endlich darf als sicher angenommen werden, daß vielen Brennern im letzten Augenblicke Herz und Hand versagten, ihre höllischen Aufträge zu vollziehen....

Und immer noch flatterte die rote Fahne und fuhren die Batterien der Butte Chaumont und des Père Lachaise auf die Stadt zu feuern fort. Nur kurze Pausen des Aufatmens gönnte sich der Verzweiflungskampf. In der Nacht vom Freitag auf den Sonnabend raste er mit unsäglicher Wut um Belleville her, dessen gehügelte Quartiere und winkelige Gassen von Barrikaden starrten. Das ganze Nest schwimmt in einem grellen Rot, denn die ungeheuren Speicher (»Docks«) brennen lichterloh. Die »strategische« Brandfackel hat auch hier ihr Werk getan. Wie zwei riesige Ausrufungszeichen ragen die spitzen Türme der Kirche von Belleville aus dem Feuerschein empor. Vom Montmartre herüber schlagen die Bomben der Blauen fort und fort in das Häusergewirre. Immer neue Brände springen auf. Doch mit unbeugsamem Fanatismus halten die Belleviller an der verlorenen Sache.

Noch einen ganzen Tag, den 27. Mai. Denn nachdem das schreckliche Getöse gegen Tagesanbruch eine Weile verstummt gewesen, hebt es von neuem an und wieder beginnt das Streiten und Morden. Die Sonne, müde der Greuel, die sie seit drei Tagen gesehen, hatte einen dichten Wolkenschleier vor ihr Antlitz gezogen; aber der Widerschein der Feuersbrünste färbte das Grau dieses Schleiers kupferrot. Mithandelnde in dem furchtbaren Trauerspiel haben nachmals ausgesagt, daß der Anblick von Paris an jenem trüben Maimorgen von einer wahrhaft gespenstigen Unheimlichkeit gewesen sei.

Man mußte ein Ende machen. Die Blauen holten aus zum letzten Schlag. Sie waren zur Stunde damit fertig geworden, die Insurrektion einzukreisen, sie in einem Zirkel von Eisen, Blut und Feuer einzuschließen, welcher von Belleville und vom Père Lachaise bis ungefähr zum Boulevard Beaumarchais, zum Bastilleplatz, zur Rue de Charonne und zur Rue du Temple reichte. Aber auch aus diesem Kreise heraus setzten die Roten den blauen Angreifern einen so energischen Widerstand entgegen, daß gegen Mittag zu unter den Generalen der Regierung die Rede ging, es werde nichts übrig bleiben, als Geschütze allerschwersten Kalibers herbeizuschaffen, um damit die zurzeit noch hartnäckig behaupteten Quartiere in einen ungeheuren Trümmerhaufen zu verwandeln. Erst der Abend brachte, ohne daß zu diesem Äußersten geschritten werden mußte, die Entscheidung. Die Generale Ladmirault und Vinoy führten sie herbei. Jener faßt, nachdem er sich der Vorstadt Vilette bemächtigt hat, die Butte Chaumont von hinten und erstürmt sie; diesem gelingt der Sturmlauf auf den Père Lachaise, von wo aus er noch am späten Abend bis zur La Roquette hereindringt. So war Belleville gebändigt, und die Rachefurie ging in seinen halbzerstörten Gassen bis weit in die Nacht hinein würgend um. Scharen von roten Flüchtlingen suchten in der Richtung von Vincennes, welches Fort bis zum 29. Mai sich hielt, Rettung und Zuflucht, wurden aber auf diesem Fluchtweg scharenweise von ihren blauen Verfolgern niedergemacht.

Nun ist, was noch von der Kommune und den Kommunarden übrig, im Faubourg du Temple und in der Rue d'Angoulême eingekeilt. Noch halten sie aus, die Nacht über und den Morgen vom Pfingstsonntag, obzwar das Stummbleiben der Kanonen auf der Butte Chaumont und dem Père Lachaise ihnen verkündigt, daß alles aus und vorbei und die Todesstunde gekommen. Gegen Mittag sind sie in die Rue d'Angoulême eingeschnürt. Sie haben keine Geschütze mehr und nur noch eine Barrikade. Diese behaupten sie, bis die vom Faubourg du Temple her die Straße heraufsausenden Kanonenkugeln die letzte Schutzwehr niederwerfen und die letzten Verteidiger den Chassepotschüssen und Bajonettstößen der heranstürmenden Soldaten erliegen.

Auf den Trümmern dieser letzten Barrikade lag barhaupt, waffenlos, fünf Todeswunden in Brust und Haupt, ein hagerer Greis. Der letzte Häuptling der Kommune, Delescluze, hatte hier um 12 mittags den Tod gesucht und gefunden. Nicht gesucht, aber doch mit leidlicher Fassung hingenommen hatte den Tod der Prokurator der Kommune, Rigault, welcher im Bürgerwehranzug ergriffen, erkannt und an der Ecke der Rue Gay-Lussac von Chasseurs des 19. Regiments füsiliert worden war. Verschiedenen anderen Mitgliedern der Kommune war dasselbe widerfahren. So dem Bürger Millière, welchen Soldaten auf den Stufen des Pantheon niedergeschossen hatten. Vielen Kommunarden jedoch gelang die Flucht, teils noch während der Agonie der Kommune, indem sie sich durch die von den Deutschen besetzte Fortslinie zu schmuggeln wußten, teils später. So dem pfiffigen Pyat, der allzu zärtlich für seine sorgfältig gepflegte Haut besorgt war, als daß er sie hätte riskieren mögen. Manche Helden der Kommune wurden unter nicht eben heldischen Masken und Verkleidungen entdeckt und gefangen genommen. So der Bürger Rössel als schneehaariger Greis, in welchen er sich mittels der Chemie verwandelt hatte. Andere hatten die Kleider ihrer Maitressen angetan und sich mit den Chignons derselben aufgeputzt. Übrigens ist ja auch der Expremier Louis Philipps, der Jesuit Guizot, am 24. Februar 1848 in Weiberkleidern davongeschlichen. Not kennt keinen Unterschied zwischen Pantalon und Jupon.

Um 2 Uhr nachmittags vom 28. Mai verkündigte eine Proklamation des Marschalls den Parisern: »Die Armee Frankreichs hat euch gerettet. Paris ist befreit, der Kampf zu Ende, die Ordnung wiederhergestellt.« Draußen in Versailles trug Monsieur Thiers die traurige Siegesbotschaft in die Nationalversammlung mit den Worten: »Paris ist seinem wirklichen und wahrhaften Souverän zurückgegeben, das heißt Frankreich.«

12. Fazit

Zweierlei pflegt Erscheinungen, wie wir eine an uns vorübergehen ließen, auf dem Fuße zu folgen: – die Rache der Sieger und die Kostenrechnung.

Das erstere, die Rache der Sieger hat auch Anno 1871 gezeigt, wie weit wir es gebracht haben in der bekannten »Religion der Liebe.« Beispiele von entgegengesetzter Art sind selten und reizen nicht zur Nachahmung. Das erhabene Beispiel von Milde, Schonung und Verzeihung, welches die schweizerische Eidgenossenschaft im Jahre 1847 den besiegten Sonderbündlern gegenüber, und das noch erhabenere, welches die nordamerikanische Union im Jahre 1865 den besiegten Sezessionsfrevlern gegenüber gegeben – solche republikanische Beispiele sind natürlich für Monarchien nicht nachahmungswürdig.

Indessen wird, wer in den Sentimentalitätskrämern von neumodischen Juristen, welche wohl das Blut von Gemordeten, nicht aber das von Mördern fließen sehen können, keine Orakelgeber, sondern nur phantastische Theorienspinner erblickt, nicht anstehen, zu bekennen, daß die französischen Sieger vom Mai 1871 denn doch eine ganz andere Berechtigung zur Rache an überwiesenen Mördern und Mordbrennern hatten als die deutschen Sieger vom Juni 1849 an den besiegten Reichsverfassungskämpfern. Der französische Liberalismus machte daher, als er den Wahrsprüchen des Kriegsgerichtes in Versailles zustimmte, immerhin eine weit noblere Figur als der deutsche, welcher, nachdem er durch seine aus Dummheit und Dünkel, aus Hochmut und Feigheit, aus Impotenz und Sesselsucht gemischte »Staatsmännischkeit« Anno 1848 alles verdorben hatte, die Standrechtsschüsse von Mannheim, Rastadt und Freiburg mit beifälligem Händereiben und untertänigem Schmunzeln begleitete. Eine schwere Makel haftet an Herrn Thiers, seinen Ministern und Generalen, daß sie den trikoloren Schrecken, welcher den roten in Paris abgelöst hatte, gewähren ließen. Es mochte allerdings schwer sein, die durch alle die Strapazen und Gefahren des sechstägigen Straßenkampfes aufgestachelte Wut der Soldaten zu sänftigen; aber es hätte trotzdem versucht werden sollen. Es wurde entweder gar nicht oder doch nicht ernstlich versucht. Daher der Greuel jener massenhaften Niederschießungen gefangener Kommunekämpfer. Die Ziffer derselben ist nicht aktenmäßig festgestellt, allein die Schätzung auf zwanzigtausend, worunter etwa viertausend Weiber und Kinder!!! ist kaum zu hoch, vielleicht eher zu niedrig gegriffen. Auch die Zahl der auf den Barrikaden selbst gefallenen Kommunarden ist nicht amtlich erhärtet, sicherlich aber darf man zehntausend ansetzen, was mit den unmittelbar erschossenen Gefangenen die Summe von dreißigtausend Toten ergäbe.

Ein im November 1875 durch den General Appert an die Nationalversammlung erstatteter Bericht über die Tätigkeit der Kriegsgerichte von 1871 stellte amtlich fest, daß nach vollendeter Einnahme von Paris ungefähr achtunddreißigtausend Gefangene sich in den Händen der Armee befanden. Darunter waren siebentausendvierhundertsechzig rückfällige Kriminalverbrecher, fünftaufend fahnenflüchtige Soldaten' und achthundertundfünfzig Weiber. Überhaupt in Untersuchung gezogen wurden dreißigtausend Personen. Davon sind achtzehntausendneunhundertunddreißig nach der Voruntersuchung freigelassen und elftausendeinhundertundsiebzig vor die Kriegsgerichte gestellt worden, darunter auch achtzig Kinder. Mehrere Todesurteile fällten die Kriegsgerichte gegen zur Kommune übergelaufene Militärpersonen, so gegen Rossel. Im ganzen fielen einhundertundzehn Todessprüche, wovon vierundzwanzig zur Vollstreckung kamen. Von den gefangenen Mitgliedern der Kommune wurden zwei zum Tode verurteilt, Ferré und Lullier, aber nur jener hingerichtet. Andere, wie Urbain, Trinket, Assi, Villioray, Champy, Lisbonne, Régère, Ferrat, Grousset, Verdure, Jourde und Rastoul erhielten in nicht ganz gerechter Abstufung lebenslängliche Zwangsarbeit, Deportation in Festungen oder einfache Deportation (nach Neukaledonien) zugemessen. Die prozessierten wilden Klubgänse und Amazonen kamen ziemlich gelinde weg. Nur über sechs überführte Petroleusen verhängte das Kriegsgericht die Strafe lebenslänglicher Zwangsarbeit. Auch der alte Blanqui und der weiland Laterne-Rochefort wurden nachträglich zur Deportation verurteilt.

Das Gebaren der Kommunarden vor dem Kriegsgericht war wohl in einzelnen Exemplaren, z.B. in Ferré und Lullier, komödiantisch-frech, aber nichts weniger als heldisch und erhaben. Die meisten legten sich wie ganz gemeine Halunken aufs Leugnen und Lügen. Nur sehr wenige hatten den Mut, zu ihren Taten zu stehen. Zu diesen wenigen gehörte der Belleviller Schuster Trinquet, ein sonst unbedeutender Halbnarr, der aber jetzt mannhaft Farbe bekannte und, von der Feigheit seiner Schicksalsgenossen angewidert, ausrief: »Als mich meine Mitbürger in die Kommune gewählt hatten, glaubte ich nicht, sie hätten mich mit dieser Wahl beehrt, damit ich am Tage der Gefahr die Kommune verleugnete. Ich habe mich bis zur letzten Stunde geschlagen, mein Rock und mein Käppi wurden von Kugeln durchlöchert und ich beklage nur eins, nämlich nicht gefallen zu sein, damit ich nicht heute mitansehen müßte, wie meine Kameraden sich ihrer Verantwortlichkeit entziehen wollen.«

Am 2. August von 1871 gab der Marschall Mac Mahon seinen Rapport über die Verluste aus, welche die Armee in der Niederkämpfung der Kommune vor und in Paris erlitten hatte. Sie bezifferten sich auf dreiundachtzig tote und vierhundertdreißig verwundete Offiziere, auf siebenhundertvierundneunzig tote, sechstausendvierundzwanzig verwundete und einhundertdreiundachtzig vermißte Soldaten. Der Feuerschaden war kolossal. Die Ruinen der Tuilerien und des Stadthauses allein repräsentierten eine Einbuße von sechzig Millionen, die des Finanzministeriums eine solche von fünfzehn Millionen, die der »Docks« von Belleville und Villette eine von siebenundzwanzig Millionen, die des Staatsrats- und Rechnungshofgebäudes eine von zehn Millionen, die des Justizpalastes, der Conciergerie und der Polizeipräfektur mitsammen eine von sechs Millionen. Der Gesamtschaden, die zerstörten Staatsgebäude, Kirchen, Paläste, Theater, Fabriken, Speicher und Privathäuser zusammengetan und die vernichteten Mobilien und Waren dazugerechnet, ist auf die Summe von fünfhundert Millionen anzuschlagen, und dieser Anschlag dürfte noch entschieden zu niedrig gegriffen sein.

Wie furchtbar die Kommune in Wehr und Waffen gestanden hatte, mag schon aus der Tatsache klar werden, daß die blauen Sieger den roten Besiegten zweitausendfünfhundert Kanonen und Mitrailleusen, sowie mehr als vierhunderttausend Schießgewehre aller Art abgenommen haben.

Und nun wollen wir das Fazit dieser Blut- und Brandrechnung ziehen, indem wir die Frage stellen: Wozu der ganze Greuel?

Was ist mit so vielem Kraftaufwand, mit so viel Wut und Weh, mit so viel Blut und so viel Tränen erreicht worden?

Was hat Frankreich dadurch gewonnen?

Rein nichts, wohl aber hat es viel verloren.

Ja, so viel verloren, daß Frankreich Ursache haben dürfte, in seinem Geschichtekalender den 18. März von 1871 als einen Nationaltrauertag, als einen, jawohl als den »dies nefastissimus« zu verzeichnen.

Warum? Weil das mit jenem Tage angehobene rote Quartal im Grunde eine Verleugnung der wahrhaft großen, befreienden und erlösenden Prinzipien von 1789 gewesen ist. Diese hatten ja – das ist und bleibt ihr unvergänglicher Ruhm – die soziale Einheit verkündet und begründet, und zwar theoretisch dadurch, daß sie die Gleichheit der politischen Rechte aufstellten, praktisch dadurch, daß sie an die Stelle der Privilegien der Geburt oder der Kaste die Berechtigung der Arbeit und des Verdienstes setzten. Die Kommunarden von 1871 dagegen, wenigstens diejenigen, welche sich zu Werkzeugen der Internationale hergaben, wollten hinter der spanischen Wand einer angeblichen Demokratie, welche aber in Wahrheit nur eine Pöbeltyrannei war, den Grundsatz der Gleichheit vernichten, indem sie auf die Schaffung einer neuen Kaste, die der Handarbeiter, abzielten und mittels dieser Kaste eine neue Klassendespotie, die des bevorrechteten Proletariats über die übrigen Volksklassen, begründen wollten.

Daß damit der Rückfall der Gesellschaft aus der Zivilisation in die Barbarei begonnen haben würde, muß jedem, welcher fünf gesunde Sinne besitzt und davon Gebrauch machen will, einleuchtend sein.

Wir andern Demokraten sind von Herzen bereit, die Tyrannei des Geldsacks niederkämpfen zu helfen; aber gegen eine bloße Ersetzung derselben durch die Tyrannei des Bettelsacks verwahren wir uns entschieden....

Die unmittelbaren Schäden, welche das rote Quartal – auch abgesehen von der dreihundertfachen Menschenhekatombe und dem Brandschaden – angerichtet hat, sind ebenso schmerzlich als handgreiflich. Angenommen, der Drang nach Dezentralisation, das Verlangen nach Gemeindefreiheit sei der ursprüngliche Gedanke der Kommune gewesen, was hat sie durch ihre Art und Weise, diesen Gedanken zu verwirklichen, bewirkt? Nichts als die Straffung und Schärfung der Zentralisation, die Auslöschung sogar des bloßen Gedankens gemeindlicher Selbstverwaltung in Frankreich.

Und was hat die aberwitzige rote Rebellion gegen die Republik des Herrn Thiers zuwegegebracht? Nichts als die Republik der Herren Broglie und Buffet, also die schnödeste Gaukelei, welche jemals einer Nation vorgemacht worden ist.

Und auch daran war es noch nicht genug. Der frevelhafte Vorstoß der Kommune nach Wolkenkuckucksheim rief einen Rückschlag von solcher Macht, daß die Wiederinthronisierung des Mittelalters in Frankreich in der Person des Grafen von Chambord bekanntlich nur an der ehrenhaften Seite dieser Persönlichkeit scheiterte.

Was endlich das mörderische Wüten der Kommunarden gegen die Priester angeht, so liegen die Folgen hell oder vielmehr dunkel, sehr dunkel zu Tage. Denn es ist ja eine ganz zweifellose Tatsache, daß das im Mai von 1871 durch die Roten vergossene Priesterblut in Frankreich für das Pfaffentum ein Mairegen geworden, welcher es zur üppigsten Blüte trieb, zu einer Blüte, welche anzukünden scheint, daß »la grande nation« nicht mehr – wie sie bislang wenigstens in ihrer Einbildung getan – an der Spitze der Zivilisation, wohl aber unter dem Banner des Heiligen von Loyola an der Seite Spaniens marschieren werde.

Das ist die Schuldrechnung des roten Quartals. Nur Narren können sie abmindern, nur Gauner können sie leugnen wollen. Sie ist sehr lehrreich; aber damit will ich nicht sagen, daß sie die Menschen viel oder auch nur etwas lehren werde. Das wäre ja gegen alle herkömmliche moralische Kleiderordnung und würde den alten Hegel Lügen strafen, welcher sein wahrstes Wort gesprochen hat, als er sagte: »Die Geschichte lehrt nur, daß sie die Leute nie etwas lehrte.«

Also weiter im gewohnten und beliebten »Laissez faire, laisser aller!« mehr oder weniger liebe Zeitgenossen. Immer rüstig weitergeschwindelt, bis euch eines schwarzen oder roten Tages der europäische Generalkrach wie ein Blitz auf die Köpfe fällt.


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