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Draußen vor der Stadt lag am Fuß des Vordorfes und der Berge, da, wo es ins Mönchstal hineinging, der Schützengarten, in welchem eine Woche lang Mannschießen gewesen war. Jeden Tag waren die Schützen, mit Musik voran, in ihren grünen Uniformen, den Hirschfänger an der Seite, das Gewehr über und den steifen Tschako mit dem Busch aus schwarzgrünschillernden Hahnenfedern drauf, aus der Stadt da hinausgezogen. Am ersten Tage aber waren dem Zug ein auf einem breiten Brett mit schönen bunten Farben aufgemalter Mann, der mitten auf der Brust eine Zielscheibe aus schwarz und weißen Ringen hatte, und außerdem ein kreisrundes Brett mit einem bunten Reiter drauf, der gleichfalls eine Zielscheibe hatte, voraufgetragen worden; nach denen wurde geschossen, und deshalb wurde das Fest das Mannschießen genannt.
Heute aber war der letzte Tag des Mannschießens, und zum Abschluß wurde am Abend, wenn es dunkel geworden war, das Feuerwerk abgebrannt. Es war immer so gehalten worden, daß, wenn nicht Vater, so Onkel mit Walter an diesem Abend, um das Feuerwerk mit anzusehen, nach den Bergen 'nausgewandert war.
Vater, der heut' Abend von Bekannten selber zum Schützengarten 'naus eingeladen war, war schon draußen. Aber Onkel hatte gesagt, daß er mit Walter 'nausgehen werde. Mutter konnte der kleinen Ida und Kurtchens wegen nicht mitkommen.
Aus mehr als einem Grunde freute Walter, der Onkel sehr gern mochte, sich sehr darauf. Und in seiner Ungeduld wich er nicht vom Fenster und lugte, ob Onkel noch nicht bald aus der Straße drüben vor- und über den Platz daherkäme.
Es war schon dämmerig, und die Abendsonne färbte die Häuser drüben auf der anderen Seite des Platzes ganz rot, als er ihn endlich um die Ecke auf den Platz einbiegen und auf das Haus zu daherkommen sah.
Onkel war Vaters Bruder und ein kleiner Mann mit einem blonden Schnurr- und einem kurzgestutzten, blonden Backenbart. Er hatte noch keine Frau und wohnte unten auf dem Steinweg mit Großmutter zusammen. Er hatte einen mausgrauen Schoßrock an, der immer offen stand, so daß man die weit ausgeschnittene, mausgraue Weste mit dem starren, spiegelblank weißen Hemdausschnitt, dem weißen Klappkragen und dem braunen Schlips und der goldenen Uhrkette sah; und mausgraue Beinkleider hatte er an, und einen hellgelben Strohhut mit einer breiten, weichen Krempe und einem schwarzen Band drum herum auf. Er trug eine Brille, und in der Hand hatte er einen Spazierstock aus rotbraunem spanischen Rohr mit einer geraden Elfenbeinkrücke oben. Er setzte die Füße beim Gehen auswärts, wobei dann die langen, abstehenden Rockschöße nach dem Takt seiner Schritte hin- und herpendelten.
Walter sah ihm zu, wie er über das alte, holprige Pflaster, zwischen dem Grasbüschelchen hervorwuchsen, quer über den Platz auf die Haustür zu daherkam. Mit der rechten Hand stapfte er mit solchen kurzen, ehrenfesten Stößen, die zugleich nicht ohne Zierlichkeit waren, den Stock auf, in der linken aber hielt er einen großen, vollen, blaßrosafarbenen Papiersack gegen die Brust gedrückt.
Walter wußte gleich, daß er wieder was mitbrachte. Er war so gut. Immer, wenn er kam, brachte er was mit. Er lief vom Fenster weg durch das schon dämmerige Zimmer, rief Mutter, die hinter ihren Blumenstöcken am anderen Fenster saß und nähte, während die kleine Ida ihr zu Füßen auf dem Fenstertritt hockte und spielte, zu: »Onkel kommt!«, öffnete eilig die Tür, lief auf den Treppenflur 'naus, bog sich oben über's Geländer, lugte in den Hausflur 'nunter und wartete.
Endlich tat sich die Tür auf, die Klingel schellte, und Onkel trat herein.
Walter sah ihm zu, wie er gewissenhaft die Haustür hinter sich mit der Hand, in der er den Stock hatte, wieder in's Schloß drückte; und dann rief er voller Freude in den Hausflur 'nunter:
»Onkel! ... Onkel!«
Onkel blieb stehen und sah herauf. Es war noch ein bißchen Sonne im Flur, und die bunten Glasscheiben, die oben über der Tür waren, legten goldgelbe, blaue und schön rote Lichter über seinen Strohhut, sein Gesicht und den mausgrauen Schoßrock.
Als er aber Walter sah, der ihm zunickte, lachte und vor Freude mit Händen und Beinen zappelte, lachte auch er, drohte ihm mit dem Stock und rief ihm zu:
»Na, du Strick? ... Was meinst du, wenn heut' Abend aus dem Mönchstal vor der dreibeinige, blaue Hase mit den feurigen Augen angehoppst kommt?«
Aber Walter lachte bloß.
»Och, heute doch nicht? Er fürcht't sich vorm Feuerwerk!«
»Gucke, gucke! Du hast ja viel Kurage!« lachte Onkel. »Na, wir wollen's hoffen.«
Aber da kam er schon die Treppe herauf; bald war er oben, und Walter hängte sich ihm, während er nach dem rosafarbenen Papiersack lugte, an den freien Arm. Er konnte jetzt erraten, daß in dem Sack, der lauter so kleine Buckel hatte, Kirschen waren.
»Guten Abend, Marie!« sagte Onkel, als er eingetreten war, zu Mutter. »Na, wie geht's dir?«
»Wie soll's gehn, Ludwig!« antwortete Mutter, während sie ihm die Hand reichte, ihn ansah und lachte. »Immer so so, nicht wahr? ... Einer kommt aus seinem ewigen Wirtschaftstratsch nicht 'raus ... Und wie geht's Mutter?«
»Sie wollte mitkommen, aber sie hat seit heut' Morgen wieder mal im linken Bein ihr Reißen ... Na, Dickchen? ... Hähähä!« setzte er hinzu, während er sich zu der kleinen Ida niederbeugte und sie streichelte. Die kleine Ida ließ ihre Puppe, machte große Augen nach dem Papiersack hin, reckte ihre dicken Ärmchen danach aus und rief: »Haben! ... Haben!«
Onkel öffnete den Sack und ließ sie 'neingreifen. Sie zog das Händchen voll Kirschen draus vor. Walter sah, daß es schöne, große Ammerkirschen waren. Die kleine Ida steckte sich gleich eine in den Mund.
»Hübsch Kernchen ausspucken, Idelchen, hörst du?« rief Mutter ihr zu. »Hübsch Kernchen ausspucken!«
Onkel aber richtete sich wieder auf und reichte Mutter den Papiersack.
»Oh, für mich?« sagte Mutter. »Seht, was ihr für einen guten Onkel habt! Immer bringt er was mit! ... Oh, und so herrliche Ammerkirschen!« Sie setzte den Sack vor sich hin auf das Nähtischchen, gab Onkel die Hand und sagte: »Na, dann hab' schönen Dank, Ludwig!«
»Sie sind für dich, Marie!« sagte Onkel. »Wir kaufen uns nachher welche draußen auf dem Berg, beim Öbster, gelt?« wandte er sich an Walter; denn er wollte verhindern, daß Mutter ihm welche abgäbe; sie sollte, weil sie nicht mitkommen konnte und heut Abend so ganz allein zu Hause war, auch was abhaben.
Walter war's zufrieden. Denn er wußte schon, es gehörte mit dazu, daß Onkel draußen beim Öbster auf dem Berge Kirschen kaufte.
Während Onkel sich erst noch eine Weile mit Mutter unterhielt, lief Walter in seine Ecke beim Schrank und holte von dort seine dunkelblaue Schülermütze, die unten einen blauen und einen weißen Streifen hatte. Und dann stand er bei Onkel und Mutter, sah Onkel an und schwenkte die Mütze hin und her, damit Onkel an den Aufbruch dachte.
Als Onkel aber noch immer fortfuhr, sich mit Mutter zu unterhalten, hielt er's nicht mehr aus und rief:
»Onkel, 's wird schon dunkel?«
Und etwas später, weil Onkel ihn nicht gehört hatte:
»Onkel, wir kommen zu spät?«
Mutter, die ihn unter ihrer Unterhaltung mit Onkel ansah, lachte jetzt, weil er's vor Ungeduld weinerlich gesagt hatte und sagte zu Onkel:
»Da kriegt er's wieder mal mit den Hummeln.«
Sie meinte damit aber, daß Walter es vor Ungeduld zum Feuerwerk 'nauszukommen, nicht mehr aushielte.
»Also, da soll's losgehen, Sohnemann?« wandte sich Onkel an ihn und lachte. »Na, dann leb' wohl, meine gute Marie!« Er reichte Mutter die Hand. »Laß dir die Zeit derweile nicht zu lang werden.«
I ja!« lachte Mutter. »Ich, und mir die Zeit lang werden lassen können! Bei der Wirtschaft und meiner Genossenschaft da«! Sie streichelte bei diesen Worten der kleinen Ida, die still ihre Ammern schmauste, leise den Kopf. »Na, hab' also nochmals Dank, Ludwig, für die wunderschönen Ammerkirschen, und viel Vergnügen draußen auf'm Berg!«
Und Onkel brach mit Walter, nachdem er Mutter noch »Adjeh so lange, Mutter!« zugerufen und ihr die Hand gegeben hatte, auf.
Unten auf dem Platz war die rote Glut von der Abendsonne drüben auf den Häusern jetzt erloschen. Aber oben, über den Dächern, war der Himmel noch schön hell und blau, nicht ein Wölkchen war zu sehen. Es war ganz still. Oben auf dem Hausfirst aber saß ein Star, der laut sein Abendlied sang. Walter hatte ihn schon oft beobachtet und ihm zugehört. Er saß jeden Abend dort oben, immer auf demselben Fleck. Hinten in der Gasse aber, die um Goldschmieds Haus 'rum zum Bach 'nunterführte, wurde wunderschön auf einem Tenorhorn geblasen. Auch das hörte Walter jeden Abend. Heute spielte das Hörn »Seht wie die Sonne dort sinket, hinter dem nächtlichen Wald«. Neben Goldschmieds Haustür, auf der Steinbank, saßen zum Feierabend noch Herr Goldschmied und seine Frau. Er hatte seine buntgestickte Hauskappe aus schwarzem Sammet auf und rauchte seine Meerschaumpfeife; die dicke Frau Goldschmied aber, die mit behaglicher Neugier zu Onkel und Walter herübersah, während Onkel die Beiden grüßte, strickte, und auf ihrem Schoß lag dabei ihre große, dicke, weiße Hauskatze. Über ihnen, im Fenster, standen drei große Kaktusstöcke. Der eine hatte viele große, hellrosa Blüten, der andere knallrote, und der dritte weiße mit rosa Streifen. Auf dem Pflaster, mitten auf dem Platz, spielten zwei Hunde. Sonst war weiter keine lebendige Seele zu sehen.
Onkel ging mit Walter die Straße 'nauf nach dem Marktplatz zu. Aber er ging für Walter, der immer ein Stück vorauflief, dann stehen blieb, Onkel ansah und auf ihn wartete, bis er dann wieder vorauflief, zu langsam.
Auch in der Straße, in der es, weil sie zu eng war, schon stärker dämmerte als auf dem Platze, saßen die Leute zum Feierabend vor den Haustüren und genossen die schöne Abendluft und die Stille und lauschten auf den Star und das Tenorhorn, die man vom Platze her deutlich hören konnte.
Als sie oben beim Rathaus angelangt waren, gingen sie nicht über den Marktplatz, sondern beim Hotel vorbei, wo zwei Handlungsreisende vor dem Tor saßen, Zigarren rauchten und sich was erzählten, und in die Gasse hinein, die am Kirchplatz vorbei nach der Schloßbrücke führte. Sie war die älteste Gasse der Stadt. Schon tausend Jahre war sie alt, hatte lauter kleine, bunt, grün, rot, gelb, blau, weiß gestrichene Häuser mit vielen bunten Blumenstöcken in den Fenstern, und solch altes, holpriges Pflaster, das wie lauter kleine, runde Kanonenkugeln war. Auf der rechten Seite gingen die Häuser aber nur bis zur Hälfte der Gasse. Dann kam ein ganz Stück bis zu dem kleinen Platz vor der Schloßbrücke eine alte, graugelbe, halbhohe Lehmmauer.
Hier blieb Onkel, der Naturfreund war, mit Walter ein Weilchen stehen. Die Lehmmauer war auf eine andere Mauer aus großen, grauen Steinen aufgesetzt, die tief 'nunterging bis zu einem Absatz, wo Gärten waren mit Obstbäumen und blühenden Hollunderbüschen, die in der warmen, stillen Abendluft ihren Duft heraufhauchten. Und viele, viele Rosen und Sommerblumen gab's da unten. Dann aber ging unter den Gärten noch tief die alte, graue Stadtmauer hinab. Die Gasse führte hier oben auf einem Berg hin. Ein gut Stück aber entfernt drüben zog sich ein Teil der Stadt mit roten Dächern und Gärten und schönen, dichten Baummassen einen anderen Berg 'nauf. Und oben auf dem Berge, noch weiter ab, war ein kleiner Wald, und noch ein Stück hin eine Kalkbrennerei. Sie hatte einen hohen Schornstein, und aus dem ging ein kleiner Rauch in den blauen Himmel 'nein. Auch nach rechts konnte man über die Stadt hinsehen. Und weit drüben über ihr sah man das alte Ziegeldach der Friedhofskapelle mit dem kleinen, runden Schieferturm drauf und der mächtigen, alten Linde davor.
Oben in der Luft flogen die Schwalben hin und her und machten »Zriiiihhh! ... Zriiiihhh! ... Zriiiihhh!«
Ein paar Minuten standen sie so, genossen den schönen Blick und hörten ein paar Nachtigallen zu, die unten in den Gärten schlugen. Als sie dann aber wieder gingen, sagte Walter:
»Onkel, man kann schon sehen, wie das Mondlicht in der Luft ist, nicht?«
»Ja«, antwortete Onkel. Dann aber lachte er und sagte: »Kannst du dich noch erinnern, wie wir da unten in dem Haus bei der Brücke gewohnt haben? Da warst du noch ganz klein, Sohnemann.«
»Oh!« rief Walter, der Onkel jetzt bei der Hand gefaßt hatte, zu ihm aufsah und neben ihm her mit den Beinen zappelte vor Eifer. »Onkel! Ich weiß noch ganz genau, wie Großmutter mich mal an einem Sommerabend so wie heute auf dem Arm hatte und mit mir auf der Brücke stand. Und da war der Vollmond dort über Scheibes Hause, da über dem Nußbaum – gucke! gerade so, wie er jetzt drüber steht!« – Sie sahen beide hin; und er stand wirklich über dem Nußbaum und Scheibes Dachfirst –, »und Großmutter zeigte mir den Mond und sang: ›Wer hat die schönsten Schäfchen?‹ Ach, das war schön!«
»Sieh mal, das weißt du noch? ... Was du für ein Gedächtnis hast, mein Junge!« sagte Onkel stolz, nachdenklich und ein bißchen gerührt und drückte Walter die Hand. »Gott erhalte dir's! ... Nu', das Lernen wird dir ja nicht schwer.«
Sie waren jetzt auf dem kleinen Platz angelangt. Links stand, am Hange, Scheibes Haus mit dem Nußbaum und dem Vollmond drüber; links von ihm zog sich zwischen Gartenmauern die kleine Gasse zum Kirchplatz 'nauf. Die ganze Kirche konnte man nicht sehen, aber den breiten, viereckigen Turm mit seiner Schieferkuppel oben drauf. Oben flogen noch die schwarzen Dohlen, die da im Gebälk und in den alten Mauerlöchern nisteten und riefen »Tjäh! ... Tjäh! – ... Tjäh!« in den Abend hinein. Und überall duftete es nach Hollunder.
Vor sich aber hatten sie unten die Schloßbrücke mit ihrem grünen Torbogen und dem Wappen drüber, die über den Wallgraben auf den gepflasterten Weg zum Schloß 'nauf ging. Oben aber, hoch drüber, zwischen runden Baummassen, erhob sich das mächtige Schloß. Durch die Bäume sahen die riesigen, grauen Wallmauern hervor, mit weitüberhängenden, graugrünen Massen von Teufelszwirn, Ebereschen und vielem Buschwerk, auch wieder Hollunderballen, die über und über voll breiter, weißer Blütendolden waren. Und ganz oben sah man über allem die drei mächtigen Türme: in den blauen Himmel hinein den runden, weißgrauen, tausendjährigen Wachtturm, der vier Meter dicke Mauern hatte; den viereckigen, grauen Turm, welcher der »Pariser Turm« hieß und eine schiefergedeckte Kuppelhaube hatte; und dann noch einen anderen viereckigen Turm, welcher der Marterturm hieß und eine Haube hatte, die mit Ziegeln gedeckt und wie eine kurze, braunrote Pyramide war.
Als sie die Brücke überschritten, taten sie einen Blick in den tiefen Wallgraben, der rings weit um das Schloßgebiet herumging und unten voller Obst- und anderen Bäumen, Blumen-, Gemüsebeeten und Beerensträuchern stand. Rechts aber hatten sie, dicht bei der Brücke, das große, gelbgetünchte Haus, wo sie früher mal gewohnt hatten, als Walter noch ganz klein gewesen war, und das an einer grauen, alten Bastei klebte wie ein Schwalbennest und tief noch in den Graben hinunterging. Daneben war in der Wallmauer ein buschverwachsenes, schwarzes Loch; da mündete gruslich ein unterirdischer Gang, der bis zum Schloß hinaufführte.
Sie gingen an einer Steinmauer hin, die zur Rechten den Gickelhahnberg bis zum äußeren Schloßhof 'naufreichte. Zur Linken aber hatten sie die Wallmauer mit ihren dunklen Baum- und Buschmassen oben. An ihrem Fuß zog sich ein Rasen hin, und hier war es dunkel, kühl und schaurig, und das alte Gemäuer hauchte einen kühlen, dumpfen Dunst in die warme Abendluft und den starken Hollunderduft hinein.
Als Onkel ein Weilchen an der Gickelhahnmauer stehen blieb und drüberweg zum Bach hinuntersah, der da unten zwischen Bäumen, Büschen und mächtigen, breitblättrigen Wasserpflanzen hinfloß und die Räder der Schloßmühle trieb, neben welcher der Herr Kantor Behrisch wohnte, kletterte Walter auf die Mauer und sah auch seinerseits da hinab. Der Bergflanke 'nunter standen hohe, alte Linden. Unten blinckerte hier und da der Bach durch. Drüberweg aber sah man wieder Gärten und zwischen Bäumen den anderen Hang hinauf einen Teil der Stadt.
Aber Walter dachte wieder an das Feuerwerk, kletterte flugs wieder 'runter und rief Onkel zu:
»Onkel, komm! Sie fangen sonst an.«
Und nun gingen sie den Schloßweg vollends 'nauf und kamen durch ein altes, hohes Tor in den äußeren Schloßhof. Das war ein holprig gepflasterter, von hohem, ganz altem Mauerwerk umstandener, kleiner Platz. Links vorn war ein mächtiges Gebäude mit zwei alten Linden davor, die von Bienen summten. Das Summen ging in der tiefen Stille über den ganzen Platz. Daneben war das Tor, das in den großen, inneren Schloßhof und zu der uralten, romanischen Schloßkirche führte.
Aber sie gingen da nicht hinein, sondern geradeaus über den Platz weg und dann durch einen dunklen, feuchtlichen Torgang, traten auf eine Brücke hinaus und überschritten den Wallgraben gegen das Vordorf hin.
Bevor sie ganz hinaustraten, taten sie noch einen Blick in den Wallgraben. Aber hier waren keine Gärten, sondern bloß Geröll und eine üppige Wildnis von hohem Gras und Kräutern, und wieder viele, viele, hohe dicke, dunkelgrüne Hollunderbüsche mit hunderten von flachen, weißen Blütendolden, die aus dem Dunkel da unten hervorglommen.
Dann stiegen sie den mit graugrünem, kurzem, filzigem Rasen bewachsenen Hang zu der obersten Vordorfgasse 'nauf. Links neben der Gassenecke ging der Hang noch ein gut Stück höher 'nauf; und dort stand abseits das große, weißgetünchte Haus der Schäferei, die zur Schloßdomäne gehörte, mit seinen alten Bäumen, die über das braunrote Ziegeldach ragten. Hoch über dem Schloß aber stand die große, goldene Vollmondscheibe.
Es war jetzt schon so dämmerig, daß man den Mondschein deutlich sehen konnte und den feinen Schatten, den die Ecke der Gasse auf den Hang legte.
Sie klommen zur Gasse 'nauf und gingen dann an der Reihe der kleinen, buntgetünchten Häuser hin, die sich lang bis zu den Bergen hinzog. Unter ihnen aber stieg das übrige Dorf zwischen Bäumen und Gärten tief ins Tal hinab. Hunde bellten in den kleinen Höfen, und die Stare sangen. Fledermäuse fingen an zu fliegen. Die letzten Schwalben strichen umher. Jetzt konnten sie aus der Ferne vom Tal 'rauf auch die Musik hören. Noch undeutlich: aber man konnte sie doch hören, und Walter drängte Onkel, daß sie schneller zuschritten.
Auf manchen von den Dachfirsten unter ihnen konnten sie noch den kleinen Wodanreiter aus rotem Ton sehen. Denn solche Wodanreiter gab es damals noch auf den Häusern hier draußen, und auch noch auf manchem in der Stadt. Heute sind sie alle fort, denn die Leute glauben an so was nicht mehr.
Jetzt hatten sie oben das Ende der Häuserreihe erreicht. Mit einem Staket, das sich wie ein feiner, schwarzer Schattenriß im Mondglast in das freie Berggelande hineinschob, endete sie.
Hier vorn, nah beim Dorf, waren die Berge frei. Es waren Kalkberge mit einem grauen, filzigen Angerrasenwuchs und kleinen, wilden, roten Nelken, kurzem, gelbblühendem Steinklee und bunten Wolfsmilchstäudchen dazwischen; auch Disteln wuchsen hier und da. Weit den Hang hinab zog sich eine Kirschenpflanzung.
Walter wußte schon, daß sie jetzt erst mal zum Öbster gingen. Doch fragte er besorgt:
»Onkel, haben wir auch noch Zeit?«
»Noch Zeit, noch Zeit, Männchen!« beruhigte Onkel.
Als sie noch ein Stück gegangen waren, sahen sie zwischen den Kirschbäumen die Bretterbude des Öbsters; und schon kam mit lautem, munterem Gekläff ein schlohweißes Spitzchen im Mondschein gegen sie her. Das war Meister Bornemanns Spitz und getreuer Wächter.
»Na, was denn, altes Spitzchen! Kennste mich denn nicht mehr?« sagte Onkel, indem er sich gegen Spitz niederbückte, der, als er ihn erkannte, zutraulich wurde und sich, mit dem buschigen Schweif wedelnd, streicheln ließ. Und dann sprang er davon und rannte, sich manchmal nach den Beiden umsehend, lustig kläffend vor ihnen her.
Und nun waren sie bei der Bude. An ihr hin standen braune und graue Weidenkörbe, in die die Kirschen getan wurden. An ihrer Längswand hin aber, die gegen das Tal hin stand, war auf vier eingerammten Pfählen ein langes, breites Brett genagelt, das der Tisch war; und, auf jeder Seite des Tisches waren noch zwei Sitzbänke, gleichfalls auf Pfähle genagelte Bretter. Hier konnte man sitzen und im Freien Kirschen essen.
Vorn, am Ende der Bank, die dicht an der Bude stand, und in der Nähe der Tür, saß, seine blauleinene Schürze vor, zum Feierabend Meister Bornemann, rauchte seine Halbpfeife und lauschte, feiernd die Arme untergeschlagen, der Musik, die, weil hier oben der Wind ging, mit zerrissenen Tönen leise, manchmal etwas lauter, unten vom Tal und vom Schützengarten heraufkam.
Als er die Beiden daher- und, Spitz voran, auf die Bude zukommen sah, wandte Meister Bornemann langsam, behaglich ihnen das Gesicht zu. Er hatte ein wetterbraunes, furchiges Gesicht mit buschigen, grauen Brauen und einer zausigen, grauen »Maurerfreese« unterm Kinn weg. Und eine verschossene, grüne Schirmmütze hatte er auf.
Er zuckelte ein bißchen an der Mütze, lachte höflich und rief mit seiner hellen Stimme, die wie die eines Schäfers und von jemand war, der immer an der frischen Luft ist, Onkel entgegen:
»Guten Abend, Herr Aktuar! Wollen Sie sich mit dem jungen Mann das Feuerwerk ansehen?«
»Das Feuerwerk, ja, Meister Bornemann! ... Auch schon mal wieder! ... Die Zeit geht so dahin. Guten Abend!«
»Hahahaha! Ju, ju, ju, geht hin, geht hin! ... Guten Abend, Herr Aktuar!« antwortete Meister Bornemann und reichte Onkel seine breite, braune, schwielige Hand hin, auf der dicke, dunkle Haare standen, und die dicke, harte Mausmuskeln hatte.
»Ja, da wären wir wieder mal, und Sie sind auch wieder hier oben!« sagte Onkel, indem er sich Meister Bornemann gegenüber niederließ. »Aber viel Zeit werden wir wohl nicht mehr haben bis zum Feuerwerk hin, wie?« Onkel zog die Taschenuhr und sah nach der Zeit.
»Na, zu 'nem Schnäpschen langt's noch!« sagte der Meister, der immer auch so zwei, drei Flaschen mit Schnaps und Likör bereit hatte, wenn mal wer von seinen Gästen zu seinen Kirschen auch noch ein Schnäpschen wollte. »Ein Ingwerchen?«
»Na ja, bringen Sie mir 'n Ingwerchen!« sagte Onkel. »Und für den Sohnemann hier einen Teller... Nein, eine Düte – er kann sie sich dann mitnehmen – eine Düte Kirschen ... Knackkirschen, nicht wahr? ... Magst du Knackkirschen?« wandte er sich an Walter und lachte.
»Oh!« rief Walter, sah Onkel an und legte beide Hände auf die Brust.
Jetzt sah auch der Meister Walter an, nickte ihm zu und lachte. Dann aber legte er beide Hände flach auf den Tisch, stützte sich, die Ellbogen steif und eckig zur Seite gereckt, auf, erhob sich schwerfällig, die Pfeife im Mund, und ging langsam zur Tür, die offenstand, in die Bude 'nein.
Auch Walter stand auf und ging, um Spitz herum, der in sich zusammengekringelt vor seinen Füßen am vordersten Bankpfahl lag und behaglich vor sich hin zwinkerte, schnell an die offene Tür, um einen Blick in die Bude zu tun.
Es war dunkel da drin, aber doch vom Mond, der durch ein paar Luken mit Glasfensterchen hereinschien, hell genug, daß Walter im Hintergrunde ein grob aus Brettern gezimmertes Bettgestell mit einem dicken, rot und weiß gewürfelten Deckbett drauf erkennen konnte, einen kleinen Tisch, auf dem noch ein Teller, eine braunirdene Kaffeekanne, eine Tasse und eine Hornlaterne standen, die aber nicht brannte. Der übrige, größere Teil der Bude stand voller Körbe und Kiepen, die mit Kirschen angefüllt waren, und an der Wand hing ein Gewehr, mit dem Meister Bornemann manchmal zwischen die Spatzen und Stare schoß, wenn sie sich über die Kirschen hermachten.
Meister Bornemann langte zu einem kleinen Bretterverschlag 'nauf, von dem er eine Flasche und ein Schnapsgläschen 'runternahm, die er derweilen auf den Tisch stellte. Dann nahm er ein groß Stück Zeitungspapier, drehte es zu einer langen Düte zusammen, wandte sich zu einem der Kirschkörbe herum und füllte die Düte mit Kirschen. Als sie voll war, tat er noch eine tüchtige Handvoll zu, und dann sagte er:
»Na, hier, da lang' zu, Kerlchen!«
Walter griff mit beiden Händen eifrig zu und ging Meister Bornemann vorauf mit der Düte schnell wieder zu seinem Sitz hin, während Meister Bornemann ihm, die Pfeife im Mund, mit der Flasche und dem Gläschen langsam folgte. Er setzte das Gläschen, das zwischen seinen mächtigen, braunen, hornigen Fingern ganz winzig klein war, mit einem kurzen Stupps vor Onkel hin und schenkte es ihm behutsam voll.
»Na, wohl bekomm's, Herr Aktuar!« sagte er dann; worauf er sich unter einem kleinen Ächzer, wie vorhin die flachen Hände auf den Tisch gestemmt und die Ellbogen steif und eckig zur Seite gereckt, langsam, schwerfällig wieder niederließ.
»Da, Onkel!« sagte Walter, indem er Onkel die Düte hinhielt.
»Na!« sagte Onkel und griff eine kleine Handvoll heraus. »So!« ... Behalt' das andere nur, Sohnemann!
Walter nahm die Düte zurück und fing an zu schmausen.
»Und wie sind Sie mit der Ernte zufrieden, Meister Bornemann?«
»Nu', alles was recht ist, wir können uns dies Jahr nicht beklagen ... Wir haben hier ja 'ne gute Kirschgegend: aber so gut wie dies Jahr is die Ernte lange nicht gewesen, das is wahr«, antwortete der Meister bedächtig, die Brauen hochgezogen, aus seiner Pfeife tüchtige Rauchwolken paffend und vor sich hin auf die Berge drüben auf der anderen Seite des Tales starrend.
Onkel merkte schon, daß er noch was Besonderes auf dem Herzen hatte, und wartete.
Gleich darauf fing der Meister denn auch schon an von einem Prozeß zu sprechen, in den er mit seinem Nachbar drin im Vordorf verwickelt war, und über den Onkel ihm einen guten Rat erteilen sollte. Darüber sprachen sie dann noch eine Weile miteinander.
Walter aß derweile seine Kirschen und ließ dabei die Blicke über den Berg hin gehen. Es war jetzt schon recht dunkel, nur der Mond schien. Oben war weit, weit der helle Nachthimmel, an dem schon ein paar große Sommersterne funkelten. Weiter oben, ein gut Stück ab, stand still und schwarz der Fichtenwald. Der Wind ging jetzt stärker und rauschte, raschelte und winselte gruslich gemütlich in dem Laub der vielen Kirschbaume den Hang hinab. Unten im Tal sah er im Mondschein weiß zwischen ihren dunklen Bäumen, einsam, draußen die alte Klostermühle. Weiter nach rechts aber, unten, jenseits des Baches, am Eingang des Tales, sah er den großen Schützengarten, wo's das Feuerwerk geben sollte.
»Na, da wollen wir nur unsere Zeche glattmachen, der Sohnemann spannt sich auf sein Feuerwerk und wird mir ungeduldig, gelt'?« lachte Onkel und zog sein Portemonnaie hervor.
Die Zeche war auch danach. Ganze fünfzehn Pfennige. Zehn für die mächtige Düte Kirschen und fünf für das Ingwerchen. »Na, schön'n Dank auch, Herr Aktuar! Besonders für den Rat! ... Wenn ich Ihnen mal wieder 'n Gefallen tun kann: Sie wissen ...«, sagte Meister Bornemann unter einem Seufzer, der sich auf den Verdruß bezog, den er mit dem Prozeß hatte. Dann wischte er mit seiner mächtigen Hand, die er hohlgekrümmt hatte, die fünfzehn Pfennige über den Tisch her zu sich 'nüber.
Nachdem sie noch ein paar Worte zum Abschied miteinander gesprochen hatten, brach Onkel, der schnell noch sein Gläschen ausgetrunken hatte, mit Walter auf.
Etwas geschwinder jetzt gingen sie zwischen den Kirschbäumen quer nach rechts die Bergflanke 'nunter. Etwas weiter unten sahen sie viele schwarze Gestalten auf dem Berghang hocken, und auch oben, auf der Bergkante, standen viele Leute, die sich in schwarzen Gruppen vom hellen Nachthimmel abhoben, da oder gingen hin und her und lachten und erzählten sich was, daß man im Wind ihre Stimmen hören konnte. Und alle warteten auf das Feuerwerk.
Onkel ging mit Walter noch sin gut Stück weiter 'nunter, und dann setzten auch sie sich nebeneinander auf dem Bergrasen nieder.
»Du wirst dich mir doch nicht erkalten, Sohn?« sagte Onkel, der in so etwas ängstlich war.
»Och!« rief Walter zuversichtlich.
»Na, na, na! Der Wind geht! Und die Nachtkühle kommt! ... Schlag' lieber den Kragen in die Höhe; ich bin deinen lieben Eltern für deine Gesundheit verantwortlich, weißt du?«
»Och, es ist ja ganz warm!« wehrte Walter ab, der jetzt nur auf das Feuerwerk spannte.
All die Menschen, die da schwarz neben ihnen die Bergflanke hinauf und herunter dahockten, waren ganz still; nur ab und zu hörte man mal eine Stimme oder eine kleine Unterhaltung. Alle sahen zum Schützengarten ins Tal 'nunter und warteten, daß das Feuerwerk anfangen sollte, und hörten der Musik zu.
Walters Blick fiel auf ein kleines, dickes Mauerviereck unten am Fuß des Berges, das sich lichtgrau im Mondglast aus dem graugrünen Rasen abhob. Das war ein Brunnen, der schon neunhundert Jahre alt war, und den der Heilige, der damals oben auf dem alten Burgschloß lebte, mit seinem Stab aus dem Kalkstein hervorgeschlagen hatte. Der Heilige hatte auch das Kloster gegründet, das in früheren Zeiten eine Strecke weiter ab im Tal gestanden hatte. Ein Stück vom Brunnen ab, noch etwas tiefer, kam zwischen Bäumen und Büschen der Bach aus dem Tal 'raus und ging unterm Vordorf zur Stadt hin. Jenseits des Baches war der Weg, der ins Tal hineinführte, und auf der anderen Seite des Weges stand, einen Hang hinauf, in seinen Baummassen das Schützenhaus.
Das Geplauder zwischen den schwarzen Gestalten war jetzt so gut wie ganz verstummt, denn jeden Augenblick mußte das Feuerwerk anfangen. Man hörte bloß den Wind, der über den Berg hin wehte, daß es war, als trüge er den taghellen Mondglast in langen, seinen, witternden Silberstreifen vor sich her, und von unten 'rauf die Musik. Aber man konnte nicht verstehen, was gespielt wurde. Man hörte bloß immer Töne, die manchmal leise, manchmal lauter waren, dann mit einemmal ganz laut anschwollen und dann wieder leise wurden. Das klang ganz wunderlich und feierlich. Es war wie eine große, mächtige Aeolsharfe.
Und da, mit einemmal, sauste es mit einem scharfen Zischen, das man bis hier oben herüber hören konnte, mitten aus diesem feierlichen, auf und ab wogenden Getön und den hohen, stillen, starren, schwarzen Baummassen, steil schräg rotgoldgelb in die Höhe, und hoch, hoch und immer höher und ganz, ganz hoch mitten in den mondhellen Nachthimmel und die stillen, funkelnden Sterne hinein, und platzte hoch, hoch da oben, so hoch, daß es einem schwindlig wurde, wie man so hinsah, und zerstob in einen Regen von langen, nach unten zu kolbigen rotgelben, mächtigen Lichttropfen, die langsam ein Stück niedergingen, bis sie mit einemmal erloschen.
Walter war ein bißchen mit dem Kopf zurückgezuckt, sah aber mit weiten Augen drauf hin, bis die letzten Tropfen still, leise, feierlich erloschen waren.
Das war die erste Rakete. Alle, die dahockten, ließen wie aus einem Mund ein lautes »Ah!« erschallen. Walter aber blieb ganz still.
»Das war eine schöne, gelt'?« lachte Onkel.
Aber Walter konnte bloß leise nicken. Regungslos wartete er und starrte hinüber.
Und da fuhr auch schon die zweite in die Höhe, und bald darauf die dritte, und so nach und nach sechs. Die Musik war jetzt verstummt.
Ach, es war herrlich! Aber Walter achtete darauf, wie jedesmal, wenn eine von den Raketen erloschen war, immer nur hoch oben, ruhig still, feierlich fern der Nachthimmel stand mit den ruhigen, stillen, hohen, feierlichen Sternen drin. Einmal aber, als ihm gerade der Mond einfiel, wandte er sich um und blickte nach oben den Berg 'nauf. Und da sah er ihn groß, rund, mächtig, still, gleißend gerade über den kleinen Häusern des Vordorfs stehen. Man konnte in seinem Licht bei manchen die helle weiße, lichtrote, hellblaue oder graublaue Tünche erkennen. Wie klein sie waren! Der Mond darüber nahm sich aus wie ein riesiger, goldgleißender Luftballon.
Aber da fing mit einemmal unten wieder die Musik an. Und wieder war das sonderbare, auf und ab und hin und her wogende, feierliche Getön, das wie eine große, mächtige Aeolsharfe war. Und mit einemmal flogen zu gleicher Zeit in krummen Bogen, nicht so hoch wie die Raketen, ein Stück über die schwarzen, stillen Baummassen empor, sechs bunte Leuchtkugeln, die dann oben im Sternhimmel in viele, wunderbar bunte Funken zerplatzten.
Hei, und dann ging's erst los! Bald schossen goldfunken-sprühend große Feuerräder auf und drehten sich im Kreise herum; dann mit mächtigen, hohen Funkengarben ein Feuerregen, aus dem wieder bunte Leuchtkugeln in die Höhe gingen. Manchmal drehten sich ein paar Feuerräder nebeneinander. Dann kamen wieder bunte Leuchtkugeln. Zuletzt aber spielte die Musik »Heil dir im Siegerkranz!«, was man diesmal, weil ganz laut gespielt wurde, deutlich hören konnte, und es wurde ein großes, goldenes W mit einer Krone drüber abgebrannt, außerdem noch auf jeder Seite ein Goldregen, aus dem wieder Leuchtkugeln in die Höhe schössen. Dann aber war's eine Weile still. Und danach gingen, nachdem wieder die Musik eingesetzt hatte, noch sechs Raketen in die Luft, und dann war es aus.
Es war jetzt nur noch der Nachthimmel mit seinen Sternen da, unten die stillen, schwarzen Baummassen im Tal, und links drüben im Mondglast die Berge mit dem schwarzen Wald oben. Alles war still. Und es war, als ob es mit einemmal kühler geworden wäre. Der Wind ging lauter.
Der Mond überm Vordorf war jetzt ein Stück höher gestiegen. Die vielen schwarzen Gestalten, die dagekauert hatten, standen jetzt überall auf, was ganz sonderbar aussah, und stiegen in dunklen Haufen langsam den Berg gegen das Vordorf 'nauf. Sie sprachen jetzt miteinander. Aber nicht sehr laut. Manchmal hörte man hier und da ein Lachen. Ein Mädchen mittendrin lachte mit einem Mal so laut, daß sie ordentlich kreischte. Und dann lachten auch, ganz laut, ein paar Bursche, und einer jodelte »Juhu!«
Auch Onkel und Walter stiegen, etwas abseits von den anderen, wieder den Berg 'nauf dem Vordorf zu.
»Ist dir auch nicht kalt, Walter? Mach' lieber den Kragen hoch, hörst du?« mahnte der Onkel.
Walter, der noch kein Wort gesagt hatte und immer nur noch an das Feuerwerk dachte, und auch daran, wie sonderbar es war, daß mit einemmal die Musik nicht mehr spielte und alles wieder still und dunkel und vorbei war, zitterte ein bißchen, als ob er fröre. Aber er sagte:
»Ach nein, ich friere gar nicht.«
»Na? Du?«
»Nein, wirklich nicht, Onkel.«
Und er fror auch gar nicht; es war bloß, weil er noch alles vor sich sah, und weil er so viele Gedanken hatte.
Als sie wieder oben auf dem Berge waren, tat Walter noch einen Blick zu Meister Bornemanns Bude hin, die man fern im hellen Mondschein noch sehen konnte. Deutlich hörte er im Winde auch Spitz bellen. Eigentlich aber heulte er wohl. Vielleicht heulte er den Mond an.
»Onkel, hör' mal Spitz!« wandte Walter sich an Onkel. »Du, vielleicht heult er gar nicht, sondern singt, weil der Mond ihm gefällt?«
»Sieh mal, was du für schnak'sche Einfälle hast!« sagte Onkel und lachte. »Nun, wer weiß? Vielleicht singt er wirklich? Denn warum verkriecht er sich nicht, wenn der Mond ihm unangenehm wäre?«
Als sie endlich wieder oben die Dorfgasse hingingen, fing Walter an zu erzählen und zu fragen. Er war dabei so eifrig, daß er gar nicht auf den Weg achtete und bloß immer so vorwärts stolperte. Onkel antwortete ihm geduldig auf alles.
Schließlich aber sagte Walter, nachdem er eine Weile still gewesen war und bloß immer so zum Himmel 'naufgesehen hatte:
»Onkel, was ist schöner: das Feuerwerk oder die Sterne?« Ohne Onkels Antwort aber abzuwarten, fuhr er fort: »Du!
Jedesmal, wenn eine Rakete oder eine Leuchtkugel oder ein Goldregen in die Höhe fuhr, waren der Himmel und die Sterne immer ganz blaß und als ob sie gar nicht mehr da waren; aber wenn's dann vorbei war, dann waren doch jedesmal oben noch der Himmel und die Sterne ... Au, so sein, so sein! Wie ganz seine Diamantfunken! Nicht?«
»Sieh mal! Was du da für Gedanken hast, Sohn!« sagte Onkel und sein Gesicht war ernst und nachdenklich. Wenn er für gewöhnlich auch gern so sein Späßchen machte, war er doch manchmal so ernst und nachdenklich, und dann hatte Walter ihn jedesmal besonders gern.
»Ja, ja! So pufft und prasselt das Werk der Menschen in den Himmel hinein, als ob er gar nicht mehr da wäre, und verpufft und verprasselt, so groß und herrlich es ist; denn es ist ja gewiß groß und herrlich. Aber ruhig und unverrückt stehen drüber immer noch die schönen, stillen Sterne ... Aber, da! Sieh mal! Sieh!« unterbrach er sich plötzlich, blieb stehen, wies mit der hurtig ausgestreckten Hand gegen den Himmel hinan und lachte. »Es scheint, auch da oben machen sie Feuerwerk! Schnell! Sieh!«
Sie waren beim Ausgang der Gasse angelangt und hatten vor sich wieder, geisterhaft im Mondschein, die dunklen Massen des Schloßreviers mit seinen drei mächtigen alten Türmen. Gerade über dem Schlosse aber bewegte sich oben am klaren Mondhimmel hin in einem schönen Bogen eine große, weiße Kugel mit einem langen, weißleuchtenden Schweif. Der Schweif aber zackte sich in seiner Mitte mit einem Mal wie ein Blitz, oder mehr so schraubenzieherartig; es war, als wenn von der Stelle sich ein paar seine, bunte Lichtwölkchen ablösten. Und plötzlich war alles wieder weg, wie ein Hauch ...