Anna Schieber
Gesammelte Immergrün-Geschichten
Anna Schieber

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Eine Geschichte vom Heimkommen.

Der Doktors-Rudi von Auggen saß rittlings auf dem Bretterzaun, der den großen Garten von einem hohen, schräg abfallenden Grasrain trennte. Der Grasrain stieß unmittelbar an den Rhein, der da, gerade von der Schweiz herkommend, in schimmernden, grünlichen Wellen vorüberfloß. An den Bretterzaun stieß eine große Lattenbank mit einem Tisch davor, und über das alles hin wölbte sich ein großer, knorriger Zwetschgenbaum, der bis ins äußerste Zweiglein hinaus voll blauer, saftiger Früchte hing, die eben reif geworden waren. Rudi hatte sich seinen Strohhut voll davon gepflückt, und hielt da oben auf seinem hohen Sitz eine herrliche Vespermahlzeit. Es gab viel Schönes zu sehen, wenn man die grünen Ufer und das blitzende Wasser und die hohen Berge, die von drüben herüberglänzten, betrachten wollte. Aber das alles hatte Rudi schon oft erblickt, und er sah jetzt immer den langen, kiesigen Gartenweg hinunter, der zum Hause führte, als ob von daher etwas Besonderes kommen müßte.

Es kam auch etwas, aber offenbar etwas anderes, als er erwartet hatte, denn Rudi machte auf einmal ein verwundertes Gesicht und dann ein etwas hochmütiges, und darauf stieg er von seinem Sitz herunter und ging sehr aufrecht und sehr langsam dem Ankömmling entgegen, der da, auf einen Stock gestützt, mühsam den Weg 134 heraufhumpelte. Er sah ja freilich nicht so aus, als ob man eine besondere Freude an seiner Ankunft haben könnte, denn alles, was er um- und anhatte, war verwahrlost und zerrissen, von den Stiefeln, die den Rachen weit aufsperrten, bis zu dem gänzlich verbogenen, durchlöcherten Filzhut, der das Gesicht beschattete. Das Gesicht selber war schmerzhaft verzogen, und so kamen zu den tausend Runzeln, die schon vorher darin waren, noch einige dazu, und die Bartstoppeln sahen dazwischen heraus wie Setzlinge aus den Furchen eines Rübenackers.

Der Doktors-Rudi sah nun freilich nicht zum erstenmal einen armen, herabgekommenen Menschen. Es kamen genug Handwerksburschen, die an der Haustür schellten, und denen man eine Gabe verabreichte. Und unter den Kranken, die zum Vater kamen, waren auch oft genug arme Leute. Er hätte auch noch wissen können, daß die Mutter, als sie noch lebte, mit großer Freundlichkeit um die Allerärmsten sich angenommen hatte. Aber der Rudi war jetzt gerade in einem etwas hochmütigen Fahrwasser, wenn er's auch nicht so wußte. Er war seit zwei Jahren in Basel in der Schule und lebte dort im Haus von vornehmen Verwandten, und in letzter Zeit hatte er sich vorgenommen, Offizier bei den Reitern zu werden, wenn er groß sei. Da meinte er scheint's, es gehöre dazu, ein bißchen herrisch und vornehm zu tun. Dazu kam auch noch, daß niemand mehr da war, wenn er in den Ferien heimkam, der, wie die Mutter, sein Herz in liebreiche Pflege genommen hätte. Der Vater war stark beschäftigt und immer ein wenig einsilbig und trüb gestimmt, dann war da ein Fräulein Eisenbeiß, das den Haushalt führte und alles blank und sauber hielt, um und um, im ganzen Haus, aber das sonst gerade nicht viel anzufangen wußte, 135 weder mit dem Vater noch mit den Kindern, außer daß sie für gutes Essen und saubere Kleidung sorgte.

Heiner und Fränzchen, die beiden jüngeren Geschwister, die suchten und fanden ihre Weide außer dem Haus. Die waren immer drüben unter dem langen Strohdach bei der Margret zu finden, der guten und immer fröhlichen Nachbarin. Aber dorthin fand der große und vornehme Rudi den Weg nicht mehr so recht.

Jetzt eben hatte er auf die zwei gewartet, die zur Bahn gegangen waren, um eine Tante abzuholen, die für einige Zeit kommen wollte. Aber statt ihrer kam nun der Vagabund daher, wie er sogleich in seinem Herzen den alten Mann hieß, der da den Gartenweg heraufhinkte. Was der wohl hier im Garten zu tun hatte? Das wollte Rudi vor allem sehen.

Der Mann hatte seine Augen überall herumlaufen lassen und sie mit dem Ausdruck der Enttäuschung wieder sinken lassen. Jetzt stand er vor Rudi und sagte: »Ich hab' zum Doktor wollen, ich hab' mir den Fuß verstaucht und kann schier nimmer laufen.« Und dabei sah er nun den Knaben mit einem prüfenden Blick an, als suche er etwas in seinem Gesicht und finde es nicht.

Aber Rudi war nicht gesonnen, sich ausmustern zu lassen. »Der Papa ist auf Praxis gefahren,« sagte er, »und Sie können auch nicht denken, ihn hier im Garten zu finden. Der Garten ist nur für den Privatgebrauch.«

Der Mann seufzte auf.

»Wo ist deine Mutter?« fragte er dann unsicher. – »Ich – ich kenn' sie von klein auf – du darfst ihr nur sagen, der Waldjakob sei da. Oder nein – sag nichts, ich will's ihr selber sagen – ich muß sie etwas fragen. Sie möchte sonst erschrecken, wenn sie den Namen hört.« 136 Das letzte sagte er mehr für sich hin. Aber das war dem Rudi zuviel, daß der Landstreicher ihn duzte, denn er war schon bald vierzehn Jahre alt, und in der Stadt mußten sogar die Dienstboten Sie zu ihm sagen. Und das waren doch andere Leute als dieser.

So bedachte er nicht, daß der Mann seine Mutter gekannt habe, an der sein Herz doch auch im stillen so stark hing, und daß er schon darum ein bißchen freundlich mit ihm sein solle, und sagte nur: »Die Mutter ist schon vor drei Jahren gestorben – und also der Vater ist nicht da – da habt Ihr etwas« – und er zog den Geldbeutel heraus, um dem Mann eine Münze zu geben.

Aber der schüttelte den Kopf. »Das nicht,« sagte er. »In diesem Garten nicht. Ich hab' etwas anderes gesucht da drin. Ach Gott, ach Gott, so kann ich sie denn nicht mehr fragen, und niemand sagt mir, was mir helfen kann.«

Da wandte er sich mühselig zum Gehen. Er hatte zum Doktor gewollt, aber das war ihm nun nicht mehr so wichtig. Er wollte nichts, als sich irgendwo hinlegen, er spürte plötzlich eine große Müdigkeit, wie einer, der noch bis zu einem fernen Ziel gekommen ist und auf einmal sieht, daß es in unerreichbare Weite gerückt ist, so daß es sich nicht verlohnt, ferner draufloszugehen.

Rudi blieb etwas unbehaglich zurück. Er spürte plötzlich, daß er nicht getan hatte, wie seine liebe Mutter von ihm gewollt hätte, daß er tue. Und er sah ihr herzliches, warmes Gesicht vor sich und hörte sie sagen: »Segne alle, die keine Heimat haben, und laß sie bei dir daheim sein.« So hatte sie immer im Morgen- und Abendgebet mit ihren Kindern zum lieben Gott gesagt. Und dann hatte sie gesagt: »Wir können mit gar nichts zeigen, daß wir dankbar sind für unsere schöne Heimat und alles Gute, 137 das wir haben, als damit, daß wir alle Armen und Heimatlosen liebreich empfangen und es ihnen wohl sein lassen, solang sie bei uns sind, so daß sie dann spüren: Es ist auch für uns noch Liebe in der Welt.«

Und so hatte sie auch getan, das wußte Rudi wohl, es waren nicht nur Worte gewesen. Aber er hatte in Basel nicht mehr daran gedacht, und auch an vieles andere nicht, was die Mutter gesagt hatte; da war soviel anders gewesen, und Rudi war auf dem besten Wege, auch heimatlos zu werden, obgleich er ein schönes Vaterhaus hatte. Denn die Mutter hatte auch noch gesagt: »Und wenn einer die halbe Welt besitzt und findet den Weg zum lieben Gott nicht mehr, so ist er am heimatlosesten von allen.«

Aber Rudi wollte jetzt nicht solchen Gedanken nachhängen, sie waren ihm unbehaglich; und er hatte auch nicht mehr Zeit dazu. Denn nun ging neuerdings das Gartenpförtchen auf und das blondlockige Fränzchen, sein sechsjähriges Schwesterlein, kam den Kiesweg herabgesprungen, und hinter ihr drein kam der achtjährige Heiner, der ein wenig langsam einherging und nicht leicht durch etwas aus seiner Ruhe gebracht wurde.

»So komm doch, Rudi,« rief das Fränzchen schon von weitem, »wir haben dich allenthalben gesucht, eh' wir an die Bahn gegangen sind. Wo bist du denn gewesen? Der Vater hat noch extra gesagt« – aber weiter kam das Fränzchen nicht mehr, denn schon kam hinter dem Heiner drein eine große, stattliche Frau in den Garten und auf die Kinder zu.

Sie trug eine Diakonissentracht, aber sie hatte den langen Radmantel und die schwarze Kapuze schon abgelegt und hatte nur noch die freundliche, weiße Haube 138 auf, und über das schwarze Kleid hatte sie eine weiße Schürze angezogen.

»So grüß' dich Gott, Rudi,« sagte sie ganz herzlich und mit einem so fröhlichen Ton in ihrer Stimme, daß alle drei Kinder in ihr Gesicht sehen mußten, ob da noch mehr von dieser Fröhlichkeit zu finden sei. Das war auch so; das ganze blühende Gesicht war so freundlich erhellt von einer sonnigen Wärme, daß jemand, der hineinsah, dann nicht so schnell mehr wegblickte.

Sie ging mit den Kindern unter die Buche, wo einige grüne Gartensessel standen, und dort öffnete sie einen großen Beutel, der an ihrem Arm hing, und in dem die herrlichsten Datteln enthalten waren. Sie hatte dieselben aus Italien mitgebracht, wo sie lange Jahre zugebracht hatte, um eine ganz nahe Freundin zu pflegen, die schwer krank gewesen war. Nun war diese gestorben, und Schwester Ursula konnte nach Deutschland zurückkehren. Dort war aber inzwischen auch ihre Schwester gestorben, und noch manches war für sie anders geworden. So hätte sie eigentlich nicht soviel Grund zum Fröhlichsein gehabt, und es war auch ein Heimweh in ihr nach alle den Lieben, die von ihr genommen waren. Aber das mußte man ihr nicht am Gesicht ansehen, denn jetzt wollte sie um so liebreicher sein gegen die, die ihr noch geblieben waren, und die der Liebe auch bedurften.

»So, jetzt wollen wir einmal schmausen,« sagte Tante Ursel, denn so wollte sie von den Kindern genannt sein, und fing an, die schönen, glänzenden Datteln zu verteilen.

»Der Margret müssen wir auch davon geben,« sagte Fränzchen, »und dann noch dem kleinen Gretle. Das ist so ein herziges, das mußt du sehen, Tante.«

139 »Ja,« fiel der Heiner ein, »und wenn's noch langt, dann müssen wir dem Dorle auch ein paar bringen. Das erzählt schon immer von so einem schönen, sonnigen Land, wo die ganzen Mauern von Rosen überdeckt sind, und wo goldene Äpfel an den Bäumen wachsen und Weinstöcke mit ganz großen, blauen Trauben an den Häusern hinaufklettern, so daß man dann nur aufs Dach gehen muß und Trauben essen, und wo es immer warm ist, auch im Winter. Sie ist aber noch nie dort gewesen, sie hat nur sonst davon gehört, und sie weiß es gut, wie es da ist, ganz genau. Meint sie Italien damit, Tante? oder weißt du es nicht?«

»So, weiß sie ihre Geschichten noch?« sagte die Tante. »Es nimmt mich wunder, daß sie dieselben nicht verlernt hat.«

»Ja, aber dann sagt sie immer, es sei dann noch ein schöneres Land, das sei eben so schön, daß man es gar nicht sagen könne und auch nicht ausdenken. Da kommen alle, die auf Erden heimatlos gewesen seien, nach Hause, und hätten es dann so warm und schön, und müßten nie mehr hinaus ins Elend. Und der liebe Gott sei da und sage: ›So, jetzt muß es euch aber wohl sein bei mir, ihr Armen.‹« Der Heiner hatte es genau behalten, und wenn er stockte, half ihm das Fränzchen, nur Rudi saß still da und wußte niemand, dem er von seinen Datteln bringen wollte. Es drückte ihn etwas, das mit dem armen Mann, aber dem wäre nicht mit den süßen Früchten geholfen gewesen. Und er wußte auch nicht, wo er hingekommen war.

So aß er seinen Teil an den Datteln still und freudlos auf, und Tante Ursel dachte: »Der vermißt die Mutter am meisten, er hat sie auch am besten gekannt; darum ist er auch so wortarm und gedrückt, wenn er daheim ist.«

140 Und so fing sie an, den Kindern aus der Zeit zu erzählen, da die Mutter noch da war, und dann noch früher, weit zurück, von ihren eigenen und der Mutter Kindheitstagen, und wurde ganz warm und lebendig dabei. Denn sie war mit der Mutter in demselben Hause ein Kind gewesen und hatte mit ihr in demselben Garten gespielt, in dem sie jetzt saßen, und so mutete die Kinder alles ganz heimlich und vertraut an.

»Und da war dann das Gretle überall mit dabei, das ist jetzt die Margret geworden, die euch so eine fröhliche Nachbarin ist, und die wir heut abend noch miteinander besuchen wollen. Die wußte die schönsten Spiele, und konnte die meisten Lieder und war den ganzen Tag vergnügt. Und das Dorle war da, das ihr auch so gut kennet, das war immer ein stilles, feines Kind, das muß ich auch wieder sehen. Das hatte so große, blaue Augen, man mußte nur immer hineinsehen, und weil es so flink und leichtfüßig war, nannten wir es das Bachstelzli.«

Jetzt konnte aber das Fränzchen nicht mehr still sein, es zupfte die Tante stark am Kleid, daß sie innehalte mit Erzählen und fragte dann eifrig: »Hat das Dorle zwei blaue Augen gehabt, Tante Ursel? Es hat nur noch eins. Und daneben ist ein Loch, da, wo das andere hingehört.«

Und Heiner atmete tief auf, wie einer, der noch nicht ganz fertig ist zum Reden, aber eben daran arbeitet, und sagte dann langsam: »Und jetzt kann man das Dorle auch noch Bachstelzli nennen, weil es einen Stelzfuß hat zum Gehen. Aber flink ist es nicht mehr. Die Margret sagt immer: ›Das Dorle ist ein armes.‹«

Die Tante war so still geworden wie der Rudi. Sie saß und hatte die Hände ineinandergelegt und sah vor 141 sich hin, so, als habe sie die Reden der Kinder nicht gehört.

Dann sagte sie leise: »Ich weiß jemand, der ist noch ärmer.«

Nach einer Weile zupfte das Fränzchen wieder.

»Tante, wer ist noch ärmer?« fragte sie. »Wo ist er? Ist er auch hier? Oder ist er etwa in Italien? Sag's, Tante.«

Aber die Tante sagte nur: »Das weiß allein der liebe Gott, wo er ist. Der wird auch den Waldjakob finden und ihn bei sich daheim sein lassen, wenn er schon in der Fremde herumirren muß, mit einem Herzen voll Schuld und Jammer. Wenn er käme, er könnte wenigstens sehen, daß es nicht aufs ärgste gegangen ist. Aber der kommt nicht mehr.«

In dem Augenblick kam Fräulein Eisenbeiß vom Haus her und holte Heiner und Fränzchen hinein zu irgend einer Säuberung.

»So, Rudi,« sagte Tante Ursel, »jetzt wollen wir noch ein wenig miteinander herumgehen. Ich muß zuerst alle alten Plätzchen wieder aufsuchen, daß ich mich daheim weiß. Sieh, da ist der große Nußbaum; der hatte zu unserer Zeit ein Bänkchen in seinem Gezweig, und eine Strickleiter hing da herab. Da saßen wir manchen schönen Nachmittag lang. Und das Rondell mit den Stiefmütterchen und Monatsrosen, und die Vogelesche. Alles, alles ist noch da – wo aber sind die Genossen?«

In diesem Augenblick erschien an der Hecke, die den Doktorsgarten auf der einen Seite von der Nachbarswiese trennte, das frische, sonnverbrannte Gesicht der Nachbarin Margret wie eine Antwort auf die Frage der Tante.

Eine große Aufregung spiegelte sich auf diesem 142 Gesicht, bis sie der Tante ansichtig wurde, worauf die Aufregung in Freude überging. »Ach,« sagte sie und schlug die Hände zusammen, »noch grad in diesem Augenblick hab' ich gedacht: ›Wenn doch nur noch die alten Zeiten wären, daß man der Frau Doktorin oder der Fräulein Ursula rufen könnte, aber da ist niemand mehr.‹ Und jetzt steht die Schwester Ursula nur so da wie hergerufen.«

Das gab zuerst ein großes Händeschütteln und dann eine Berichtigung von seiten der Schwester Ursula, daß sie früher nichts von einem »Fräulein Ursula« gewußt habe, sondern nur von einer Ursel, und daß es dabei bleiben sollte unter alten Freunden.

Dann konnte Margret fortfahren, ihr Herz auszuleeren.

»Da ist jetzt grad vorhin der Knecht vom Rebberg hereingekommen und hat gesagt, draußen im Unterschlupfhäusle liege einer, der sei wie tot; man habe ihn vorher herumstöhnen und hinken sehen, und jetzt habe er sich, scheint's, dort hineingelegt auf den Strohsack. Der Knecht regt ihn aber nicht an, um keinen Preis, und ich versteh' mich nicht drauf, ich tät's ja gern. Und jetzt ist der Herr Doktor noch fortgefahren und kommt erst spät heim, das weiß ich.«

Schwester Ursula wußte da schon, was sie zu tun hatte.

»Gib mir nur jemand mit, daß ich euren Rebberg finde, Margret,« sagte sie. »Ich geh' nur noch geschwind ins Haus und hole einiges, was ich etwa brauchen könnte, und du, Rudi, sagst der Fräulein Eisenbeiß, daß man mit dem Essen nicht auf mich warten solle.«

»Nimm mich mit, Tante Ursel, ich weiß den Weg,« sagte Rudi so flehentlich, daß sie ihn verwundert ansehen mußte, und daß Margret für sich hin sagte: »Da kenn' ich mich nicht aus bei dem Buben. Der ist zu hoffärtig 143 geworden, daß er in meine saubere Stube kommt, und will jetzt mit zu dem Herumstreicher gehen, vor dem's sogar mir graust.«

Aber Margret wußte nicht, daß die verstorbene Mutter heut vor die Augen ihres Kindes getreten war, und daß dieses Kind gern wieder in ihre Welt heimkommen wollte.

Draußen im Rebberg lag die untergehende Sonne auf den Traubenstöcken und durchleuchtete mit ihren milden, goldenen Strahlen die fast reifen blauen und weißen Trauben. Aber weder Tante Ursel noch Rudi sahen jetzt nach den Trauben; sie gingen, so rasch sie konnten, auch dem Häuschen zu, das den Weinberghütern zum Unterstehen und hier und da zum Übernachten diente. Es war ein niedriges Hüttchen, aus Feldsteinen aufgebaut und mit einem Holzdach, zwischen dessen Spalten die Sonnenstrahlen noch durchfielen. Sie fielen auf den ärmlichen Strohsack, der auf dem Boden lag, und streiften des Gesicht des armen Mannes, der mit geschlossenen Augen dalag und sich nicht rührte. Die Tante begann nun sogleich ihr Werk, denn sie sah, daß hier kein Toter sei, nur ein ganz erschöpfter Mann, und sie hatte allerlei Mittelchen bei sich, um die gesunkene Kraft zu heben. Aber immer wieder dazwischen hinein sah sie suchend in das verwitterte Gesicht, so, als ob sie etwas darin finden wollte und nicht könnte.

»Tante Ursel,« sagte Rudi zaghaft, »kann es vielleicht sein, daß der Mann sterben muß, weil er den Papa heut nicht getroffen hat, und weil er dann noch weitergehen mußte?«

»Das wird ja nicht sein,« sagte die Tante. »Er ist gewiß erst vom Wald da heruntergekommen und hat nicht mehr weiterkönnen. Wie kommst du nur darauf?«

144 »Tante – er heißt Waldjakob – hat er gesagt. Und er hat nach der Mutter gefragt, und ich habe ihn wieder fortgeschickt, weil – weil er so zerrissen und schmutzig aussah und nur so in den Garten kam. Und nachher hätte ich ihn gern gesucht, weil du gesagt hast« – der ganze Rudi zitterte, denn der Mann da auf dem Bett stöhnte leise und schmerzlich vor sich hin und murmelte undeutliche Worte, und dem Knaben war es, als sterbe der Waldjakob, und er trage die Schuld daran.

Aber die Tante war neben dem Mann auf einen Holzklotz niedergesessen und hatte ihre Hand auf seine Stirn gelegt. »So hat er doch noch zurückgefunden,« sagte sie. »So hat er nicht draußen in der Fremde ganz verloren gehen müssen.«

Es war eine große Freude und daneben eine tiefe Bewegung in ihr Gesicht gekommen.

»Komm, Rudi,« sagte sie nach einer Weile, als das Stöhnen stiller geworden war, »ich will dir etwas von dem Mann erzählen. Den hab' ich früher gut gekannt; der hat zu meinen Jugendgenossen gehört. Und dann wollen wir miteinander Gott danken, daß er noch heimgekommen ist, wenn es auch vielleicht nicht mehr für lang ist.« Denn der Waldjakob sah so elend aus, daß man es wohl denken konnte.

»Es ist ihm bös genug gegangen draußen herum, das sieht man wohl,« fing die Tante an. »Man sieht's ihm nicht mehr an, daß er einmal ein frischer und ein stolzer Bub' gewesen ist, der immer in allem das Wort führte und angab, wie es gemacht werden sollte, wenn sich die Kinder zum Spielen zusammenfanden.

Der Waldjakob hieß er, weil er da drüben im Waldhof daheim war, siehst du, man sieht von hier aus das 145 hohe, spitze Dach mit den grünen und braunen Ziegeln, die wie ein Sternenmuster aussehen. Da war er das einzige Kind, ein reiches und doch ein armes. Denn er hatte von ganz klein auf keine Mutter mehr, und sein Vater ging nur immer seiner Wege und sah sich kaum nach dem Buben um. Daneben gab er ihm aber immer Geld genug in die Hand, denn der Jakob sollte als ein reicher Bauernsohn auftreten immer und überall. Ich weiß noch gut, wie er einmal als siebzehnjähriges Bürschlein auf den Jahrmarkt kam, der da drunten auf der Schafwiese gehalten wurde, den runden Lederbeutel ganz voll mit Groschen und Sechsbätznern. Da ließ er alle Kinder, die nur wollten, auf dem Karussell fahren, und nachher kaufte er einen Lebkuchenmann ganz aus und gab die Lebkuchen nur so händevollweis hin. Und dabei stieg er herum wie ein Prinz, aber ein Dorfprinz, Rudi, mit seinem nagelneuen Bauernanzug, von den Bundschuhen bis zur Pelzkappe. Siehst du, Rudi, so war es immer bei ihm, auch als er größer wurde, er gab gern etwas her, am liebsten mit vollen Händen, aber es mußte dann auch immer dabei gehen, wie er wollte, und nicht anders, und er mußte dabei zu Ehren und Ansehen kommen.

Eines war aber, vor dem hatte der Waldjakob einen Respekt, der ihn selber ärgerte, denn er gab sich recht eigentlich Mühe, ihn abzulegen. Das war das Dorle, von dem ich heut schon gesagt habe, daß wir es das Bachstelzli nannten, weil es flink und fein und leichtfüßig war. Es gehörte einer armen Näherin, die in den Häusern hin und her ging mit ihrer Brille und ihrem Nähstein. Das Dorle war ihr jüngstes und ihr letztes Kind, denn alle andern hatte sie begraben müssen, und den Mann auch.

Das Dorle aber hatte eine Eigenschaft, die gar nicht 146 auszuschöpfen war: es konnte Geschichten erzählen, immer wieder andere, wenn wir auch schon die alten am liebsten wieder hören wollten. Da saßen wir manchmal, wenn wir alle wilden Spiele ausgenossen hatten, an dem hohen Grasrain in der Margret Garten, und die Margret, die damals noch ein Gretle war, fing an, ein Lied zu singen mit ihrer hellen Stimme, und sang unbekümmert weiter, wenn wir auch schon nicht gleich mitsangen. Denn das wußte sie schon, daß wir nicht lang schweigen konnten. Sie wußte aber auch die schönsten, die es gab, sie hatte sie von ihrer alten Ahne ererbt.

Da sang der Jakob aber nie mit, denn wenn er den Mund aufmachte, so kam ein so falsches Getöne heraus, daß wir alle riefen: ›Still sein, Jakob, sonst werden die Hühner krank.‹ Das konnte er aber nicht lang ertragen, daß er bei einer Sache nicht mittun konnte, und so sagte er immer dazwischen hinein: ›So seid jetzt einmal zufrieden mit der Singerei, das Dorle muß etwas erzählen, es hat gestern nichts erzählt.‹ Aber das Dorle tat nicht nur so, wie der Jakob wollte, wenn es schon nur ein kurzes, baumwollenes Röckchen anhatte und in bloßen Füßen ging. Es sah ihn dann nur mit seinen blauen Augen ganz lustig und freundlich an und sagte: ›Das werd' ich denk' wohl auch nachher können, das Erzählen läuft uns nicht davon.‹

Und das gab dem Jakob so einen Respekt vor dem Dorle, daß es einen eigenen Willen gegen ihn hatte und ihm dann nachher doch etwas zu Gefallen tat, wenn er es nur zu nichts zwingen wollte.

Denn nachher fing das Dorle ganz von selbst an, die schönen Geschichten zu erzählen, und gerade auch die, die der Jakob so besonders gern hören wollte. Das war 147 eine Geschichte von zwei geraubten Kindern, die miteinander fortgehen und den Heimweg suchen und dann zu ihren Eltern kommen, die in einer ganz wunderherrlichen Gegend wohnen. Und dabei blieb dann das Dorle stehen und malte aus Eigenem diese Gegend immer noch schöner aus, so daß dann jeden Tag noch neue Herrlichkeiten hinzukamen. Alles, was man sich nur wünschen konnte, war da zu finden und wuchs auf den Bäumen oder flog durch die Lüfte herbei, es mangelte gar nichts.

Aber oft ertönte grad mitten in die schönste Beschreibung hinein der Ton der Betglocke von der Kirche herüber, und da stand das Dorle sogleich auf und sagte: ›Morgen machen wir dann weiter,‹ und dann war es nicht mit Lieb' und nicht mit Leid zu bewegen, noch weiterzumachen. Da gab es dann meistens einen Krieg mit dem Jakob; denn der dachte nicht im mindesten daran, zu folgen und konnte es nicht leiden, daß nun das Dorle sogleich davonsprang, weil es die Mutter befohlen hatte, daß es da heim müsse.

Da packte er es an seinem Röckchen und hielt es fest, und oft schoß ihm ein großer Zorn ganz dunkelrot bis unter das Haar, weil so ein kleines Ding ihm widerstrebte, und er war doch des Waldbauern Jakob.

Aber das Dorle wußte ihm immer irgendwie zu entwischen, obgleich der Jakob soviel stärker war. ›Nein, nein,‹ sagte es, ›ich muß daheim sein, wenn die Mutter kommt, und vorher muß schon das Feuer brennen zur Suppe,‹ und dann sprang es den ganzen Abhang hinunter bis an das Häuschen, in dem es mit der Mutter wohnte.

Dann ging der Jakob langsam hintendrein und machte die erschrecklichsten Gesichter und ballte die Fäuste hinter 148 dem Dorle her, aber das sah sie ja nicht, und wenn sie es schon gesehen hätte, so hätte es sich doch nicht gefürchtet.

So wuchsen wir alle heran. Ich weiß nicht aus aller Zeit etwas von all den Jugendgenossen zu erzählen, denn ich war ein paar Jahre älter als sie und kam dann hier und da für längere Zeit von zu Hause fort. Als ich nach meinem großen Wunsch die Krankenpflege gelernt hatte, wurde mein Vater krank, und so konnte ich ihn nur noch pflegen, bis er starb. Nachher heiratete sein junger Hilfsarzt deine Mutter, und so blieben wir hier in der Heimat, wenn auch die andern Geschwister nach und nach ausflogen.

Um diese Zeit nun war es, daß der Waldjakob vom Militär zurückkam, wo er ganz großartig gelebt hatte. Man sagte sogar, er habe Reserveoffizier werden wollen, wenn nicht etwas dazwischengekommen wäre. Dieses Etwas war, daß sein Vater starb und daß man nach seinem Tod entdeckte, daß der ganze Hof über und über mit Schulden bedeckt und gar nichts mehr übrig sei für den Jakob als ein paar hundert Mark, die er von einer Base erbte. Was er aber auch geerbt hatte, das war der Hang zum Groß- und Vornehmtun und zum Eigenwillen. Denn wenn er schon beim Militär hatte gehorchen müssen, so hatte er die Kameraden um so mehr beherrscht, und das alles konnte er jetzt nicht nur so ablegen und wollte auch nicht. Im Gegenteil, jetzt tat er um so stolzer, solang er noch Geld hatte, und zog seine Pfeifen in gar nichts ein. Uns tat es schon damals so leid, weil wir gut merkten, daß unter dem Stolz und Trotz der Jammer sei, daß es so habe mit ihm kommen müssen. Unsere Mutter, noch eh' sie starb, sagte manchmal: ›Seid gut gegen den Waldjakob, an dem ist viel gesündigt worden von klein 149 auf, und jetzt muß er es büßen. Denn die, die er frei gehalten hat und ihnen Geschenke gemacht, die wollen nichts mehr von ihm, wenn er ganz arm ist.‹

Das Dorle war in diesen Jahren ein großes, schönes, feines Mädchen geworden, das sich gut hielt und allen rechten Leuten wohlgefiel. Es hatte immer so etwas Besonderes an sich gehabt, schon als Kind, und das war immer noch so, obgleich es immer so einfache Kleider trug. Jetzt wollte es nach Basel in einen Dienst gehen und nähte emsig an seinen Sachen. Da kam einmal, du warst schon geboren, Rudi, und wir saßen im Garten, deine Mutter und ich, und hatten dich bei uns im Wiegenkorb – der Waldjakob daher. Ganz steif blieb er vor uns stehen, obgleich wir ihn zum Sitzen nötigten. Er drehte seine Kappe in den Händen und sagte wie aus einem inneren Grimm heraus: ›So weit wird's, denk' wohl, noch nicht sein, daß das Dorle nicht mehr mit mir gehen kann am Maientag. Ihr könntet es auch zu ihm sagen, daß es muß. Mir ist sonst alles entleidet.‹

Da kam es denn heraus, daß das Dorle wieder einmal seinen Willen gegen den des Waldjakob gesetzt hatte. Er wollte es durchaus mit sich zu dem Fest nehmen, das am ersten Mai gefeiert wurde, aber das Dorle wollte nicht, im Gegenteil. Sondern sein Tun und Treiben gefiel ihm in dieser Zeit nicht, darum wollte das Dorle nicht mit ihm gehen. Deine Mutter, Rudi, hat es immer gut mit dem Jakob gekonnt, und so sagte sie ihm jetzt mit guten Worten, wie es sei, und bat ihn ganz herzlich, er solle sich doch sein Leben nicht so verderben. Wenn er schon arm geworden sei an Geld und Gut, so sei er doch jung und gesund, so könne er doch erarbeiten, was er brauche für sich – ›und für das Dorle, denn es ist dir 150 nicht bös gesinnt,‹ setzte sie hinzu und lächelte ein wenig. Der Jakob setzte seine Kappe wieder auf und ging ganz sperrbeinig davon, und deine Mutter sagte: ›Gib mir mein Kindlein her, Ursel, ich muß es ansehen.‹ Und dann küßte sie dich viele Male und sagte: ›Behüt' dich Gott vor allem Argen, mein Büblein, daß ich nie muß vom Himmel herunter mit Leid auf dich sehen.‹ Denn sie dachte so oft ans Sterben, wenn wir es ihr schon ausreden wollten.

Den Jakob aber haben wir seither nicht mehr gesehen. Der ging von uns gleich zum Dorle und wollte ihm noch einmal zureden. Aber je heftiger er wurde, desto stiller wurde das Dorle. ›Nein, nein, keine Rede,‹ sagte es zuletzt, ›mit so einem Wilden geh' ich keinen Schritt.‹ Da sprang dem Jakob der rote Zorn aus den Augen und er stieß heraus: ›Dich kann man auch noch zwingen, du wirst es schon noch sehen.‹ Und dabei ballte er die Fäuste und wollte auf das Dorle losgehen, das oben auf der Treppe stand, er stand unter der Stubentür. Da wich das Dorle mit einem Angstschrei zurück, denn auf einmal fürchtete es sich doch, und trat daneben und fiel die Treppe hinunter so unglücklich, daß es dalag wie tot. Es war aber nicht tot, es hatte sich nur bös verletzt.

Der Jakob mußte meinen, er habe das Dorle getötet, denn gleich nach dem Schrei und Fall sahen ihn die Nachbarn wie unsinnig zum Haus hinausrennen. Seither hat ihn niemand mehr gesehen bis heute.«

Die Tante hielt in ihrer Erzählung inne, denn der Kranke fing neuerdings an zu stöhnen, und er regte sich, wie wenn einer erwachen will und nicht kann. In das Hüttchen fiel jetzt zu der offenen Tür hinein der erste Schein des aufgehenden Mondes, und draußen wurden 151 feste, eilfertige Schritte hörbar. Dann kam Margret heran, blieb aber vorsichtig an der Türe stehen. »Was ist's?« fragte sie, »ihr kommet ja gar nicht mehr. Ich hab' nach euch sehen müssen.«

»Margret,« sagte Tante Ursel, »es ist einer, der zu uns gehört, da sieh her. Er ist alt geworden, wenn er schon noch jung ist, aber im Schlaf sieht sein Gesicht doch noch dem alten Waldjakob gleich.« Der Margret liefen die Tränen über die braunen Backen, je länger sie über den Mann hinsah. »Was wird das Dorle sagen?« flüsterte sie. Da machte der Mann die Augen auf. Es war ein halb träumender Blick, mit dem er umhersah.

»Ich hab' es nirgends gefunden,« sagte er mit Mühe. »Was hast du nirgends gefunden, Waldjakob?« Er zuckte zusammen, als er sich beim Namen nennen hörte. »Das Grab, dem – dem Dorle seins.«

»Ich geh' und hol' das Dorle,« sagte Margret. »Es muß herbei, den Abend noch, und wenn ich's auf dem Graswagele herführen muß.«

»So hast du alle die Jahre her die Last mit dir herumgetragen, Jakob?« fragte die Tante. »Da mußt du freilich müd' geworden sein. Aber sieh, das Dorle liegt noch nicht im Grab. Jetzt bleib noch eine Weile still liegen, und dann kommt es zu dir.«

Der Waldjakob fuhr in die Höhe. Das konnte ja nicht wahr sein. Das mußte ihm ja träumen. Aber er legte sich wieder müd' zurück. Da war ein bekanntes Gesicht und eine liebe Stimme, und auf seine Stirne legte sich eine kühlende Hand. Da tat er die Augen wieder zu. Wenn es geträumt war, so war es doch schön geträumt.

Da war es still in dem Weinberghäuschen, bis des Dorles Stelzfuß auf den Staffeln daherstapfte und bis sie 152 dann ins Hüttchen trat. Sie hörten noch, wie das Dorle sagte: »So grüß dich Gott, Jakob, bist du heimgekommen?« Dann gingen die beiden, die Tante und der Rudi, hinaus, denn hier brauchte man sie nicht mehr.

*     *     *

Es war das Jahr darauf. Der Doktors-Rudi saß wieder auf dem Lattenzaun am Zwetschgenbaum und ließ sich's schmecken. Es war alles so schön um und um, so heimatlich, wie es lange nicht gewesen war in den mutterlosen Jahren. Dort in der Laube saß Tante Ursel mit dem Dorle an dem großen Flickkorb, und auf der andern Seite des Tisches saßen Heiner und Fränzchen und machten ihre Aufgaben. Von dem Kartoffelland am Ende des Gartens her kamen ein wenig mißtönige, knarrende Laute, die einen Gesang vorstellen sollten. Dort schaffte der Waldjakob, er tat Kartoffeln heraus. Er war schon lang wieder gesund, und es ging ihm so wohl wie noch nie in seinem Leben. Das sagte er selber, und so mußte es ja wahr sein. Als Rudi seine letzte blaue Zwetschge gegessen hatte, sprang er auf den Boden und ging nach dem Kartoffelland hin. »Waldjakob, du singst aber arg wüst,« sagte er. Der Waldjakob lachte ein wenig. »Ich kann's halt nicht schöner,« sagte er, »aber das Lied ist doch schön. Ich höre das Schöne dran, nicht das Wüste.«

»Ja, aber die andern Leute hören das Wüste,« sagte Rudi. Aber es war nicht bös gemeint. Er und der Waldjakob waren ganz gute Freunde geworden. Der Rudi hatte so ein bißchen etwas Verwandtes zwischen sich und dem reichen Waldbauernbuben gemerkt, er hatte an jenem Tag etwas gelernt.

153 »Erzähl mir noch etwas von draußen herum, Jakob,« sagte er und setzte sich auf einen halbvollen Kartoffelsack.

Denn da nun alles gut war, so hörte der Rudi nicht ungern von den großen Mühsalen und Abenteuern, die der umherirrende Waldjakob bestanden hatte, ehe er sich wieder heimgetraute, um, wie er meinte, des Dorles Grab zu sehen.

Der Waldjakob wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

»Ich red' nicht mehr gerne von draußen herum,« sagte er. »Es dünkt mich, ich sei meiner Lebtag noch nie daheim gewesen, bis an den Augenblick, da das Dorle mich mit seinem einen Aug' so liebreich angesehen hat und gesagt: ›Ich hab' auf dich gewartet, Jakob, ich hab' dir noch etwas sagen müssen.‹ Und dann ist sie bei mir gesessen, selbige ganze Nacht, und hat mir erzählt und hat gesagt: ›Jakob, wir sind auch zwei so arme Kinder wie in meiner Geschicht', weißt du's noch? Wir wollen auch miteinander das schöne Land suchen, in dem man daheim sein kann.‹ Und hat mir das Lied gelesen, das ich vorhin gesungen hab', und seither hör' ich immer das Schöne davon und nicht meinen wüsten Gesang. Da steht alles drin von mir, alles Böse und alles Schwere, bis zuletzt, wo es heißt, daß der Vater die Tür auftut und so einen wie mich hereinläßt, und daß es da so schön ist und man nie mehr fort muß. Nein, ich mag nichts mehr vom andern reden, von draußen herum.«

In dem Augenblick kam der Ton der Betglocke vom Turm her, und das Dorle rief aus der Laube: »Jakob, es ist Zeit, wir müssen heim, mach Feierabend.« Und das tat der Jakob, denn das Dorle galt immer noch so viel bei ihm wie ehemals, oder noch mehr, denn sie hatten jetzt 154 keinen Krieg mehr nötig ums Heimgehen, sie gingen miteinander.

Wenn schon das Dorle nur ein Aug' hatte und einen Stelzfuß, und wenn schon der Jakob arm und elend heimgekommen war, sie ließen sich's nicht zuviel anfechten. Denn das alles dachten sie in dem schönen Land, auf das sie zugingen, zu finden, und noch mehr. Da konnten sie es hierzulande schon eine Weile entbehren. 155

 


 


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