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Fortan genossen Maria und ich nicht nur volle Freiheit, Kirchen und Museen abzustreifen und, wann es sich schickte, nämlich um zwölf und um sechs, auf dem Markusplatz zu verweilen, wir wurden auch, wie auf Befehl, in die Gesellschaft der Großen aufgenommen. Geld holte ich beim Konsul. Hotelgäste, von denen wir bisher nicht gemerkt hatten, daß sie mit den Unsern verkehrten, luden Maria und mich an ihren Tisch ein, und dann dauerte es gewöhnlich nicht lange, bis Bob Capponi oder Sidonia, der wehmütig lächelnde Lord Berrick mit dem ein wenig scheelen Auge, Zeus, dessen menschlicher Name Baron Steinberg lautete, seine Frau Camilla und noch andre sich hinzugesellten. Der Markusplatz karrt mir vor wie ein Salon ohne Decke, es war ein richtiger Himmel, in den man blickte, kein gemalter, und an Stelle von Gobelins weiteten den Raum steinerne Gebäude, unter deren Bogengängen Menschen aus allen Erdteilen vorüberzogen, und ein bunter Dom, wo zahlreiche Tauben mit ebensoviel Glockentönen zusammenwohnten. Die Standuhr in der Ecke war ein blauer, goldgestirnter Turm, unter dem ein Leiterwagen bequem durchgefahren wäre, wenn es hier Wagen gegeben hätte. Manchmal wurden wir von Leuten aus dem Kreis in die Hotels am großen Kanal mitgenommen.
Sidonia kam fast immer verspätet, immer in Eile. Kaum hatte sie aber ihre Entschuldigung vorgebracht und sich gesetzt, als alle Ungeduld, sowohl ihre eigene wie die der andern, einer prickelnden Beschaulichkeit wich, einem Sommergefühl, worin alle sich farbig und mit ihrem besonderen Duft erschlossen. Sie erinnerten mich dann an wohlerzogene Kinder, die keine andre Sehnsucht kannten, als zu sprechen, zu lauschen, leise die Glieder zu rühren und sich mit Blicken mehr, als mit Worten anzuvertrauen. Das Glück hielt Hof und machte alle, die es berührte, zu Liebenden. Sidonia, die selbst nie lächelte, war überall von einem Lächeln umgeben.
Als sie sich wieder einmal verspätet hatte (wir warteten im Hotel Bauer) und Bob ihr beim Ablegen des Mantels behilflich war, hörte ich, wie er ihr galant einen Satz zuflüsterte, von dem ich das Wort »Doppelleben« auffing. »Bob,« rief sie kühn, »ein anderes Leben lohnte sich nicht.
Mit diesen Worten, die mich innerlich zu gegenstandloser und darum besonders tumultuöser Tapferkeit hinrissen, trat sie leichten Schrittes aus dem. Seidenmantel, den Bob noch hinter ihr in der Luft hielt: ganz weiß und so klar, daß sie fast leuchtete, und deutlich bis zur Schärfe in dem vor lauter farbiger Üppigkeit verschwommenen Salon, an dessen Möbeln die wahllosen Gruppen der Gäste als Parasiten klebten. Es schien mir ein Bild, eine »Geburt der Venus«, doppelt zauberhaft in solchem Raum und solcher Umgebung. Vom »Doppelleben« aber verstand ich soviel, daß es das Leben der Götter war, das Leben in verschiedenen Gestalten, hier und dort. Auch ich, das wußte ich, würde es einmal führen, auch ich ...
Bob! Wie Maria und ich nannte auch sie Marias Bruder Bob, und Bob genoß ihre Freundschaft. Schon saß er neben ihr auf dem Sofa, was einer ausdrücklichen Ehrung gleichkam angesichts des Umstandes, daß sich noch mehr Damen in unserer Gesellschaft befanden, die mit Stühlen vorliebnahmen. Ja, er war keineswegs nur mein und Marias und Donjas Bob. Alle Damen, alle ohne Ausnahme hätten ihm gern eine bevorzugte Stellung eingeräumt, aber Bob war wählerisch. Obwohl er viel trank, blieb er zuverlässig, anspruchslos, verschwiegen. In der Schlafwolke, die ihn umgab, ihn allen ein wenig entrückte, schritt ein Adonis, und die Wolke selbst war der Atem der Anmut. Verschwatzte er sich auch einmal, so vergaß er doch nie, wer ihm zuhörte, und statt einen Freund zu verraten, warb er ihm einen Verbündeten. Nicht als ob er ein »Menschenkenner« gewesen wäre, wie sich gewisse abgebrühte Egoisten gern nennen! Im Gegenteil, er begegnete den Menschen zutraulich, überließ sich unbekümmert ihrer Gesellschaft, ertrug ihre Laster ebenso wie ihre Tugenden, er hatte keine Ahnung von Psychologie, aber den Instinkt eines Tieres. Er verurteilte keinen, und wenn er jemand ablehnte, so geschah es aus einer Art unwiderstehlicher Laune, gegen die er sich selbst mit verdoppelter Höflichkeit zur Wehr setzte. Bobs Freundinnen erfuhren von ihm Huldigungen und Aufmerksamkeiten, wie sie sonst nur Geliebten zuteil werden. Mehr als einmal überraschte ich Europa bei einem qualvoll neidischen Blick auf eine dieser Freundinnen, die ihm, ein Kußmäulchen schneidend, ungezwungen die Hand, sogar die Wange streicheln konnten. Die einzige, die Bobs nicht froh zu werden schien, war Europa.
Heute weiß ich, warum. Aber damals hielt ich die Art, wie Bob sich mit Schwert und Flederwisch abmühte, die Baronin Steinberg Würde und Bescheidenheit zu lehren, für zarte Rücksicht auf ihre Tugend und Furcht vor dem stiernackigen Gatten.
Ein wie guter Freund Bob war, zeigte sich bald darauf bei Gelegenheit eines überraschenden Zusammentreffens. Bob, Maria und ich hatten mit Donja das Hotel verlassen und uns gleich darauf vor dem Uhrturm, verabschiedet. Donja ging über den Markusplatz weiter, wir drei bogen in die Merceria ein. Wir bummelten die Gassen hinauf bis zum Rialto und kehrten durch die Calle Goldoni zurück. Kurz vor dem Albergo Bonvecchiati bogen wir, von. Bob unmerklich geführt, auf dessen Rückseite in eine Gasse ab, die das Hotel umging.
Plötzlich sah ich die rote Hochzeitsgondel vor mir. Sie lag an einem grünen Tor, dessen Schwelle das Wasser des Kanals bespülte. Das Tor stand offen. Im Tor erschien Sidonia.
Als wir sie vor einer halben Stunde verlassen hatten, war sie in Hut und Schneiderkleid gewesen, jetzt trat sie in einem Nachmittagskleid, Nelken im Gürtel, einen schwarzen Spitzenschleier über dem Haar, aus der Wassergrotte ... Ich stand am Rande des Kanals, sie vor der Gondel im Tor, reglos starrten wir einander an.
Da stieß Bob einen gräßlichen, italienischen Fluch aus, gleichzeitig ergriff er mich am Arm und Maria am Zopf: »Mein Zigarettenetui/jammerte er, »ich habe mein Zigarettenetui verloren«, und fluchend und klagend trieb er uns vor sich her, bis wir wieder in der Galle Goldoni angelangt waren. »Sucht, Kinder, sucht!« eiferte er weiter, »es ist aus Gold mit einem Rubin. Wenn Ihr es findet, dürft Ihr mit mir auf dem Lido Thee trinken«. Wir suchten, wenn auch mit abwesenden Augen, bis zu S. Bartolomeo. Hier fand Bob das Zigarettenetui in seiner Hosentasche. Nachdem er ihm, unter angestrengter Betrachtung der Kirchenfassade, eine Zigarette entnommen und sie angezündet hatte, stellte er uns nebeneinander auf und sprach:
»Ihr bildet Euch natürlich ein, da hinten Sidonia erblickt zu haben – leugnet nicht! Ich selbst habe gemeint, sie wäre es: sie, Sidonia, und keine andre. Aber die Gondel? Es war die Gondel des russischen Admirals, das ist nun ganz sicher. Dafür könnte ich meine ewige Seligkeit verpfänden. Also kann es nicht Sidonia gewesen sein. Wie sollte die Gondel des Admirals dazu kommen, Sidonia in einem Hotel abzuholen, das sie gar nicht kennt? Also!«
Ich nickte, wie ein Mann, der sich auf Diskretion versteht. Maria aber ergriff Bobs Hand, machte die »Katze, die Milch schleckt«.
»Schön. Bob,« mauzte sie, »gerade in dieser Gondel haben Claus und ich Sidonia neulich mit dem Fürsten gesehn.«
Bob sah mich fragend an.
»Wir wissen alles«, bestätigte ich, und Maria fiel mit singender Stimme ein: »Wir sind schon sehr groß.«
Er warf zornig die Zigarette weg.
»Warum habt Ihrs nicht gleich gesagt – Ihr Spitzbuben!?«
»Weil du immer Whisky trinkst«, antwortete Maria ...
Wir waren, wie gesagt, zwei Dutzend Menschen, die, mit Sidonia als Mittelpunkt, ständig in Verabredungen miteinander lebten. Alle kannten den Fürsten, obwohl er an ihren Gesellschaften nicht teilnahm, wenigstens nicht, solange Maria und ich anwesend waren. Sie schienen nur nachts mit ihm zusammenzutreffen. Es fiel uns auf, daß die Frauen gern und mit Eifer von »Boris« sprachen, die Männer dagegen hinter einer Verschanzung heraus, so, als unterhandelten sie, in Deckung, mit einem selbst in seiner Abwesenheit gefährlichen Gegner, was wiederum die Frauen zu allerhand Sticheleien, ja, zu offener Entrüstung antrieb. Jedoch gab es keinen, der nicht Sidonia geradezu überschwenglich gehuldigt hätte. Da waren es dann die Frauen, die bedenkliche Gesichter schnitten.
In Sidonias Abwesenheit mußte man überhaupt auf der Hut sein. So hatten sie zuerst vom Fürsten als Sidonias »Freund« gesprochen, wie sie mich Marias »Freund« nannten. Dies letzte war richtig, aber wir »vergassen uns« auch nicht, »draußen auf dem Meer«, wie die Damen von Donja sagten, wir »verspäteten uns« nicht »beim Taubenschießen«. Ich verwies sie denn auch, daß der Fürst, wenn sie etwa auf ihn abzielten, der Verlobte meiner Tante sei, ich hingegen Marias Freund. Sie gaben mir Recht und richteten sich darnach. Für's gewöhnliche hielten sie uns für zu dumm, ihre Manöver zu durchschauen, oder sie bildeten sich ein, der viele Rauch verberge uns das Feuer, und kamen sich als große Feldherren vor, wenn sie ihren Mummenschanz vor uns aufführten. »Glück in der Liebe, Unglück im Spiel«, war ein Wort, das häufig wiederkehrte; Maria und ich fanden es reichlich grob. Als es wieder einmal vor uns fiel, sagte Maria ruhig: »Sowas sollten Sie vor uns nicht sagen, meine Herren. Es paßt sich nicht.« Und als man sie sprachlos ansah, fuhr ich fort: »Es ist sehr freundlich, daß sie uns erlauben, bei Ihnen Platz zu nehmen, aber wir sitzen nicht hier, um Indiskretionen über Familienmitglieder anzuhören.«
Wir ernteten den Beifall der Damen, Lord Berrick nickte zustimmend, Bob ließ den Strohhalm los, mit dem er seinen Whisky schlürfte, um Maria die Hand zu küssen und mir eine Zigarette anzubieten, der Baron Steinberg aber murmelte: »Lausejunge ... Wenn du wüßtest–« und verließ mit flüchtigem Gruß den Tisch. »Madame, Sie tun mir leid«, sagte ich darauf beziehungsvoll zu Frau Camilla. Ich sprach zu ihr als zur Freundin Bobs, und meine Taktlosigkeit mochte als eine Art von impulsiver Kundgebung meiner Sympathie hingehn.
»Aber nehmen Sie sich in acht, Claus«, scherzte sie. »Mein Mann hat heute seine Versetzung zur Regierung in Straßburg erhalten.«
»Wieder einer«, entfuhr es mir.
»Was für einer? wollte Maria wissen.
Mit dunkler Drohung erwiderte ich:
»Wieder einer von drüben.«
Frau Camilla nickte ironisch:
»Ganz recht, wieder ein Barbar, der zu Ihnen leben kommt, wie der Herrgott in Frankreich. Nicht wahr, so sagt man bei Ihnen? Ich werde Sie beschützen, Claus. Er darf Ihnen nichts tun.« Dabei legte sie mir eine weiße, runde Hand auf den Kopf.
Dankbar für diese mütterliche Liebkosung vertraute ich ihr an:
»Die Marchesa und ich nennen Madame – Europa.«
»Europa?« Sie war erschrocken. Um die Augen des Lords flügelte ein Lächeln.
Maria flüsterte in ihr Gefrorenes: »Kennt sie nicht«, und Bob anstoßend, rief sie:
»Du, lade uns zum Tee im Stabilimento ein. Aber du mußt einen Tisch ganz vorn am Meer belegen.«
»Also«, antwortete Europa. »Trinken wir Tee auf dem Lido.« Bob, über sein Glas gebeugt, nickte, ohne seinen Strohhalm loszulassen. »Nur müssen Sie mir erst sagen: sehe ich aus wie eine Landkarte?
Ich brach aus:
»Wie eine Göttin, Madame. Europa ist eine Göttin des Altertums.«
»Des Altertums«, rief sie wahrhaft entsetzt.
Indessen beruhigte sie sich, als der Lord, wehmütig lächelnd, bestätigte: »Gewiß, Baronin, Europa ist eine Göttin des Altertums, und sie soll eine ganz reizende Dame gewesen sein. Zum Beweis wird erzählt, kein Geringerer als Göttervater Zeus habe die Gestalt eines Stieres angenommen, um sie zu entführen.« Die Frage, warum der Göttervater Zeus dafür gerade die Gestalt eines Stieres gewählt habe, blieb unbeantwortet, weil die Kaffeehauskapelle plötzlich gewaltigen Schlages die »Marcia reale« anhieb.
Sofort fielen die Kapellen der andern Cafés ein.
Man sprang auf, stieg auf Tisch und Stühle, man schrie, man winkte.
»Sehen Sie den kleinen Leutnant dort, der über den Platz geht?« fragte Bob. Wir standen eng zusammen auf dem kleinen Tisch, Maria, Bob und ich, und Bob zeigte mit dem Whiskyglas hinüber. »Das ist der König.«
An diesem Tag also, kurz vor dem Mittagessen, sah ich den König von Italien. Es war mir nichts an ihm aufgefallen, was an einen Eroberer gemahnt hätte. Um drei waren Maria und ich unterwegs nach dem Lido.
Wir fuhren in einer gedeckten Gondel. Weit um die Stadt lag ein Kranz von Gewittern, eine sterbende Sonne schien über der Lagune, und Fische schnellten an unsichtbarer Angel aus dem Wasser. Die weißen Gebäude der Riva degli Schiavoni schmerzten die Augen, so arg weiß waren sie, und die dunklen saugten sich, aufquellend wie Schwämme, voll Finsternis. Über die fernen blauen Höhenzüge wischten Blitzfeuer, dann leuchteten Berge und Täler auf, man erkannte das Grün der Wälder und Wiesen und die hellere Farbe des Gesteins. Von dorther vernahm man keinen Donner, und auch die Blitze über dem Meer, die wie Peitschenschnüre in der Luft hingen, gaben nur einen schwachen Laut. Das Boot schien in dem dickflüssigen Wasser nur mühsam vorwärts zu kommen.
Ob es losginge, bevor wir am Lido wären, fragte ich.
»Hoffentlich«, flüsterte Maria, die Hände um die Knie verschränkt, und sie lehnte sich mit einem Seufzer an meine Schulter. Für ihren Teil fängt sie an, dachte ich ... Vor dem Besteigen der Gondel hatte ich sie verwarnt, daß es uns ja nicht beifiele, Sidonia und den Fürsten nachzumachen. »Nachmachen?« hatte sie finster geantwortet, »nachmachen?«, und kaum war das Boot abgestoßen, da hatte sie mich beim Handgelenk gepackt und ausgerufen: »Ich mache nichts nach, verstehn Sie mich, Claus? Ich habe es nicht nötig gehabt, auf Sidonia zu warten.« Der letzte Satz war mir ein Rätsel geblieben. Darauf hatte sie neben mir auf der Lauer gelegen, geduckt, mit weit entspannten Brauen.
Übrigens zitterten mir die Beine. Maria lächelte. Lächelte hartnäckig und auf besondere Art. Jetzt nahm ich ihren Kopf in die Hände und sah sie an, ich suchte dem Lächeln bis auf den Grund zu kommen, das um Augen und Mund schwamm, jenem Lächeln, das am Tage von Sidonias »Hochzeitsfahrt« geboren war.
»Seit damals lächeln Sie so«, sprach ich mit gepreßter Stimme.
»Warum? Bitte, warum? Ich verstehe nicht, Sie verletzen mich, was soll das heißen?«
»Sehr viel soll es heißen.«
»Was? Bitte, Maria!«
Das Mädchen entzog mir den Kopf und schob ihn bis an meine Brust vor, krallte sich mit den Händen in meine Arme, streckte die langen Beine aus, so daß ich ihr ganzes Gewicht trug, und wir sanken hintenüber auf die Kissen.
»Weil Sie mir seit damals gehören«, flüsterte sie,, Ich spürte ihren warmen Atem in meinem Ohr. »Mir, statt Donja, mir!« Ihre Lippen eilten feucht über mein Ohr, sie wühlten sich in den Hals, ich wollte mich aufraffen, ihren Kopf ergreifen, sie küssen oder schlagen, aber sie drückte mich mit ihrer Schläfe nieder.
»Nicht gucken, Claus,« knirschte sie, »nicht gucken.« Zuckend lag sie über mir, die Hände noch immer in meine Arme gekrallt, die Beine auf meinen Knien. »Laß mich dich liebhaben, nein, du tust mir nichts, du tust mir nichts, still, Claus, still! Laß mich dich küssen, oh, wir tun nichts Böses, nein, o laß mich nur wenig, nur ein wenig ...« Sie sagte du, immerzu du!
Da schleuderte uns ein Schlag auseinander, das Mädchen flog seitlich zu Boden, ich rücklings in die Ecke. Der Felze bebte, das Boot schwankte. Eine braune Hand erschien in der Fensteröffnung, mit gestrecktem Zeigefinger, und die Stimme des Gondeliers schrie:
»Schaut, Kinder, da fährt ein Admiral!«
Halb von Sinnen gehorchten wir, beeilten uns hinauszusehn. Maria erhob sich gar nicht erst vom Boden, sie zog nur mit einem Griff den Rock über die Knie. Draußen fuhr, im weißen Motorboot, der Fürst vorbei – an der Seite einer großen, blonden Dame. Beide blickten mürrisch vor sich hin. Die Sonne schien nicht mehr. Die dunkle Lagune war in den Himmel erhoben, und das Wasser kräuselte sich wie in einem lautlosen Sieden. Der Fürst deutete mit langem Arm in den Himmel. Dann waren sie vorbei.
Das Mädchen und ich starrten einander mit aufgerissenen Augen an, bis es plötzlich blitzte. Dem Blitz folgte ein zerreißender Schlag. Maria setzte sich neben mich, ohne Eile, und ein Rasen ging über die Lagune. Die Blitze verknäulten sich, der Donner wollte sie mit Kolbenschlägen entwirren. Die Gondel flog, vom Regen gepeitscht. Warum sanken wir uns da weinend in die Arme? ... Wir empfanden keine Furcht. Es war herrlich, so dahinzufliegen ... Wir bekümmerten uns weder um den Admiral, noch um Sidonia, noch um. die fremde Frau, die den Platz der andern im weißen Boot eingenommen hatte. Wenn ich an Sidonia dachte, so nur weil ich annahm, daß ich glücklich sei und ihr also jetzt verzieh. Maria liebte mich! Nie hätte ich gewagt, im Ernst daran zu glauben, daß sie mich so, über allen Verstand, daß sie mich wirklich liebte, toll, wie sie es angefangen, ach! wunderbar, statt mir nur, wie bisher, auf ihre tückisch zärtliche Art zu schmeicheln. Was konnte mir noch geschehn? Wer hätte stärker sein können als ich, ich mit allen beseligenden Kräften der Welt im Busen? Maria! Ich und Maria! Als wir indessen aufgehört hatten zu weinen und einander töricht anlachten, fiel es uns schwer, Zittern und Zähneklappern zu verwinden.
Die Gondel lief hart auf dein Strand auf, wir sprangen an Land. Im dichten Regen halfen wir dem Führer, das Boot aus dem Wasser zu ziehn. Dabei schlug uns die Brandung bis über die Schenkel. Als wir damit fertig waren, liefen wir alle drei, der Gondelier voran, in den Regen hinein, bis wir unversehens vor einer Droschke standen, deren Kutscher sich in das Innere seines Wagens geflüchtet hatte. Er machte uns Platz und vertröstete uns auf das Ende der Sintflut, was Maria in eine ekstatische Wut versetzte, der sie sich mit sichtlichem Genuß überließ. Es sei unverschämt, rief sie aus, sfacciato, eine patschnasse Dame, zudem eine Marchesa, in einer übelriechenden Droschke warten zu lassen, und sie bestand darauf, daß der Kutscher uns sogleich zur Badeanstalt fahre, wo sie die Kleider wechseln könnte. Er weigerte sich lachend, aber als ich ihm ein Trinkgeld versprach, schlüpfte er ebenso vergnügt in den Regen, und im Galopp, durch eine kompakte Masse, in der nur die Strahlen platzender Pfützen als Flüssigkeit wirkten, durchquerten wir die Insel.
Während wir hin und her geschleudert wurden, löste ich das rote Band von Marias Zopf und verwahrte es in der Brusttasche. »Zum Andenken«, sagte ich. »Das ist nicht viel, Claus, aber für den Anfang lasse ich's gelten. Was mache ich jetzt mit meinem Zopf? Hast du ein Taschenmesser?« Schnell streifte sie ein Strumpf band ab, schnitt es der Länge nach durch und band, nachdem sie die eine Hälfte wieder angezogen hatte, die andre um das Ende des Zopfs zu einer Schleife, knipste mit den Fingern dagegen, blies darauf:
»So. Weiß, wie für die Hochzeit. Es fehlt nur noch die Orangenblüte ... Weißt du was? Ich kaufe mir ein paar Orangenblüten und stecke sie an das Strumpfband. Ja, Claus, das tue ich.«
»Und ich?« fragte ich, »was soll ich tun?«
Sie dachte eine Weile nach, bevor sie, den Mund an meinem Ohr, antwortete:
Wir hatten keine fünf Minuten bis zum Strand gebraucht, und als wir die weitläufige hölzerne Terrasse des Stabilimento betraten, lag reinster Sonnenschein über dem Meer. Zum erstenmal sah ich die Adria.
Sie glich in nichts der Nordsee, vor der ich mich immer gefürchtet hatte, obwohl meine Mutter sie liebte und mir Geschichten erzählte, die mein Vertrauen erwecken sollten. Dieses Meer hier war lauter Liebe! Hand in Hand liefen wir bis an die Brüstung der Terrasse, sie hallte unter unsern Schritten.
Maria Capponi, dachte ich, das ist dein Himmel, das ist dein Herz – so muß es in dir aussehn, wenn du schläfst... Es ist unsre Spielwiese, wir sollten mit bloßen Füßen darüber hinlaufen ... Wir sollten blaue, weiße und goldne Bälle haben und große Reifen aus Silber, die wir durch die Meinen Wellen jagten ... Ich möchte ein Stück davon mit nach Hause nehmen, für den Weiher im Garten, dann wärst du immer bei mir, und wir spielten mit dem winzigen Stückchen Meer.
An der Brüstung angelangt, forschten wir genau unsre Züge aus, und je länger wir einander betrachteten, umso ernster wurden wir, und schließlich hoben wir die Hände, legten sie flach aneinander und betrachteten auch sie, schoben die Finger ineinander und beobachteten, wie sie sich aneinander bewegten.
»Ich möchte deine Brüste sehn«, sagte ich leise.
»Wenn du willst«, antwortete sie ebenso.
»Alles?«
»Alles – wenn es keine Sünde ist.«
Doch ließen wir hastig unsre Hände los, als ob sie uns auf einmal brennten, und da erblickten wir Bob.
Er saß aufrechten Hauptes am Tisch und musterte eine Front von Traumgestalten. Seine Hand drehte langsam ein Glas, das mit einem himbeerfarbenen Getränk gefüllt war. Als wir zu ihm traten, sagte er kameradschaftlich:
»Denken Sie, Claus, sie hat mich versetzt.«
Ich bat ihn, du zu mir zu sagen. Kr klopfte mich auf die Wange und griff gleichzeitig nach Marias Hand.
»Sehr nett. Danke. Ihr duzt euch wohl auch?«
Wie ich mich noch darüber ärgerte, daß ich errötet war, was Bob sichtlich amüsierte, machte meine Freundin einen Hofknix:
»Mit Ihrer gütigen Erlaubnis, Marchese Ganymed.«
Er runzelte die Stirn.
»Ganymed?«
»Hat nicht Demoiselle Europa, verehelichte Steinberg, euch versetzt?«
»Ja, denke, rief Bob und hob das rote Glas in die Sonne. »Sie hat mich versetzt. Es ist fabelhaft.«
Um mein Erröten wettzumachen, äußerte ich keck:
»Vielleicht hat sie Prügel gekriegt.«
Bob trank das Glas aus.
»Das kann sein«, meinte er und nickte mir ernst zu.
Jetzt erst, da er sich nach dem Kellner umsah, bemerkte er, wie die nassen Kleider uns am Leibe klebten. Überrascht fragte er, ob wir ins Wasser gefallen seien, wunderte sich, als wir vom Sturm über der Lagune erzählten, und erst, nachdem Maria wiederholt auf den nassen Boden gewiesen hatte, erinnerte er sich, daß auch hier ein kleiner Regenschauer niedergegangen war:
»Ihr seht, ich bin nicht naß.« Nein, außen nicht, meinte Maria mit einem Blick auf das leere Glas. Sie setzte ihm zu, bis es sich herausstellte, daß er vor dem Regen in die gedeckte Halle geflohen war und das Glas mitgenommen hatte. Bob schien ihrer Hänseleien nicht zu achten, vielmehr reichte er ihr freundlich die Brieftasche und bat sie, für uns beide in einem der Läden, die in die Wandelhalle eingebaut waren, Kleider zu beschaffen.
Als wir in einem Schaufenster Matrosenanzüge liegen sahen, traten wir ein, und Maria verlangte zwei solcher Anzüge für Knaben.
»Wir haben einen passenden Rock für die Signorina«, tröstete die Verkäuferin. Nein, Maria Capponi wollte Jungenshosen. Ich stieß sie vorwurfsvoll an, aber sie drehte mir, ausplatzend, den Rücken und folgte der Verkäuferin in die Hinterstube. Gleich darauf stürzte die würdige Frau, Marias Halbschuhe in der Hand, an mir vorbei aus dem Laden. »Claus«, hörte ich rufen, und plötzlich schlug das Herz mir im Hals – ich trat drei Schritte vor.
»Claus, du darfst kommen.« Da hob ich den Vorhang. Maria saß nackt auf einem Plüschsofa, vielmehr auf einer Zeitung, die über das schmierige Polster gebreitet war. Mit einem Wort hielt sie mich an: »Halt ... Da bleibst du stehn.«
Es war ein altes Möbel, worauf sie saß, und sie selbst schimmerte feucht vor Jugend. Wie ein großes gedämpftes Licht schwebte sie in der Rumpelkammer. Ich sah auch: um ihre runden Brüste lag ein Hof, wie um ihre Pupillen, aber von tiefer Bernsteinfarbe.
»Jetzt geh, gleich kommt die Alte.«
Sie rührte sich nicht und sprach durch die Zähne, ohne eine Miene zu verziehn, offenbar, um mich nicht im Anschauen zu stören; wir hatten nicht viel Zeit, und ich sollte sie gut sehn, ohne durch eine Bewegung an ihr in Verwirrung zu geraten ... Als ich den Vorhang hinter mir sinken ließ, hörte ich, wie sie einen tiefen Seufzer tat und auf die Füße sprang.
Da schoß auch schon die Matrone herein, eine Schuhschachtel unterm Arm, und zwei Minuten darauf stand ich einem Jungen gegenüber, der seine Hände in den Hosentaschen vergrub und, nachdem er wie ein Seemann zur Seite gespuckt hatte, mich mit einer Kopfbewegung zur Eile anhielt – er habe keine Zeit, lange zu warten, sein Kasten mache bereits klar nach Cythere. Da mußte ich allerdings staunen.
Marias Zopf war unter einem Südwester aus grünem Samt versteckt, alle ihre reizenden Formen waren gröblich maskiert, und sie schien viel kleiner als in ihrem Kleid. Welch plumpes Geschöpf – sie, die ich eben noch in so ausgefeilter Zartheit, ein jedes Teilchen an ihr fein ausgewogen, wie schwebend vor mir gesehn! Ich war tief enttäuscht und, da ihr Beifall heischender Blick unerwidert blieb, sie vermutlich nicht minder.
Bob, das frisch gefüllte Glas vor sich, sah uns kommen, oder, vielmehr nein, er sah uns nicht. Erst, als Maria sich vor ihm aufgepflanzt hatte, kam Leben in seine Augen, und das war erschreckend. Die Augen wurden größer und größer, der Kopf fiel zurück, und plötzlich flog er, wie von einer Feder abgeschnellt, in die Höhe. Er beugte sich tief, umfaßte Marias Beine, hob sie, drückte sie an sich, und dann, als kletterte er an ihr empor, ließ er sie langsam, Griff um Griff, an sich herabgleiten. Wie ihre Gesichter sich in der gleichen Höhe begegneten, erschrak ich über ihre Ähnlichkeit. Und nun stieß Maria einen durchdringenden Schrei aus. Sofort öffnete Bob die Arme. Sie wäre gestürzt, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte.
»Du bist toll, nicht ich«, stammelte er und ließ sich schwankend auf den Stuhl nieder.
Maria zischte:
»Was fällt dir ein, mich zu kneifen! Ohrfeigen sollte ich dich!« Drohend holte sie aus, und vielleicht schlug sie nur deshalb nicht zu, weil ihr Bruder sich in diesem Augenblick bekreuzigte. Diese Gebärde verblüffte sie derart, daß sie, mit einem ängstlichen Seitenblick auf mich, schnell auf die andre Seite des Tisches hinüberging und dorther ihren Bruder beobachtete. Bob wischte sich mit dem Taschentuch das Gesicht.
»Verzeiht, Kinder,« sagte er außer Atem, »denkt euch, ... ich wäre fallsüchtig.«
»Was wärst du?' fragte Maria, die Finger am Mund. Bob hob seine dunkeln Augen zu ihr auf:
»Soso ... fort – wie Großmutters Kutscher.«
»Pfui«, sagte Maria kurz. Sie ergriff die Teekanne und begann einzuschenken. »Trinken wir, unser Gondelier wartet. Claus, willst du mir beim Streichen der Brote helfen? Bob kann das nicht.«
»Er ist unzählige Male vom Bock gefallen, erzählte Bob mit abgewandtem Gesicht, »und nie hat er sich einen Schaden zugezogen. Die Leute haben Glück.«
Da nahm Maria sein Glas – »Lord Whisky, Sie gestatten? – und schleuderte es ins Meer.
Während er sich über die Brüstung beugte, um zu sehn, was mit dem Glas im Meer geschah, murmelte er:
»Es war ein Amerikano, kleine Schwester. Dir zuliebe habe ich nicht Whisky bestellt. Dies ist der Lohn der Welt – und eine viel zu große Ehre für ein Glas Limonade, im Weltmeer unterzugehn.
»Sei munter, Bob! Wir sind so vergnügt, Claus und ich! Weißt du was? Segne unsre Verlobung! ... Du, Bob, wir haben den Fürsten mit einer blonden Dame gesehn. Sie waren geradeso schlechtgelaunt wie du.«
»So? Habt ihr die auch schon gesichtet? Ja, ihr wißt ja alles.«
»Bob, sie sah aus wie seine Frau ...«
Er malmte mit den weißen Zähnen den Toast, ohne die Teetasse anzurühren, die seine Schwester von Zeit zu Zeit in die Nähe seiner Hand schob.
»Um gerecht zu sein, muß man schon sagen: wie seine geschiedene Frau.«
Ich wußte nicht, was das sei, eine geschiedene Frau, und Bob fiel es schwer, mir die gewünschte Belehrung zu erteilen, weil Maria ihn dauernd mit der Behauptung unterbrach, die Kirche erlaube keine Scheidung, oder wenn sie etwas Ähnliches erlaubte, so müßten die Ehegatten ihr Lebtag bei Wasser und Brot sitzen bleiben, keiner dürfte sich von neuem verheiraten ... Als ich schließlich begriffen hatte, wollte ich wissen, warum die blonde Dame, obwohl geschieden, nun trotzdem beim Fürsten sei. Bob stöhnte.
»Geld. Er braucht Geld. Er wird ihr telegraphiert haben.«
»Geld?« forschte Maria, die das Problem der Ehescheidung vergessen hatte. »Er hat verspielt?«
Ihr Bruder lächelte wehmütig.
»Alles, was sie an Bargeld besaß, dann hat sie sich scheiden lassen. Das ist aber schon ein paar Jahre her. Seht, Kinder, Alkohol ist billiger als das Spiel. Ich also verspiele nie mehr als hundert Lire. Und auch die nur aus Höflichkeit.«
»Bob, trink deinen Tee ... Und jetzt? ... Claus, bitte, sag' dem Kellner, er solle Bob einen Schuß Rum in den Tee gießen.«
»Kellner«, rief ich und blieb sitzen, denn ich ahnte, daß die Rede jetzt auf Sidonia käme ... Inzwischen sah Bob zu, wie der Rum seinen Tee färbte. »Halt, Kellner!« befahl Maria. »Und jetzt?«
Der Bruder nippte an der Tasse.
»Sie gibt nichts.«
»Warum ist sie dann gekommen?«
Er streckte ihr über das Tischtuch die Hand hin.
»Frauen sind oft grausam, kleine Schwester. Wahrscheinlich macht es ihr Spaß, zuzusehn ...« Und Bob sprach von etwas anderm.
Als wir aber ein wenig später über die Lagune, die sich mit den ersten zarten Farben des Abends überzog, nach Venedig zurückfuhren, da hielt Maria es nicht länger aus. Sie schlang den Arm um mich und fragte, die Wange an meiner Schulter:
»Und Sidonia?«
Obwohl wir seit einer halben Stunde von anderm gesprochen hatten, verstand Bob sogleich die Frage, ja, mich dünkte, er habe darauf gewartet, jedenfalls waren seine Gedanken auf der gleichen Fährte geblieben. Doch rief er, der die ganze Zeit über Marias Anblick gemieden hatte, auf einmal verzweifelt aus:
»Deine Beine sind schamlos, Maria!«
Sie wiederholte nur:
»Hat Sidonia ihm Geld gegeben?«
Bob beugte sich aus der Fensteröffnung des Verdecks. »Wir sind gleich da«, fuhr er in größter Unruhe fort. »Du mußt durch die Hintertür ins Hotel.« Und er rief dem Gondelier zu, bei der Kirche La Pietà anzulegen, die zweihundert Schritte vom Hotel Danieli entfernt lag.
» Claus schämt sich meiner nicht«,lachte Maria. »Und das Hotel kennen wir, in- und auswendig. Und jetzt sage mir: hat Sidonia ihm Geld gegeben?«
Halb aus dem Fenster gelehnt, antwortete Bob:
»Ihr Diadem ist weg. Aber gestern abend hatte sie noch die Perlenkette.«
»Arme Donja«, seufzte Maria... »Hast du sie nicht gewarnt?
»Ich habe es versucht... Warne du den Vogel vor der Schlange.«
Wir stiegen bei La Pietà aus, und Maria und ich schlichen durch den Küchenhof in das Hotel. Die Büglerinnen drängten sich, plötzlich lebhaft geworden, zu den Fenstern und riefen uns Scherzworte zu: »Il marchesino!« und beglückwünschten mich zur Verwandlung meiner Freundin. »Geh!« stieß diese mich an, »geh zu deinen Weibchen und laß dich auffressen.« Ich reichte den Mädchen die feuchten Kleider, die ich unter den Armen trug: »Bügeln, Signorine, in einer Stunde lasse ich sie durch Emilio abholen!«
Keinesfalls ging ich zu ihnen, o nein, ich gehörte jetzt Maria, und die Büglerinnen konnten mir gestohlen werden.
Sieh da, Donja und Bob nahmen am Abendessen teil. Maria winkte ihnen freudig zu, als sie in ihrem weißen Abendkleid neben mir den Speisesaal betrat. Es war ein Fest, nun ja, unser Verlobungsessen. Den Zopf hielt eine neue Atlasschleife, und er hing ihr über die Schulter auf die Brust, denn sie hielt es für unschicklich, den Zopf auf dem Rücken zu tragen, wenn sie »angezogen« war. Mein Gott, wie schön sie da neben mir herging und nach ihrer Mandelseife duftete, alle Leute guckten wohlgefällig zu ...
»Ich habe Orangenblüten im Strumpfband«, verkündete sie mir heimlich. »Im linken?« fragte ich, weil ich merkte, daß sie mit dem linken Fuß stärker auftrat als mit dem rechten. »Natürlich!« Natürlich, trug man doch auch den Verlobungsring an der linken Hand! Bob erhob sich feierlich zu unserer Begrüßung.
Dann hörte Sidonia uns zu, wie wir, in einer Sprache, die wir undurchdringlich wähnten, törichte Geschichten ausplauderten, wie die Verliebtheit sie auch größeren Personen eingibt, und die meist nur aus Stichworten und unbeendeten Sätzen bestanden. Als ob nicht der Schlüssel dieser Sprache der liebenden Sidonia in der Hand gelegen hätte! Sie ließ es sich nicht anmerken, sondern nahm, gleichsam als der Tölpel, der auf einer Verfolgung eines Schmetterlingspaars strauchelt, hinfällt, sich ächzend aufrafft und weiterstolpert, mit ernster Heiterkeit an unserm Spiele teil.
Sie trug ein ausgeschnittenes Kleid, und plötzlich fiel mir, zu meinem Entsetzen, die Kahlheit des Ausschnittes auf: die Perlenkette fehlte! Die köstliche Landschaft des Fleisches zwischen Hals, Schultern und Brust war wie ausgeplündert, mein Blick kreuzte sich mit dem Marias, und gleichzeitig schloß Bob, der aus einem Traum aufgewacht und meinem Blick vorausgeeilt war, langsam die Augen. Wahrscheinlich hatte sein Erschrecken, wie es über den Tisch gehuscht war, meine Aufmerksamkeit erregt. Dies alles dauerte nur drei Sekunden. Drei Sekunden saßen wir alle wie gelähmt. Dann hob Sidonia abwehrend die Hand, und Bob schlug die Augen auf. Auch die Hand war leer, der gewohnten Ringe beraubt – doch wie schön in ihrer nackten Armut!
»Das ist ja noch kein Unglück«, sagte Bob scheinbar zu sich selbst.
Und Donja antwortete wie ein Echo: »Aber sie spielen schon wieder seit fünf.«
Da erhob sich Bob und verließ den Saal.
Bis heute weiß ich nicht, ob Bob etwa den Fürsten im Spielzimmer aufsuchte, oder was sich sonst in der Zwischenzeit ereignete, ehe Maria und ich, die nach dem Essen zitternd in einer dunklen Ecke des Korridors gestanden und das Kommen und Gehen Bobs, des Fürsten und seiner geschiedenen Frau beobachtet hatten, die Standuhr an der Treppe zehn Uhr schlagen und kurz darauf in Sidonias Salon einen Schuß fallen hörten. Ich glaube, ich wußte sofort, daß es ein Schuß war, obwohl er nicht lauter klang, als ob ein Fenster zuschlüge.
Der erste, der aus dem Zimmer trat, war Bob Capponi. Er schob uns, wie wir uns auf ihn warfen, mit beiden Händen zur Seite, stellte sich vor die Standuhr und zog die Taschenuhr. Dann schritt er, ohne uns weiter zu beachten, die Treppe hinunter.
»Bis zehn,« hörten wir ihn klagend ausrufen, »bis zehn war es nicht zu schaffen!«
Auf dem Korridor war es totenstill. Ebenso in Sidonias Zimmer, als wir an der Türe lauschten. Es war eine Stille, die sich mit unheimlicher Schnelligkeit ein Loch grub, und in dies Loch strömte alle Stille, die es sonst in der Welt gab. Bald standen wir erstarrt an einem Abgrund, wagten uns weder vor noch zurück. Meine Spannung wuchs bis zu einem heftigen Schmerz in den Schläfen und im Nacken.
»Marchesa,« flüsterte ich heiser, »ich will hineingehn.«
Sie ließ meinen Arm los, den sie erst furchtsam umklammert hatte, und strich mir mit der Hand über die Hüfte. Dann trat sie schnell zur Seite und sah mit brennenden Augen zu, wie ich behutsam die Tür öffnete und mich durch den Spalt zwängte.
Der Fürst lag, in Frack und weißem Hemd, dicht vor der Tür, ein graugelber Schmelz rann über sein Gesicht und erstarrte, ich sah weder eine Wunde noch Blut. Atmete er? Ein Arm deutete mit einer herrischen Gebärde, die zu Boden gefallen, in den Salon hinein, die braune behaarte Hand hielt einen Revolver, und in dieselbe Richtung blickten die Augen. Und sonst war niemand im Zimmer. Da überkam mich eine dunkle Erinnerung an eine alte Frau, an deren Bett mein Vater mit ausgestrecktem Arm getreten war, und ich kniete nieder und schloß mit Daumen und Zeigefinger dem Toten die Augen. Meine Kehle stieß ein stöhnendes Schluchzen aus, von dem ich nichts wußte – ich hörte es erst viel später, als ich auf dem Sofa meines Zimmers lag, im Begriff einzuschlafen, und es mich aufschreckte und mir zum erstenmal in meinem Leben den Schlaf raubte, während die Atemzüge Marias wie Engel durch den Raum gingen und draußen die Sirenen der russischen Kriegsschiffe heulend die in Hotelbetten schlafenden Offiziere an Bord riefen ...
Meine Hand lag noch auf dem Toten, als die Tapetentür des Schlafzimmers sich öffnete und Sidonia erschien. Sie glitt wie ihr eigener Geist herein. Es war ihr Haar, ihr Kleid, aber ihr Gesicht, ihr Gesicht war es nicht – oder doch nur ein verstümmeltes Abbild von ihm.
»Bitte, Fürstin,« sagte sie, »ich weiß nicht, was Sie hier noch tun.« Sie drückte mit dem gestreckten Arm die Tür an die Wand, und an der Holden, wie eine edle Vase Geformten schritt hochbusig die Fürstin vorbei und auf den Toten zu. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehn.
»Da liegt er, der beste Tänzer Europas! ... Ja, wer bist denn du?« wandte sie sich an mich. »Steh auf! Sag', wer du bist? Wie ein kleiner Heiliger kniet er da, als ob – Steh auf!«
Da flog die Holde lautlos auf mich zu, hob mich auf und küßte mich zwischen die Augen. Und sie führte mich um die Füße des Toten in die Mitte des Zimmers und behielt mich im Arm, bis es Gott gefiele, uns von dem unheimlichen Weib zu erlösen.
»Wenn das Ihr Neffe ist, Baronin, kann er etwas lernen. Anschauungsunterricht. Man hängt in den Schulen Bilder an die Tafel –«
Ihre ganze, große Gestalt strotzte von der finstern Gewalt des Schicksals, sie war nicht der Henker, sie war der Richtblock, sie war das Beil, nicht die Hand, die es führte. Und sie sprach! An meinem Knabenkörper lag, noch in der Erstarrung bewegt, aus verschwiegenen Buchten schweifend, sich darin verbergend, der Liebe verhaftet noch im Tod, eine Blutsverwandte, und ich hörte sie sterben. Sterben? Ich wußte damals nicht, was das war. Ich hörte sie verstummen, abfallen, vergessen. Und das da mit Brillantohrringen und blitzenden Fingern, eine dreifache Perlenschnur um den feisten Hals, redete recht. Sie stieß Worte hervor, die wie Steinblöcke niederfielen und den Toten zum zweitenmal erschlugen. Ihre weichliche Hand schürte das Höllenfeuer. Sie sagte lauter Dinge, die mir aus Büchern und Predigten vertraut waren, jene überhellen Gesetzsprüche von Schuld und Sühne, woran Gott sein Wohlgefallen habe. Und alles, Haß und Mitleid, Anklage und Freispruch, alles war ein erbarmungsloses Gericht über Sidonia und sollte sie vernichten. Ich riß mich los.
»Schämen Sie sich,« schrie ich, »schämen Sie sich, Madame Sortez! Le mort pourrait regretter de ne pas vous avoir abattu avant de mourir.«
Wie hätte ich es sein können, der so sprach! Ich war nur der Mund, aus dem Sidonia aufschrie. Ich war ein Zittern, das ihrer Starrheit entsprang, wie der erste hörbare Atemzug eines Ohnmächtigen, den die andern vernehmen, nicht er. Und sie erschrak und verschloß mir mit der Hand den Mund.
Indes hatte mein Ausbruch, dieser gleichsam das Dunkel um den Toten erhellende Blitz aus dem Gehirn eines Kindes, offenbar Eindruck auf die gewalttätige Frau gemacht. Einen Augenblick schien sie in ihrer Stärke erschüttert, ihre Hand griff hastig an das goldne Kreuz, das ihr auf der Brust hing. Aber dann geschah in ihrem Gesicht ein Ruck, wie bei gewissen Wagen, wenn man die schwankenden Schalen mit einem Hebeldruck in die Gleiche bringt, und die Kraft übermenschlicher Verachtung ergoß sich in die eben noch bebenden Züge. Sie beugte ein wenig den Oberkörper vor.
»Wer schreit denn so vor einem Toten?« sagte sie mit abgewürgter Stimme.
Tatsächlich hatte sie selbst die ganze Zeit leise gesprochen. Aber gerade dadurch war die Bosheit ihrer Rede um so schärfer und eindringender gewesen, und ich zeigte ihr meine Entschlossenheit, sie zum Schweigen zu bringen, selbst gegen Sidonia – im Bund mit dem Toten. Ich nahm Donjas Hand von meinem Mund und blickte die Fürstin erhobenen Hauptes an. Denn ich fürchtete sie nicht. Ich haßte sie. Wie unter einer Einflüsterung hatte ich mit eins nicht nur ihre Falschheit erkannt – diese war mir durch ihr erstes Wort enthüllt worden – sondern auch, daß sie gar nicht so stark war, wie sie sich den Anschein gab, und ihre Frechheit nur die Maske, hinter der sie ihre Furcht verbarg. Und diese Maske hatte sich soeben bewegt! Dies stählte meinen Blick, und mein Zorn machte ihn glühend. Mit einem wollüstigen Erzittern im Tiefsten fühlte ich, wie mein Blick langsam, langsam den ihren niederwarf, fühlte, wie mein Haß den Popanz ihrer Verachtung zu Asche verbrannte, wie ihre Rüstung abfiel, und wie ich, ein David, mit dem Schwert über den ausgehöhlten Riesen kam ... Noch immer hielt ich Donjas Hand.
Die große Blonde hatte die Stirn gesenkt, ich sah von ihrem Gesicht nur noch die herrisch gekrümmte Nase, den dunkeln dicken Mund und zwei schmale, weiße Falten unter dem Kinn, die wie mit einem Messerrücken eingezeichnet waren. Sie schien in die Betrachtung d es Teppichs versunken, auf dessen Rand sie stand – nein, sie lauschte einer unhörbaren Stimme, die sie ausschalt! Ohne zu zögern, nahm ich meinen Vorteil wahr.
»Klammern Sie sich nur recht fest an unsern Heiland an«, sprach ich laut, als die von funkelnden Ringen geschuppte Rechte wieder nach dem Kreuz auf der Brust tastete ... »Sonst holt Sie der Teufel, ehe Sie sich's versehn, Sie böse Person, Sie!«
»Meinst du?«
Ein gemeines Lächeln quoll ihr aus dem Mund.
»Aus dir kann was Schönes werden! Ich gratuliere!«
Schnell raffte sie die Röcke und stieg über den Toten.
Als sie die Türklinke in der Hand hielt, drehte sie sich um und rief, jetzt ebenfalls laut:
»Machen Sie mir das nach, Baronin, wenn Sie können!«, und höhnisch nickte sie uns zu.
»Nein«, hörte ich Sidonia hinter mir aufschluchzen. »O nein, nein, niemals.«
Den Kopf in der Türspalte, drückte die Hochbusige mit den Schultern gegen den Flügel, der Körper des Toten rutschte ein wenig über den Parkettboden, ich sah das Blut. Eine kleine, dunkle Lache im Schatten des Hauptes ... Donjas Hand entfiel mir.
Erschrocken wandte ich mich nach ihr um. Die Arme vor dem Gesicht, schluchzte sie. Die schmale Gestalt war von einem Sturm geschüttelt, dessen ganze Gewalt auf die zart geschweiften Schultern drückte. Ruckweise gaben sie nach. Ruckweise brach der Körper unter ihnen zusammen. Ich umschlang sie mit den Armen, um sie zu halten, es war ein Beben von Leib und Seele, ein Brechen, Stürzen, Fliegen, von dem ich in seinen unbändigen Wirbel hineingerissen worden wäre, hätte es nicht fast im gleichen Augenblick aufgehört. Kaum hatten sich meine Arme um sie geschlossen, als Donja sie auch schon wieder löste und mich wie ein kleines Kind, an den Schultern, vor sich her zur Tür führte. Nur ihre Stimme zitterte noch, als sie sagte:
»Ich will ein wenig allein sein, Claus ... Bald holen sie ihn, und ich habe noch nicht mit ihm sprechen können ...«
Vor den Füßen des Toten angelangt, ließ sie mich los.
Den Blick zu ihm wendend, faltete sie die Hände, und ich hatte den Eindruck, als wäre sie auf einmal weit von mir entfernt und rückte körperlich in eine andre Welt. »Beten,« sagte sie vor sich hin, »mit aller Kraft beten« – und ich setzte, auf den Fußspitzen und mit angehaltenem Atem, allein meinen Weg fort, den langen Weg um den Toten bis zur Tür.
Auf dem Korridor gingen drei Herren schweigend auf und ab: Bob, der Direktor und ein russischer Offizier. Als Maria, die sich hinter der Standuhr versteckt hielt, mir zuflüsterte, die Herren warteten auf den Arzt und den Polizeikommissar, um den Todesfall festzustellen, trat ich auf Bob zu und nahm ihn zur Seite.
»Bob, sie hat ausdrücklich gewünscht, jetzt mit Boris allein zu sein.«
Er drückte meinen Arm und ging mit mir zu Marias Versteck.
»Kleine Schwester, hier ist Claus, und jetzt macht, daß ihr hier fortkommt... Noch was! Claus ist ein feiner Kerl, ich bin stolz auf meinen jungen Freund. Er kann also auf mich zählen – fürs Leben, Claus! Hört jetzt ... Niemand im Hotel darf wissen, was vorgefallen ist. Der Direktor wäre sonst ruiniert. Alle Gäste würden ihm davonlaufen, es käme in die Zeitungen, und auf Jahre traute sich kein aufgeklärter Europäer in sein Hotel ... Komisch, nicht? Von dem Standpunkt wären ungefähr alle Häuser der Welt unbewohnbar ... Es ist so ... Darum schweigt. Heute nacht also, wenn alles schläft, wird der Admiral von seinen Offizieren hinausgetragen und auf dem Flaggschiff aufgebahrt. Morgen erfahrt ihr, der arme Boris sei in der Nacht einem Herzschlag erlegen, der Stabsarzt« – er zeigte auf den russischen Offizier – »der Stabsarzt muß es ja wissen, nicht? Na, er weiß es also jetzt schon, daß der arme Boris heute nacht von einem Herzschlag ereilt wird. Und morgen abend fährt das Geschwader mit seinem toten Admiral nach Hause, die Flaggen sind auf Halbmast gehißt, das Arsenal schießt Trauersalut, und die Schiffe antworten, und das alles geht mich einen Dreck an also. Die Frage ist, was mit Donja geschieht. Wie wir Donja über die nächsten Tage hinwegbringen. Nicht? Also, das nehme ich auf mich, und wenn ich euch brauche, rufe ich ... Geht jetzt schlafen.«
Mitten in der Nacht kam meine Freundin: im Schlafanzug, Kleider und Wäsche auf dem Arm. Sie fürchtete sich, allein zu sein, sie hatte gefroren. Kaum war ich aus dem Bett, als sie auch schon hineinschlüpfte. »Ach,« flüsterte sie, »es ist noch ganz warm von dir! ... Und du?
»Wenn du mir ein Kissen leihst, werde ich es hier recht bequem haben«, antwortete ich. Ich hatte mich auf dem Sofa unter einer Reisedecke ausgestreckt, und als ich das herüberfliegende Kissen aufgefangen und Maria das Licht gelöscht hatte, verfolgte ich am Gang ihrer Atemzüge, wie sie einschlummerte.
Und dann lag ich mit steifen Gliedern in der Einsamkeit und horchte auf die Geräusche im Haus und auf der Lagune. Es war ein Wimmern, Schlürfen, Knarren im Käfig der Nacht, der mich zugleich mit Sidonia, Maria, Bob und Boris gefangen hielt, eine von stumm eilenden Menschen immer nur halb erstickte Unruhe der Natur, die nicht erlöschen wollte ... Ich hörte Uhren schlagen, einmal, einmal, einmal, zweimal, einmal...
Ein Schrei, ein Todesschrei, dachte ich, der die Nacht selbst zu einer Säule des Grauens erstarren ließ, jagte mich aus dem Schlaf, und ich wäre vor Schreck aus dem Bett gefallen, hätte mich nicht das Entsetzen an jene hohe Säule gefesselt, an der jetzt die Stille wie ein dunkles Wasser niederrann.
Gab es denn das: Todesschrei? ... Die Toten schrien nicht. Schrien die Lebenden, wenn sie starben? Jedenfalls hatte der Fürst nicht geschrien. Ich hatte geträumt ... Marias ruhiger Atem drang durch die Erstarrung allmählich bis zu mir, er berührte die eine Seite meines krampfhaft gestreckten Körpers, von den Zehen bis zu den Haaren über den Schläfen, überlief ihn, sich kräuselnd, eine winzige Brandung. Endlich empfand ich einen warmen Kitzel im Nacken, und die Wiederbelebung unter Marias Atem begann. Ich schöpfte Luft, warf mich herum, lag, während es in den Wänden rieselte, wieder in krampfhaft gestreckter Lage und biß die Zähne aufeinander, bis der Schmerz im Kinn überhandnahm, dann riß ich den Mund auf.
Ich fand die Kraft, den Ruf »Maria« in der Kehle zurückzuhalten. Doch rührte ich mich nicht und ließ nur den lauen Wellengang ihres Atems über mich hingehn, der mich jetzt völlig überschwemmte. Ich war mir weder eines Gefühls noch eines Gedankens bewußt, von jeder Trauer ebenso weit entfernt wie von jeder Freude. Ich hörte nichts als den Atem des schlafenden Mädchens, ich sah nichts als den Schein hinter den Fenstervorhängen, der mählich heller wurde.
Endlich erhob ich mich, nahm meine Kleider, verließ lautlos das Zimmer. Die Morgensonne färbte den Korridor. Ich duschte und kleidete mich im Badezimmer an. »Morgenstunde hat Gold im Munde« ging es beständig durch den Kopf, und auf dem Rückweg zu meinem Zimmer ertappte ich mich dabei, wie ich vor mich hinsummte.
Über ihren guten Nachtduft gebeugt, weckte ich Maria. Als sie, mit einem gähnenden Lachen, das an den Ruf eines Käuzchens erinnerte, die Arme um meinen Hals warf, hob ich sie auf und stellte sie vor dem Waschtisch auf die Füße. Zwei-, dreimal fuhr ich ihr mit dem nassen Schwamm über das Gesicht, dann konnte sie ihn selbst halten.
»Ich habe Hunger!« rief ich. »Mach' schnell!«
Ich frühstückte ein erstes Mal allein in dem leeren Saal, den die Morgensonne in einen Wintergarten voll blitzend-knospender Blumen verwandelte, ein zweites Mal mit meiner Freundin – da füllte sich der Saal schon mit Hotelgästen, und was nach fremdartigen Blumen ausgesehn hatte, entpuppte sich als eine Schar winziger Paradiesvögel, die allenthalben von den Tischen aufflogen, sowie man daran Platz nahm. Die Lagune unterhielt ein weißes Wetterleuchten an der Decke des Saales. Maria und ich wußten, wir gehörten zusammen. Wir wagten weder zu weinen noch zu lachen.
Es geschah, wie l'amico vorausgesagt hatte. Den ganzen Tag waren Boote zwischen der Riva und dem Flaggschiff unterwegs, Militärs, angezogen wie zur Parade, und Herren im Zylinder gingen an Bord, um sich vor dem hohen Katafalk zu verneigen und einem dort wartenden kleinen, graubärtigen Offizier die Hand zu drücken. Das Trauergerüst war unter dem vorderen Kanonenturm errichtet, das Rohr beschützte mit funkelnder Mündung den Sarg, an dessen vier Ecken außerdem die Degen der Wache haltenden Offiziere in weißen Bündeln glühten, gleich flammenden Schwertern der Engel. Viele Kränze mit bunten Schleifen schwammen über die Lagune, fast immer einer allein in einer Gondel, und alle Glocken der Stadt und der Inseln läuteten zu ungewohnten Stunden, was die Möwen ebenso beunruhigte wie die Menschen. Statt die gewohnten Kreise zu ziehn, hingen die Vögel flatternd und einander überkreischend in der Luft oder bildeten feurige Strudel.
Gegen Abend trat das Geschwader unter Glockengeläut und Geschützdonner die Heimfahrt an. Der Katafalk führte die Schiffe, die ihm in langer Linie folgten. Ihren toten Admiral an der Spitze, bewegten sie sich, durch das brodelnde Wehr des Sonnenuntergangs, der Nacht entgegen, und die Kanone über dem Sarg zeigte leuchtend und blitzend in den Horizont, als brennte sie darauf, aus der tosenden Lagune in den stillen Ernst des östlichen Himmels dort über dem Meer zu tauchen.
Maria und ich saßen mit Ferngläsern versehn, zwischen dem Hotel Danieli und dem Arsenal auf der Quaimauer. Als wir unsere Gläser auf das Hotel richteten, fanden wir, daß Sidonias Fenster die einzigen leeren des ganzen Gebäudes waren. Aber dann entdeckten wir in einem von ihnen ein winkendes Taschentuch ... Sie verbarg sich im Innern des Zimmers für ihr Lebewohl!
»Sicher ist Bob bei ihr«, sagte ich.
»Sicher«, sagte sie.
Dann saßen wir schweigend, bis plötzlich, wie auf ein Zeichen, Stille eintrat. Die Kanonen feuerten nicht mehr, die Glocken schwiegen. Und obwohl in allen Fenstern der Häuser und auf der weitläufigen Riva die Menschen dichtgedrängt standen, war es doch so still wie in einer Kirche während der Kommunion, ehe das letzte Klingelzeichen die Gläubigen aus dem größten aller Geheimnisse entläßt.
Wer weiß, wie schlimm es Donja noch in Venedig ergangen wäre, hätte nicht l'amico, wie ich Bob seit seiner Freundschaftserklärung auf dem Korridor nannte, sie schließlich mit Gewalt ihrer trostlosen Lage entrissen.
Täglich begehrte sie aufs heftigste abzureisen. Täglich wurde die letzte Rechnung bezahlt, unser Gepäck fuhr zur Bahn, Maria und ich warteten vor dem Hotel, und jedesmal erschien Bob allein in der Hoteltür, die Gondel wurde weggeschickt, das Gepäck vom Bahnhof zurückgeholt.
Und bei jedem Mal zog sich die Wolke, in der Bob tragisch wandelte, dichter zusammen. Man sah nur noch seine Augen, große, angsterfüllte Augen, die unempfindlich, verhärtet schienen. Er verkehrte mit niemand mehr, übersah selbst Maria und mich, verbrachte Tage und Nächte in Sidonias Salon, ohne sie öfters zu sehn, als des Morgens, wenn sie ihn beschwor, die Abreise für den Abend vorzubereiten, und abends, wenn er vergeblich versuchte, sie über die Schwelle hinwegzubringen, wo Boris, mit der kleinen Blutlache neben der Schläfe, gelegen hatte.
Da auch die italienische Zofe gegangen und Donja somit völlig allein war, wagte er kaum, den Salon auf eine Stunde zu verlassen. Er schlief auf dem Diwan, worauf man Boris gebettet hatte – nur, wie er mir eines Abends verzweifelt sagte, »um Donja Mut zu machen«.
»Ich telegraphiere meinem Vater«, sprach ich. »Er muß sie holen.«
Bob schien mich nicht gehört zu haben, jedoch nach dem Abendessen suchte er uns in der Halle auf:
»Hast du schon telegraphiert?«
Ich verneinte.
»Es ist nicht nötig. Morgen wird es gehn ... Weißt du, warum sie sich vor deinem Vater fürchtet?«
Das war nicht schwer zu erraten.
»Er würde sie einfach aufpacken und in die Gondel tragen«, erklärte ich.
Ohne einen einzigen Gruß der anwesenden Bekannten zu erwidern, verließ Bob mit großen, schwebenden Schritten die Halle. Hinter ihm rückte man flüsternd zusammen. Die Dame, die zum Tanz aufspielte, ließ ihre Paare stehn und flog, klirrend wie ein Feldhuhn, hinzu. Europa tauchte hinter ihrer Zeitung unter. Zeus schüttelte ein von Befriedigung fettglänzendes Haupt.
»Du,« meinte meine Freundin, »Bob trägt große Trauer, das ist gewiß. Es fällt ihm nicht einmal ein, daß er mit seinem Benehmen Donja schadet.« Denn wir, Maria und ich, bemühten uns, in der gewohnten Weise mit den Mitgliedern unsres Kreises umzugehn und duldeten ebenso, daß sie mit ihrem faustdicken Mitgefühl auf uns losschlugen, als auch, daß wir sie durch unsre Anwesenheit störten. Nur Frau Camilla machte eine Ausnahme. Sie stahl sich zu uns, begleitete uns auf Spaziergängen, umgab uns mit ihrer geruhigen Güte, in der wir ein Herz klopfen hörten. Sie habe einen Sohn, erfuhr ich, Arno mit Namen, und sie versprach, er und ich, wir würden Freunde. Ein scharmanter Junge sei er, sanft und stolz, im gleichen Alter wie ich. Bob, dem ich davon sprach, empfahl ihn mir mit überzeugenden Worten, obwohl er ihn gar nicht kannte, und dies genügte, damit Arno Steinberg wie durch Offenbarung in mein Leben trat; bevor ich ihn noch gesehn hatte, liebte ich ihn.
»Es ist schrecklich«, sagte Maria leise. »Ihr müßt fort, Ihr macht Euch sonst unmöglich. Furchtbar ist das.«
»Morgen, hat er gesagt, wird es gehn.
Diesmal hatte Bob ein Motorboot bestellt. Die Freundin und ich standen beim Steuer und blickten gespannt auf die Hoteltür, als diese sich unter einer unsichtbaren Hand öffnete, und eine Sekunde später Bob, Sidonia auf den Armen, in der gebückten Haltung eines Ringkämpfers hervorbrach. Er machte große Sätze, und nach jedem blieb er stehn, als lauschte er in sich hinein. Und als er Sidonia abgesetzt hatte, streckte er die Arme empor, taumelnd von der heftigen Anfahrt des Bootes, und stieß einen Schrei aus, der körperhaft in die Sonne stieg – den Triumphschrei eines großen Tieres.
Auf dem Molo erkannten wir Emilio, er winkte uns und hielt laufend mit uns Schritt. Er warf uns gerade eine Kußhand zu, als Sidonia die Augen aufschlug, er sah sie erröten, nicken, er stolperte, fast wäre er gefallen, die ganze Gestalt zappelte von Entschuldigungen.
»Warum? Warum?« murmelte Donja.
Sie schüttelte das Dunkel aus den Haaren, hob die Hand, da sahen wir gerade noch, wie Emilio sich bückte und mit der flachen Hand über dem Boden zeigte, daß er nur die Kleinen gemeint habe.
»Warum denn?« wiederholte Donja ernst, »Ich hätte auch gern etwas abgekommen. Ist er abergläubisch?
Sie wandte sich an Bob: »Malocchio?«
Ich rief zornig:
»Was fällt dir ein, Donja! Du – und der böse Blick, das ist, das ist ... wie wenn eine Rose Rheumatismus haben sollte!«
Sie lachte schwirrend und bat Bob, der vor ihr stand, um eine Zigarette. Als er ihr die geöffnete Dose hinhielt, ergriff sie sein Handgelenk und zog sich in die Höhe. Rauchend stand sie neben ihm.
Wir fuhren in der Mitte des abendlichen Kanals. L'amico, der seine Wolke verloren hatte, zeigte lebhaft nach rechts und links, in das Wasser, in den Himmel, nannte die Namen der Paläste, versammelte, ein federleichter, dunkelschöner Gott dieses Abends, schnell noch die ganze Pracht Venedigs um die enteilende Holde. Sidonia sprach sinnend die ihr so geläufigen Namen nach, mit einem Nicken über die eine und die andre Schulter,, mit einem leisen Neigen, von den Füßen bis zum Nacken, das, vom Rhythmus des Bootes bewegt, ein einziges atmendes Erkennen, ein unaufhörliches Danken war.
Als aber die Stunde umschlug, als durch die sich zerreißenden Farben und Schatten, wie durch die Risse in einem Firniß, die Asche des Tages zu rieseln begann und gleichzeitig von unten her, aus den Kanälen und schmalen Gassen, die alles auslöschende Flut der Finsternis stieg, da trat der liebliche Gott mit weniger als einem halben Schritt abseits in die Nacht, und die vereinsamte Gestalt der Holden, die ihn noch immer sprechen hörte, immer noch Zeugen ihres Glückes wiedersah und dankte, schien lautlos schluchzend über ein Grab gebeugt, das unter ihren Füßen mit ihr fuhr. Seitlich aus dem Dunkel hob sich eine Hand, sie hielt eine Rose, Donja nahm sie ...
Im Gang des Schlafwagens zog Maria aus ihrem Strumpfband ein welkes Zweiglein mit Orangenblüten und schenkte es mir. Schon wurden die Türen geschlossen. Da lehrte sie mich schnell noch das Küssen, indem sie mit der Hand mein Kinn zusammenpreßte, daß die geschlossenen Lippen, mit denen ich ihrem Mund gerade begegnet war, sich öffneten, und so küßte sie mich, eindringlich, nachhaltig, obwohl ihr Bruder, die Türklinke in der Hand, bittend und drohend neben dem Trittbrett tanzte. So mußte ich sie wieder küssen.
Darauf wandte sie sich wortlos ab und ließ sich vom fahrenden Wagen in Bobs Arme fallen.