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Mein Haus

Seitdem wohne ich in einem einstöckigen Häuschen am Rande des Schwarzwalds, oberhalb Rheinweilers. Zwischen Rheinweiler und dem Waldhaus liegt der Kurort Römerbad. Die Römer haben ihn gegründet, und die warmen Quellen, in deren Wasser sie gebadet, fließen noch immer. Die Ruine ihres einfachen, aber höchst eleganten Bades liegt hinter dem neuen, prächtig zeitgemäßen Marmorbad, im Park des Grafen Breisach. Während der schönen Jahreszeit ist der Ort sehr belebt, der Winter, obwohl mild, verschließt ihn der Außenwelt. Dann liegen die vielen Hotels und Villen in anmutigem Verfall, ein Tag gleicht dem andern, keiner wird gezählt. Dann herrscht der Hochwald mit seinen Stürmen, seinem nicht minder unheimlichen Schweigen, und es wandeln die paar Einwohner, auch am hellichten Tag, in traumhafter, einem etwa durchkommenden Fremden unverständlicher Erregung als die Nachtwächter des versunkenen Kurortes, einzeln und in Gruppen Hier ist der warme, gehütetste Winkel des alemannischen Gartens. Lebte ich hier in der Verbannung, es wäre das schönste Exil der Welt, am Rande eines tiefen Waldes auf der einen, eines ständig sich wandelnden Himmels auf der andern Seite und so heiter!

Meine Tante lieh mir ihren Chauffeur, der sommers gärtnert und Holz spaltet, winters Feuer anmacht und das Haus putzt, auch bedient er bei Tisch. Er tut ein übriges, indem er der Köchin das Geschirr wäscht. Er heißt Grether Fritz und ist aus Rheinweiler gebürtig.

Mit Ausnahme von ihm und einem verkrüppelten Vetter sind alle Männer seiner Familie im Krieg gefallen, und die Frauen haben zu ihren elsässischen Verwandten über den Rhein gewechselt. Der Krüppel ist verschollen. Er soll als Bettler in den Städten reich geworden sein.

Dagegen ist dem Fritz, der im Lande und ein armer Teufel geblieben, kein Haar gekrümmt worden, wiewohl er vier Jahre lang von der russischen zur französischen Front unterwegs war, doch, sagt er, habe er vom Reisen für sein Leben genug. Er hütet Jacquot wie ein ganz kluger Hund, ein noch klügerer als Barry, und Jacquot vergilt es ihm mit einer ständigen Sorge um sein Wohlbefinden. Er steckt ihm nicht nur jede erreichbare Wurstware zu, er gibt ihm auch von der Schokolade und den Waffeln ab, womit die Großmutter in Breuschheim und der Großvater in Köln ihn reichlich versehn. Ihre liebste Beschäftigung ist das Studium von Automobilen, die im Umkreis einer Stunde vorbeifahren, (Jacquot erkennt eine Automobilmarke von weitem, am Geräusch des Motors, am Bau der Karosserie) ihre gemeinsame Klage, daß wir kein Auto mehr besitzen, wenigstens nicht auf dieser Seite des Rheins, und ihr Festtag, wenn sie »eins ausheben«, das heißt, wenn sie »auf eine Panne stoßen«. Dann wird den fremden Kollegen geholfen! Sie reden wochenlang davon, bis zum nächsten, das sie »ausheben«, und Jacquot führt ein Buch, »der Kalender« genannt, darin sind die Tage vermerkt, wo ein Auto vorbeifuhr, und die Sonntage, wo eines stecken blieb. Und dies genügt, daß sie beide vergessen, wie eintönig das Leben hier oben verläuft.

Meine Mutter schickte ihre Köchin, die ebenfalls Kathrin heißt wie die in unsrer Familie unsterbliche, halbblinde Köchin meiner Ururgroßmutter. Unsre Kathrin ist nicht blind, nur leider zu alt, um mit Grether Fritz den Bund fürs Leben einzugehn. Grether Fritz macht sich nichts aus Frauen. Er ist genug gereist.

Tante Sidonia hat mir das frühere Jagdhaus zur Volljährigkeit geschenkt, und Doris und ich haben unsre Flitterwochen und dann noch manchen Sommer hier verlebt. Hier ist Jacquot geboren. Das Haus liegt einsam. Bis zur Eisenbahnstation Rheinweiler ist es eine gute Stunde, Römerbad erreichen wir in zwanzig Minuten, doch ist Jacquot der einzige von uns, der von den zauberhaften Einrichtungen des Kurorts Gebrauch macht.

Nach dem Krieg fanden wir das Haus von einem angeblichen Waldhüter bewohnt. Ich sah ihn mir an. Es war ein russischer Gefangener, der in die Familie eines vermögenden Bauern eingeheiratet hatte. Der Bauer war Bürgermeister eines Dorfes hinter Römerbad und hatte seinem Schwiegersohn im letzten Kriegsjahr das leerstehende Haus als eheliche Wohnung zugewiesen. Doris und ich mußten deshalb erst in Römerbad Wohnung nehmen. Wir kannten das Hotel und seinen Besitzer, Herrn Muser. Nirgends hätten wir besser aufgehoben sein können. Es ließ sich leben, es ließ sich viel vergessen hier und manches sinnen und trachten. Wir wollten einige Tage im Hotel zuwarten und blieben Wochen.

Tante Sidonia zählte die Familie Muser zum »besten Hoteladel«. Nicht minder wahrscheinlich, als daß die von ihr hochgeschätzte Schweizer Zirkusfamilie Knie schon im alten Rom mit Roß und Gauklern aufgetreten, wäre ihr die Annahme erschienen, die Beamten und Offiziere der weltbeherrschenden Stadt seien in Römerbad bei der Familie Muser abgestiegen. Jedenfalls lebten die Muser in der Erinnerung des Landes dasselbe ewige Leben wie die Rheinweiler und die Breisach. Auf alten Stichen sah man das erste Hotel in Römerbad: ein hübsches Gebäude im klassizistischen Geschmack, von dem auch in der Literatur der Zeit verschiedentlich die Rede war. Es hieß »Zum Vogesenblick« und war von den Muser gebaut. Im Lauf der Zeit wuchs das Lustschlößchen zu einem riesigen Palast an, aber es hieß noch immer »Zum Vogesenblick«. Darauf regierte nun Herr John Muser, ein bürgerlicher Edelmann, der auf der Welt nichts so liebte wie das Geigenspiel. Doris musizierte mit ihm.

Von fern zuhörend, verschlang ich deutsche Zeitungen, von denen mir seit dem Waffenstillstand keine mehr zu Gesicht gekommen war, aber sie machten mich nur noch hungriger. Um satt zu werden, abonnierte ich auf ausländische Blätter. Ohne den Reiz zu verkennen, der in der Fremdheit der Sprache lag, konnte ich mir doch nicht verhehlen, daß diese führenden Weltblätter einander glichen wie das Eisengeschäft en gros in Sidney dem Kolonialwarenhaus en gros in Hamburg, wie eine Pariser Damenschneiderei einem Londoner Reisebureau und das Berliner Bureau des Kalisyndikats dem Bukarester Bureau der westöstlichen Erdölgesellschaft. Was an »letzten Nachrichten« in den Zahlentabellen des Kurszettels auf den Pulsschlag genau sich ausdrückte, das war auf den ersten Seiten der Zeitung in eine allgemein mißverständliche Sprache übertragen, mit der die Leser in Ermanglung einer zeitgemäßen Bildung nicht nur sich selbst, sondern auch ihre unschuldigen Frauen und Kinder fütterten, wodurch ständig Millionen Opfer für einen neuen Börsencoup der Weltgeschichte im Namen eines altvertrauten Gottes bereitgestellt blieben. Bald ließ ich die Zeitungen und schaute mit ungemischter Lust auf die roten Absätze von Mozartischen Weisen, stand ergriffen vor dem Gesicht eines Konzerts von Beethoven, in das Tag und Nacht und die Jahreszeiten sich mit Menschenhand eintrugen, sah die nervösen Kondottierefäuste Wagners sich öffnen und, das Schwert wegwerfend, in zweideutiger Lust vergehn, folgte innig vergnügt den langen, gesalbten Fingern Debussys, die über die Formen eines Frauenkörpers glitten, ohne zu verweilen, lauschte den neu entdeckten Vogelkonzerten der Jüngsten. »Verweile,« rief ich, »verweile um mich, Seele Welt, du Krieg und Friede der Engel!« Wenn die zweifellos gerechtfertigten Gelüste der Gottesgeschöpfe das Maß der Verlogenheit übersteigen, sagte ich mir, so macht man Musik! Das Reich der Begierde dehnt sich grenzenlos, ein Augenaufschlag schluckt das Irrlicht eines Hundertpfundscheins, Wimpern ziehn, sich hebend, auf ihren Schwingen zahllose Sklaven ans Licht, in hohem Gesang, der ertönt, öffnen sich lautlos die Pforten der Hölle... Und nirgends in der Welt lebten auf einem Fleck soviel begeisterte Musiker beisammen, wie im königlich-preußischen Generalstab – auch das sagte ich mir, lächelnd. Für eine Weile war die Zeit entgiftet.

Wir versäumten nichts im Hotel Vogesenblick, und wenn Doris mit eins falsch spielte, weil sie, überwältigt, an etwas andres dachte als an ihre Noten (Herrn Muser geschah das nie!), so liefen die Noten, vom geduldig maßregelnden Hotelier auf dem Fuße gefolgt, von allein weiter. Ich erriet, was Doris vom gestrigen, vom morgigen Tag in so verwirrender Weise beschäftigte, und der musikalische Traum des Menschen setzte sich fort, von allein, und es tat gut, so zu leben, so zu hoffen, so bereit zu sein für Glücksfälle, die vielleicht niemals einträten, vielleicht aber auch schon morgen. Doch eines Tages erkrankte Herr Muser an einem Hexenschuß in der rechten Schulter, da beschloß ich zu handeln.

Ich machte dem Bürgermeister des Dorfes hinter Römerbad, dessen Schwiegersohn mein Haus besetzt hielt, einen Besuch, lud ihn nach Rheinweiler ins Schloß und bat den Amtmann des Bezirks sowie einen bekannten Rechtsanwalt, mir bei der Erörterung der Wohnungsfrage zwischen einer Flasche Markgräfler und einer Flasche Burgunder Weines behilflich zu sein.

Die wirklichkeitsfrohe Gesellschaft kam über grundsätzliche Erörterungen gar nicht hinaus, »der Gerechtigkeit halber« erbot sich der Bürgermeister spontan, mir in meinem Hause Raum zu schaffen, und als die Tante für eine Weile hinausgegangen war, fluchte er grimmig auf die hergelaufenen russischen Schwiegersöhne.

»Gibt es denn hier herum so viel?« fragte ich verwundert, worauf der Wackere mit der Faust auf den Tisch hieb, daß der Wein in den Gläsern wippte.

»Man könnte ein Regiment daraus bilden!« versicherte er, und dann begann er mit dem Amtmann zu flüstern; er wollte wissen, ob es kein Mittel gebe, die lästigen russischen Schwiegersöhne abzuschieben, wohin, das war ihm gleich.

So richteten wir uns denn in unserm Waldhaus ein. Wir vertrugen uns nicht schlecht mit unsern Zwangsmietern, jedoch die ungenierte Lebensweise der Meinen mißfiel ihnen, und sie zogen aus. Wohin, das war nun wieder mir gleich.

Jacquot besucht die Schule im Städtchen, ich lerne mit ihm. An schönen Tagen geht er im Kurpark Römerbads spazieren, wechselt prüfende Blicke mit kurzröckigen Fräulein, die ihm aber meist aus guten Gründen mißfallen. Dagegen bleibt er stehn, wenn ihm ein andres Mädchen begegnet, mit Namen Anna Gräßlin. Sie lächeln einander an, manchmal führen sie, ein paar Schritte nebeneinander hergehend, ein bedächtiges Gespräch. Das Mädchen ist die Tochter einer Weinhändlerswitwe, die mit dem Baron Breisach im Römerbader Schloß Beziehungen unterhalten soll. Grether Fritz spricht abfällig von ihr und gibt acht, daß Jacquot der armen Kleinen nicht zu nahe kommt. Den Baron Breisach, er scheint mir übrigens nicht ganz bei Verstand zu sein, haßt der Junge, er weigert sich, ihm die Hand zu reichen, und weicht ihm, sowie der Baron auf einem Waldweg auftaucht, von weitem aus, wobei er heimlich Barry auf ihn scharf macht. Von alledem höre ich nur durch Grether Fritz. Trotzdem glaube ich meiner Sache sicher zu sein: Jacquot hegt keinen Argwohn mehr gegen den Vater, und wenn er so oft von der Schweiz, dem Petersgrat und dem Tschingelgletscher spricht, so hofft er noch immer, so wünscht er unbändig, daß ich mit ihm in die Schweiz fahre und ihn wie einen Hund, den man auf die Fährte setzt, dort oben suchen lasse. Er wird die Mutter finden!

Als ich ihm kürzlich sagte, die Mutter liege bei uns daheim in der Breuschweilener Kapelle begraben und ich würde ihn vielleicht bald einmal hinführen, so glaubte er mir nicht. Ich hatte es ihm ja auch bisher verschwiegen!

Warum?

Weil es meinem eigenen Gefühl mehr entsprach, Doris in Eis und Schnee »verloren« zu haben?

Weil ich heute noch mit Schrecken an das Begräbnis meiner Großmutter denke, wo ich, so alt wie heute Jacquot, aus purer Konvention sinnlos gequält wurde?


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