Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der alte Hochblauen bewacht Schloß Hausbaden. Er sieht drauf herunter, wie es so still und umfriedet daliegt in seiner grünen Wäldertiefe; und er schickt herunter, was er Gutes hat, zum Gruß. Klare, rieselnde Bächlein und eine Luft, die so frisch und mild dahergeht wie eine junge, schöne Frau mit einer großen Trinkschale: »Da, trink,« sagt sie, »trink in langen Zügen, es ist noch viel da, trink, bis du gesund bist und froh.« Und manchmal schickt er einen Wind herunter, der saust durch den Tann: hoiho, hoiho; und bläst einen durch und durch, es ist nicht zu sagen, wie frisch und stark und frei man sich fühlt dabei.
Unten im Tal liegt Badenweiler. Das hat sich quer vor den Berg gelegt. Es geht da froh zu; es ist sonnig und warm, und das Leben pulsiert in seinen Straßen. Es hat laue Quellen, die aus dem Boden springen; es hat etwas Lachendes, Blühendes, Sonniges an sich; das wirkt ansteckend. Man meint, man müsse da gesund werden. Und wie mancher ist es schon geworden!
Unten im Tal, noch viel weiter unten, saust die Eisenbahn vorbei. Hier herauf schickt sie nur ein kleines Schlänglein, das »Zügli«, wie es die Leute heißen. Aber nach Schloß Hausbaden hinauf kriecht auch das nicht mehr. Wozu auch? Dort will man ja gerade gar nicht mit der lauten Welt zusammenhängen; nur auch eine Weile nicht. 6 Sie hat gewiß ihr Gutes, die laute Welt da draußen; es ist viel Liebes darin und viel Arbeit. »Aber,« denkt man in Schloß Hausbaden, »nun treibt einmal die Sache eine Weile ohne mich um; ich komme dann schon wieder; ich muß mir hier einiges holen, das ich dann mitnehme zu euch: Kraft und Frische und einen neuen Blick dafür, daß das Leben so schön sei. Und noch vieles; ihr werdet's dann schon sehen, wenn ich komme.«
Ja, so denkt man da; schon mancher hat so gedacht, und mit Recht. Denn Hausbaden hat schon viele Gäste beherbergt und nicht nur solche, die sonst in Schlössern wohnen.
Es ist schon ein paar Jahre her, da hat der Wirt zu seinen Gästen gesagt: »Um Vergebung, aber ich kann euch jetzt nicht brauchen. Später dann, so im Juli etwa. Aber jetzt, im Mai, nicht.« Da haben sie alle Platz gemacht, und als das Haus innen und außen frisch angestrichen und wieder getrocknet war, da zogen zwei Königinnen ein. Eine alte und eine junge. Sie kamen aus den Niederlanden, und die junge war »das Willemintje«, das Herzblatt der Holländer, das damals noch ein jungfrisches Mägdelein war, wenn man von einer Königin so sagen darf.
Sie haben sich wohl befunden im Schwarzwald, und es war ihnen alles wohl gegönnt von dem Breisgauervolk, das unten um den Berg her wohnt, Luft und Stille und der wunderschöne Blick ins Rheintal und auf die Vogesen hinüber, alles. Aber so nicht wie den Gästen, die im Frühling 1902 dort einzogen, so nicht. Kein Vergleich. Da baute man Ehrenpforten, und wand Kränze und Girlanden und hängte die Fahnen hinaus an jedem Haus in Badenweiler. Und sie standen Spalier, alle, die 7 Kinderschule mit den allerkleinsten Putzewackern und die große Schule und der Kriegerverein und dann außerdem noch die ganze Bevölkerung.
Ja, so empfingen sie ihre Gäste. Aber es waren auch Gäste danach. Nun läuteten die Glocken, alle zusammen, das ganze Tal herauf, von Müllheim an, und dann zog die Kaiserin ein. »Und ihr'n kleine Bua het se by sich im Wage g'ha, und 's Prinzeßli,« verkündigten die Schulkinder, als sie heimkamen, denn das war ihnen das allerwichtigste.
Aber das wußten die Großen schon lang. Das hatte schon in der Zeitung gestanden, und sie hatten es sehr verstanden, daß die Kaiserin aus dem lauten Berlin, das noch viel, viel größer und lauter ist als Freiburg und Basel, ein wenig hinaus will; und daß sie die Kinder mitnimmt: »Ja, das isch allweg natürlich,« sagten die Frauen.
Und nun sollte es der Kaiserin gehen wie vordem den andern Kurgästen in Hausbaden, daß das Weltrad eine Weile ohne sie herumgehe. Sie habe es nötig, hatte auch noch in der Zeitung gestanden, daß sie recht in Ruhe leben könne, und die Bevölkerung war ermahnt worden, sich so zu verhalten, daß sie das auch könne, sich nicht vorzudrängen, »und,« hieß es, »Ihrer Majestät in keiner Weise beschwerlich zu fallen!«
Aber das hatten sie scheint's im Norden für nötig gehalten, das zu sagen. Die wußten viel davon, wie die Breisgauer Bevölkerung sei! Der nichts lieber ist, als wenn sie keine Umstände machen muß und ihres Weges gehen kann. Wie man sich benehmen muß, wenn man höfisch sein will, das wüßte sie ohnehin nicht recht. Denn »'s Herr Großherzogs« und gar »'s Herr Erbgroßherzogs«, 8 die fast gar in Badenweiler daheim sind, die sind so einfach, das ist nicht zu sagen. Da kommt kein Mensch mehr in Verlegenheit. Man liebt sie, und man ehrt sie, und am Sonntag in der Kirche, wenn es heißt: »Und segne den Großherzog und sein ganzes Haus«, da sieht man wohlwollend nach dem Regentenstuhl hinüber und nickt einverstanden mit dem Kopf. Aber mehr tut man nicht, man wüßte nicht recht, was? Und nun vollends die Kaiserin, so eine Majestät, die läßt man freilich in Ruhe. Besonders, wenn sie's so nötig hat, die arme Frau, mit Respekt zu sagen. Einen Knix, wenn sie vorbeifährt, das wird man schon noch fertigbringen, heißt das, wenn man nicht noch vorher hinter einen Busch oder hinter die Haustür schlüpfen kann. Nicht aus Gleichgültigkeit, nur weil sie in Ruh' gelassen sein will, und weil man ihr das auch gönnt. Und dann ging's wieder wie sonst da und dort auf der Welt und zu allerlei Zeiten. Nämlich, »wer wenig sucht, der findet viel«. Das gilt nicht für alle Güter. Aber fürs Gutfreundwerden der Menschen untereinander ist's doch noch immer besser gewesen, wenn sie nicht mit Zwang und Drang aneinander hinstrebten, sondern warten konnten, ob es sich begebe. Denn was dann kommt, ist echt und erfreulich. Und so ging es hier.
Die Kaiserin und die Leute von Badenweiler, Oberweiler und Unterweiler und was sonst noch um den Berg her liegt, sind bessere Freunde geworden, als sie am Anfang dachten. Das heißt, was die Kaiserin dachte, das weiß ich nicht, sie hat mir's nicht gesagt. Ich kann mir's aber denken. Da stand sie denn nach ihrer Ankunft auf dem breiten Balkon und sah in die grüne Wäldertiefe. Es rauschte leise in den Tannen, es war, wie wenn das Meer an stillen Tagen singt. Sonst war kein Laut zu hören. 9 Doch, in der Krone der Platane, neben dem Gartenhaus, sang eine Amsel. Es ging dem Abend zu. Drunten im Tal blinkte der Rhein, leichte Dunstwolken hingen über den Städten und Dörfern. Aus wallenden Nebeln stiegen die Vogesen in reinen, klaren Umrissen in die blaue Luft. Hinter der Ruine des einstigen Markgrafenschlosses in Badenweiler sank die Sonne hinab und wob den Höhen einen Purpursaum. Ganz weit, weit hinten irgendwo lag Berlin und rasselten Wagen und tönte Musik und noch lauter tönte der Straßenlärm und viel Unruhe tausendfacher Art. Und hier war es so still. Ein Jauchzen tönte in die Stille hinein. Das waren die Kinder Joachim und Viktoria Luise. Es ging ein Freuden- und Friedenshauch um die stille Welt hier. Hier konnte man sich bewußt werden, daß man Mensch sei, frohes, dankbares, segnungsbedürftiges Geschöpf des Schöpfers.
Das war der Anfang.
Und dann richteten sie sich zum Leben ein.
Es macht überall Ansprüche. Der Badearzt kam und machte Vorschriften. Majestät hinten und vornen, natürlich. Aber er machte doch Vorschriften. Und Majestät gehorchten.
Die Badegäste, die noch behaglich in den Federn lagen, horchten hoch auf, wenn sie früh am Morgen das leichte Pferdegetrappel hörten. Brr – – –, dann war es vorüber. »Da fährt die Kaiserin ins Schwimmbad,« sagten sie zu sich selbst. »Allen Respekt, so früh.« Und dann dachten sie, daß es nun allmählich Zeit werde zum Aufstehen.
Vielleicht waren sie das Frühaufstehen nicht so gewöhnt, wie man's im Kaiserschloß in Berlin gewöhnt ist. Das will auch gelernt und geübt sein.
10 Es war wenige Tage nach dem festlichen Einzug, da fuhr ein Bretterwagen von der Sägmühle in Schweighof nach Müllheim hinunter. Die aufgeladenen Bretter waren viel länger als der Wagen und wippten beim Fahren lustig auf und nieder. Der weiße Spitzer saß obendrauf und bellte die Welt an, und der Fuhrmann blies auf einem Tulpenblatt fröhliche Melodien. Es war ein heiteres Dabeisein. Eine Kutsche fuhr vorüber, mit zwei glänzenden Rappen bespannt, ein galonnierter Diener hintendrauf, ein galonnierter Kutscher vornen. Aber innen saß niemand. »Die fahren sonderbar spazieren,« dachte der Fuhrmann und »blättelte« weiter.
Da kamen aus einem Feldweg heraus ein paar Leute gegangen, zwei Frauen und zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Die Kinder voraus, natürlich, und eigentlich nicht gegangen, sondern gehüpft. Der Spitzer bellte sie vorschriftsmäßig an. »O Mama, das sieht lustig aus. Sieh mal, wie die Bretter schaukeln! Dürfen wir nicht aufsitzen, Mama?«
»Fragt mal den Fuhrmann,« sagte die Mama, »ob ihr ein Stückweit mitfahren dürfet. Wenn er's erlaubt.«
Da fragten sie ihn. »Sag's du, Joachim,« sagte die Kleine. Dem Fuhrmann ward es ein bißchen sonderbar zumut. Das waren ja wohl – – das konnte ja doch nicht sein, daß das –? Doch, das Gesicht von der einen Frau, das war so bekannt. Aber so ein schwarzes glattes Kleid und ein Hütchen, gar nichts dran – und es war doch die Kaiserin. Er nahm das Blättchen aus dem Mund und riß die Kappe herunter. Ja, er erlaubte das Mitfahren. Will's meinen, daß er es erlaubte. Auch der Spitzer erlaubte es; er ließ sich sogar tätscheln von dem feinen, weißen Händchen der Prinzessin. Das war ein 11 vergnügtes Fahren. Tausendmal schöner als in der Kutsche. Die fuhr indessen leer nach Haus. Auf den Feldern sahen die Leute groß auf; da ging die Kaiserin neben dem Fuhrmann her und unterhielt sich mit ihm, und nun »blättelte« er wieder. Ja, nun blies er ein Volkslied, das man da zu Lande viel singt:
»Nicht weit von Württemberg und Baden,
Von Bayern und der schönen Schweiz,
Da liegt ein Berg, so hoch erhaben,
Den man den Hohenzollern heißt,«
und wie es weitergeht. »Ich hab' nicht gewollt,« sagte er nachher, als ihn die Leute mit Fragen bestürmten. »Aber die Kaiserin hat gesagt, ich soll doch weitermachen. Und den Text hat sie auch wissen wollen, und sonst noch viel,« setzte er so beiläufig hinzu. Er hatte jetzt genug geredet.
»Die Kinder haben dir aber ein Trinkgeld gegeben, das hat man ja gesehen; zeig's einmal,« sagten die Frager. »Das hebst du doch extra auf.« »Ich hab's unters andere Geld hineingetan;« er tat gleichgültig; »es ist eins so rund wie's andere. Aber,« und nun konnte er doch nicht verhindern, daß er mit leuchtenden Augen seine braune, rissige Hand besah, »aber die Hand haben sie mir gegeben, alle zwei, der Bub und das Mädel, ganz kecklich und fest, und ›danke schön‹ gesagt, und das ist,« er mußte einmal schlucken, so übernahm es ihn, »das ist einfach nobel. Das freut mich mehr als das Geld.« – Und damit fuhr er weiter.
Es radelte einer hinter den Herrschaften drein, ein Mann in ganz unauffälligem, grauem Anzug. Man dachte sich zuerst nichts Besonderes hinter ihm. Aber er 12 wurde bekannt in der Gegend. »Da kommt der geheime Radler,« sagten die Leute im ganzen Tal hin und her, wenn sie ihn fahren sahen, und dann wußten sie, daß die Kaiserin nicht weit sei, zu Fuß oder zu Wagen. Sie fingen an, sich drauf zu freuen. Sie empfingen so ein freundliches Grüßen, es wurde einem so warm dabei. »Kein Vergleich mit manchen Kurgästen,« sagte der blaubebrillte Steinklopfer an der Fahrstraße nach Bürgeln zu; »die tun, als ob da ein Loch in der Natur wäre, wo unsereiner sitzt.« Und die Badefrau wußte davon zu sagen, und der Kurhausdiener und noch eine ganze Menge anderer Leute.
In Oberweiler war eine Hochzeit. Es war ein schöner, sonniger Tag nach einigen stürmischen, naßkalten Tagen. Ein rechtes Hochzeitswetter. Die Hochzeitsgäste kamen eine Weile vors Haus; die Maisonne paßt gut zur Feststimmung, sie wollten sich ein wenig anscheinen lassen. »Da kommen 's Kaisers,« hieß es auf einmal. So sagten sie, das muß zugestanden sein. Sie wußten das Familienbild, das sie da zu sehen bekamen, nicht recht anders zu benennen. Die Kaiserin in der Mitte, und links und rechts eins der Kinder am Arm, plaudernd und lachend und mit großen Blumensträußen in den Händen. Daneben ging »Tante Feodora«, die Schwester der Kaiserin. So machten sie ihren Spaziergang wie andere Menschenkinder auch, die sich des schönen Maien zu freuen wissen, und hatten auch etwas von dem aufgeweichten Erdreich an den Schuhen und von den nassen Feldwegen her. Die Leute schoben sich so ein bißchen hintereinander, sehen wollten sie, aber doch nicht grad vornen stehen.
»Ach, da ist wohl Hochzeit?« sagte die Kaiserin und blieb stehen; und sie knicksten alle, so gut sie's eben konnten, 13 und griffen in der Verlegenheit nach den Schürzen und Kappenbändern.
»Ja,« sagte irgendein kühner Mensch. Da war das erste Wort gesprochen. »Und dann wurde es gemütlicher,« sagten die Leute nachher. »Wir hätten nicht angefangen, sie hat. Vielleicht hat sie jetzt ein bißchen ausgeruht und redet jetzt gern ein wenig mit jemand anderem.« Ja, das mochte ja wohl so sein. Die Brautleute mußten aus dem Haus geholt werden und bekamen die Blumen von den Kaiserskindern, Anemonen und Schlüsselblumen und junges Birkenlaub dabei.
Und wer sie heut besucht in ihrem Ehestand, dem zeigen sie ein schön gerahmtes Bild des Kaisers; das hat ihnen die Kaiserin ins Haus geschenkt. Sie kommen sich wie verwandt vor seitdem. Wenn man weit genug zurückrechnet, sind sie's ja auch. Aber wir andern auch, und das ist das Allerschönste. Da freut einen das Leben, wenn man das bedenkt.
Es war schon ein gutes Stück vom Mai herum. Die bleichen Bäckchen der zwei Berliner Kinder fingen an, sich ein wenig zu runden und zu röten. Das wurde in dem Haus an der Blauenstraße unten, an dem sie täglich vorbeikamen, gegangen oder gefahren, mit Befriedigung bemerkt. Pfingsten kam. Und da sollte es nun noch viel schöner werden. Denn da kamen noch andere Glieder der Familie in die Ferien und »zu Mama«. Prinz August Wilhelm und Prinz Oskar und auf zwei kurze Tage auch der Kronprinz. »Ich mag's ihr gönnen,« sagte eine kinderreiche Mutter, die ihr Häuflein beisammen hatte, »der Kaiserin mag ich's gönnen, daß die Kinder kommen. Man ist doch ganz geteilt, wenn man sie so überall herum hat.«
Sie waren eingezogen, und nun ging es lebhaft zu 14 in dem stillen Hausbaden. Manch einer hat ein lautes, helles Jauchzen gehört durch den Wald hin und lustige Rufe aus einem Kinderspiel heraus und hat sich gefreut an der zwanglosen, jungen Freude der Fürstenkinder.
Wir haben uns alle – ich will nur wir sagen, denn ich war auch dabei – wir haben uns alle allmählich so ein bißchen als Gastgeber gefühlt. »Da sind sie nun,« sagten wir, »und es soll ihnen gut gehen bei uns, und wenn's ihnen gefällt, so freut's uns. Und,« setzten einige mit bescheidenem Stolz hinzu, »ein Wunder ist's nicht, wenn's ihnen gefällt.«
Und dann nickten wir alle, wohlwollend und mütterlich, wenn die Prinzen vorbeigingen, stramm und aufrecht und so jung. »Laßt's euch nur schmecken,« hieß das. »Die Freiheit und das junge Leben und die Luft – und außerdem noch alles, was wir euch Gutes ins Haus schicken.«
Ja, da konnte der Konditor mitreden und der Metzger und der Bäcker. Die schafften im Schweiß ihres Angesichts. Denn da oben waren noch allerlei Leute versammelt, Lehrer und Hofmeister und Hofdamen und Kammerfrauen und Kammerdiener, und ich weiß nicht, wer noch sonst.
Den Kronprinzen hätten wir gern noch eine Weile dabehalten. Wir mit unserem beschränkten Untertanenverstand. Er sah so ein bißchen blaß und schmächtig aus, wir meinten, er sei noch so jung und im Wachsen, da täte es ihm länger gut da oben. Aber das half nichts, was wir meinten.
Ich weiß einen, der ist am Pfingstfest auf einem ganz stillen, einsamen Waldweglein oben an der Sophienruhe (wenn jemand weiß, wo das ist) der Kaiserin begegnet, am Arm ihres ältesten Sohnes. »Ja, nun erzähl' mir 15 das alles ganz genau,« sagte sie eben, als der Spaziergänger vorüberging. Was er erzählen sollte, wüßt' ich nicht zu sagen, und das ist gerade gut. Denn da war er ganz allein mit seiner Mutter, und wenn er nun wieder in die Welt hinaus mußte, so war er doch bei ihr gewesen, und sie konnte nun wieder von weitem an seinem Leben teilnehmen. Und das ist viel wert.
Er ging; die andern blieben, und nun konnte sich die Freundschaft erweitern. Und das tat sie auch.
An der Blauenstraße stand ein schwer geladener Sandwagen, bergaufwärts gerichtet. Die Gäule standen und rührten sich nicht. Da half weder Zuruf noch Peitsche, sie zogen nicht einmal an, als wüßten sie im voraus, unprobiert, daß die Last zu schwer sei. Der Fuhrmann kratzte sich hinterm Ohr. Es standen noch zwei Männer bei ihm. »Ja, was ist da zu tun?« sagten sie ratlos. »Wenn die Racker nicht wollen.«
Da kamen von oben, die Steige herunter, drei junge Leute, leichtfüßige Jungen eigentlich, so von zehn bis vierzehn Jahren. Hintendrein schritten ein paar Herren in gemessenerem Tempo. »Sollen wir helfen?« rief eine helle Bubenstimme zu dem Fuhrmann hinüber, und da kamen schon alle drei auf den Wagen los. »Oskar, Joachim, laßt das!« rief der Erzieher hinter ihnen her. Aber ich glaube, sie haben's nicht gehört. Da stemmten sie sich schon unter das Rad und griffen nachschiebend in die Speichen mit all ihrer werdenden Kraft. Da konnten denn die Herren nicht gut anders, sie faßten das andere Rad an, und das tat einen Ruck nach vorne, und die Gäule zogen an und kamen in einen guten Schritt, sie wußten nicht, wie ihnen geschah. Der Fuhrmann machte – kein besonders gescheites Gesicht. Er schob seine Kappe hin 16 und her und sagte, weil er sich doch bedanken mußte: »Jetzt, Sie hätte könne bälder komme, Hoheit.«
Jung-Deutschland aber stand und klopfte sich den Sand von den Kleidern und besah die Hände. Just sauber waren sie nicht. Aber was schadete das? Fünf Minuten später hallte Jodeln und Jauchzen aus dem Schwimmbad; und ein gutes Stück im Umkreis wußte man's nun, daß »die kaiserlichen Hoheiten« jetzt im Bad seien. Und manch einer könnte stolz sein auf so einen Schmutz an den Händen.
Das war an einem andern Tag, als das Stückchen mit dem Kapellmeister passierte. Es war viel Volks im Kurpark und lauschte den Klängen der Badenweilerer Kurkapelle. Da fing es an zu regnen, und nun drängte sich, was nur Platz fand, unter ein vorspringendes Schutzdach am Kurhaus. Es ging eng her da unten, und der Kapellmeister, der ein beleibter Herr ist, suchte nach einem besseren Platz und fand ihn auf dem Trittbrett der automatischen Personenwage. Aus dem Regen war er nun, aber nun kam er in die Traufe.
Was wußte er davon, daß neben ihm die Prinzen standen, nur auch so eben hereingeschoben, in engem Gedräng, mit all den andern Leuten? Und wie konnte er denken, daß nun der Übermut den Prinzen August Wilhelm packen würde, so daß er seinen Brüdern zuflüsterte: »Wollen mal sehen, was der Mann wiegt« und einen Zehner in den bekannten Schlitz steckte? Er hörte nur den Zeiger an der Gewicht-Anzeigetafel schnappen, und dann kicherte es neben ihm und fing männiglich an zu lachen. Ich sag's nicht, wieviel er gewogen hat. Wenig war's nicht.
Hoffentlich hat er schließlich mitgelacht.
17 Wie schnell die freien Tage herumgingen. Wie geflogen. Es soll nur niemand meinen, jener faule Schulbub habe etwas Rechtes gewußt, der hinter seinem Aufsatz stöhnend sagte: »O was, wenn ich nur dem Kaiser gehören täte, da könnt' ich Vakanz haben, soviel ich wollte, und der Lehrer dürfte mir nichts befehlen.« Weit gefehlt. Wenn die Erzieher sogar in die Vakanz mitgehen und dabei sind, ob man Schule hat oder nicht, dann ist's nicht so weit her mit der Freiheit. Und jener alte Bauersmann hat nicht so unrecht gehabt, der gesagt hat, als er hörte, daß die Prinzen wieder abreisen, weil sie in die Schule müssen: »Ja, ja, sie werden, denk' wohl, ihr Sach' auch selber lernen müssen. Essen und lernen, das kann einem kein Bedienter tun.«
Also die Vakanztage waren bemessen, und nicht zu lang. Da galt's, sie auszunützen. Und das haben sie auch getan.
Auf einer stattlichen, freien Höhe, umgeben von dem grünen Wälderkranz, liegt Bürgeln. Das war einmal früher ein Schloß, und dann eine Abtei, und von beiden sind noch Spuren da, trotzdem das stattliche Haus jetzt in ein behäbiges Wirtshaus umgewandelt ist. Eine schöne alte Klosterkirche ist noch da und ein Saal mit einer stattlichen Reihe von Ahnenbildern. Aber das Schönste, weitaus das Schönste, ist das, was man ringsum sieht, zu den Fenstern hinaus, beim Blick in das weite, schöne Land, das hat Hebel auch gewußt, als er sang:
»Z' Bürgeln auf der Höh',
Nei, was cha mer seh',
Nei, wie wechsle Berg und Tal,
Land und Wasser überall,
Z' Bürgeln auf der Höh'!«
18 Nach Bürgeln auf der Höh' sind die jungen Hohenzollern auch gekommen, haben die alten Ahnherren des Rittergeschlechts, das einst hier hauste, betrachtet, wie sie in ihren Perücken und Halskrausen, Helmen und Harnischen aus den Goldrahmen der Bilder schauen und noch nichts vom neuen Deutschen Reich wissen. Und dann haben sie sich dem lebendigen Leben wieder zugewandt, das da überallher grüßt, aus den Wäldern und Bergen, Dörfern und Städten, die man liegen sieht. Ja, und auch einem tüchtigen Vesper in der Wirtsstube. »Von der Luft leben sie auch nicht,« sagte die Wirtin nachher vergnügt. Aber sie sieht auch nicht aus, als ob sie von der Luft lebte; nichts für ungut, wenn sie diese Blätter zu Gesicht bekommt.
Nach Kandern führte die Kaiserin ihre Söhne auch. Dort sind von langher schon die kunstfertigen Töpfermeister bekannt, die allerlei schöne, eigenartige Gefäße zum Gebrauch und zum Schmuck des Hauses machen. Sie bauen neuerdings dort Fabriken und führen ihre Waren weit ins Land hinaus. Und das bringt ja wohl Geld in die Gegend. Aber es gibt Leute, die sich trotzdem nicht so recht dran freuen, weil sie fürchten, daß mit dem kleinen Handwerk auch viel feine Eigenart des Schaffens, wie sie so die alten Töpfermeister hatten, verloren gehe. Aber das hatten die Prinzen nicht zu untersuchen, und es fiel ihnen auch gar nicht ein. Sie staunten an, was ihnen gefiel, und das andere brauchte sie noch nicht anzufechten.
Auch waren nun die Ferien herum, und es mußte geschieden sein. »Die zwei Kleinen« durften noch dableiben. Prinz Joachim und die Schwester. Die hatten's lang gut, die gehörten noch zu Mama. Ich weiß nicht, ob sie die Großen beneidet haben; man könnt's fast 19 denken. Aber das bleibt auch nicht so. Sie wachsen auch heran und müssen hinaus. Und dann mögen sie sich nur freuen, daß sie in ihren Kindertagen so ganz »zu Mama« gehört haben. Das wird auch nicht allen Kindern zuteil; und es sind nicht immer nur die Kinder der Armen, die es entbehren müssen.
Nun hatten sie sich alle dran gewöhnt, die Leute in der Gegend ringsumher, daß die hohe Frau da oben wohne. Sie sahen sie so gern am Sonntag im Kirchenstuhl sitzen, mit ihrem freundlichen Gesicht, wie sie so aufmerksam zuhörte und so andächtig mitsang. Und sie sahen sie gern auf ihrer Feldmark und in ihren Wäldern, da und dort. Es war ihnen, als ob sie zu ihnen gehöre. Wenn es regnete, sagten die Leute: »Am End' friert sie's da oben;« und wenn die Sonne herauskam, dann sagten sie: »Das ist nur gut, sonst hilft die Kur nichts.« Und sie wußten, wen sie meinten.
Aber nun wollte sie fort, und das schon nächster Tage. »Sie will grad nicht, sie muß,« sagten die Leute. »Sie muß ganz da oben hinauf, nach Marienberg an der Oder, und etwas helfen einweihen. Der Kaiser will's haben.« Da kam sie ihnen so menschlich nah vor, wie schon hier und da sonst. Das war natürlich, daß sie abreiste, wenn ihr Mann es haben wollte und sie brauchte. Das tun andere rechte Frauen auch. Aber schad' war's, daß es sein mußte. Sie machte es noch wie die scheidende Sonne. Sie grüßte noch alles, was ihr in den Weg kam.
Sie lud sich noch die Mädchen aus der Gegend ein, hundert an der Zahl, in ihrer schmucken Markgräflertracht, und bewirtete sie und tat ihr möglichstes, sich mit ihnen zu unterhalten. Wenn es mit der Unterhaltung nicht so recht glückte, konnte sie wohl nichts dafür. Das liegt dort 20 so im Menschenschlag. »Sie sagen nicht viel um einen Kreuzer«, sagt man von ihnen, und es ist nicht umsonst gesagt.
Aber das schadete nichts. Als die Mädchen nach Haus kamen, wußten sie schon eher etwas zu sagen. Wie sie so freundlich und gütig gewesen sei, und das Prinzeßchen so nett und auch in der gleichen Tracht, und wie es ihnen geschmeckt habe. Ja, da konnten sie schon reden. Und wer weiß, in Jahren, da erzählen sie's noch ihren Kindern und später den Enkeln, und dann fällt ihnen noch allerlei ein, was sie hätten sagen können, wenn sie nur dran gedacht hätten.
Es gab Leute in Badenweiler, begeisterte, flammende Backfischchen, die glaubten wunder wieviel besser sie beschlagen gewesen wären. Und suchten »das Schönste auf den Fluren«, und lauerten wie die Buschräuber auf den Wagen der Kaiserin. Und als sie ihm einmal begegneten, da machten sie, blutrot vor Aufregung, ein Knickschen und warfen ihren Waldstrauß hinein, und sahen kaum noch, wie freundlich die hohe Frau wiedergrüßte, und fanden gleichfalls erst zu Haus die Sprache wieder. Aber dort gründlich.
Eine Lateinschülerklasse von R . . . . . kam mit Singen und Pfeifen vom Blauen herunter. Sie hatte einen schönen Ausflug gemacht. Vom Blauenturm aus sieht man Basel liegen und sieht in der Ferne die Alpen, und wenn man sie einmal nicht sieht, so kann man sich's doch sehr gut einbilden, daß man sie sehe, und das ist auch nicht nichts. Und in der Nähe sieht man erst recht viel Schönes, wer nur Augen dafür hat. Selten, daß man nicht erhoben und frohgestimmt vom Blauen herunterkommt.
Da, mitten im Wald, halbwegs herunter, kam den 21 Lateinern eine Gesellschaft entgegen. Und der Lehrer zog so tief den Hut und verbeugte sich so feierlich, den Lateinern wurde es ahnungsvoll zumut. Als wenn sie noch einmal auf einer Höhe ständen. »'s ist die Kaiserin,« wisperte es durch den Bubenhaufen. Jawohl, das war sie. Und fragte nach Heimat und Reiseziel und lächelte so bedeutsam, als ob sie wüßte, was wegmüde Buben freut, und lud die ganze Gesellschaft zum Vesper nach Hausbaden. Das war denn Glück und Schmerz zugleich. Denn der Lehrer zog die Uhr und bedankte sich untertänigst, aber es reichte nur eben noch auf den letzten Zug, und die Väter und Mütter kämen in tausend Ängste, wenn ihre Buben nicht kämen. So und so, man müsse verzichten. Die Lateiner dachten an Empörung und Bürgerkrieg. So etwas hinauszulassen. Aber da half alles nichts. Weitermarschiert wurde und abgefahren. Und als man in R. ankam, da hatte der Stationsvorstand ein Telegramm bekommen, des Inhalts, daß die ganze Klasse auf Kosten Ihrer Majestät am andern Tag bewirtet werden solle und nicht schlecht. Jetzt muß ich sagen: »Merkt man's nicht, daß sie auch Söhne hat und ein Mutterherz? Hat sie's nicht erbarmt in die Bubenherzen hinein, daß sie so trocken abziehen sollten?«
»Hochleben soll sie,« sagten die Lateinschüler von R., und das sagten sie nicht allein. Das sagten noch viele Leute.
Sie riefen es ihr auch nach, als sie abreiste. Sie war ihnen so eigen geworden, sie und die Kinder.
Und dann stand Hausbaden wieder leer und still wie vordem. Nun konnten die andern Gäste wiederkommen, von nah und fern, vom Elsaß und vom Badener Land und von Nord und Süd des deutschen Landes, 22 und sich häuslich einrichten und sich all das Gute aneignen, das da zu Türen und Fenstern hereinkommt. Der gelblackierte Extra-Postwagen fuhr nicht mehr zweimal am Tag hinauf, und der Wagen mit den Rappen ward nicht mehr gesehen, da und dort, auf Wald- und Landstraßen. Man zog die Fahnen ein und brach den Triumphbogen ab, dessen Tannenverkleidung allmählich am Abbröckeln war, und ging in Badenweiler seines Weges, wie vordem.
Als ob sie gar nicht dagewesen wäre. So hätte es sein können, wenn nicht eins gewesen wäre, das immer da ist, wo liebreiche, freundliche Menschen gewandelt sind, ob sie nun Kronen tragen oder nicht.
Nämlich, daß sie sich Denkmale setzen in frohen Menschenherzen, ungewollt, ungesucht, nur durch ihr freundliches Tun und Sein. Das hat die Kaiserin getan und nicht nur in einem Herzen.
Vielleicht hat sie's gelesen, vielleicht auch nicht, was mir immer durch den Sinn geht, solang ich das erzähle. Es wird ihr wohl eigen sein:
»Man wandert nur einmal durchs Leben. Was mir auf diesem Wege möglich ist, ein freundliches Wort hier, ein liebreiches Tun da, ich will es nicht unterlassen. Denn ich werde nie wieder dieses Weges kommen.« 23