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Die bei weitem hervorragendste, wirkungsvollste und uns alle begeisternde Lehrkraft des herrlichen Stralsunder Klostergymnasiums war der damals etwa sechzigjährige Konrektor »Leupold« Freese, genannt Poseidon. Ein schöner, feingeschnittener Gemmenkopf vom Habitus eines römischen Senators; glattrasiertes, etwas welkes Gesicht mit schlaffen, leicht beim eifrigen Sprechen sich blähenden, bläulichen Wangen (daher und von seinem imponierenden Griechentum überhaupt der Name Poseidon!), mit schmalen Lippen, aristokratisch glattgescheiteltem, noch dunklem Haar und überaus innigen, blauen, lustigen Schalksaugen. Dieser unvergeßliche Mann war von einer in unserer Erinnerung und wachsenden Reife von Jahr zu Jahr immer höher bewerteten Gediegenheit und Universalität des Denkens und hat alle seine Schüler auf das lebendigste und nachhaltigste beeinflußt. Das klassische Altertum spann er uns so tief in die jungen Herzen, daß keiner von uns ehemaligen Stralsunder Gymnasiasten jemals begreifen wird, wie man von Bildung ohne intensive Kenntnis des Griechentums überhaupt sprechen kann. Freilich lebte dieser unser allgeliebter Lehrer, von dem nicht Schnurren zu erzählen oder nicht gemeinsam zu schwärmen von zweien sich zufällig nach Dezennien treffenden Stralsundern einfach eine Unmöglichkeit war, – dieser Herrliche, Gute lebte freilich so absolut im Banne jener klassischen Zeiten, daß er sicherlich in Athen oder in Rom besser Bescheid wußte als in Stralsund, was er einmal mit äußerster Naivität bekundete. In einer sogenannten Arbeitsfreistunde, in welcher »Allgemeines« besprochen werden sollte, baten wir ihn, er möchte uns doch etwas von der Belagerung Stralsunds durch Wallenstein erzählen. Darauf sagte er mit tiefbekümmertem Gesicht in seinem singenden vorpommerschen Halbplatt: »Oach – meine Lieben, – je! – Das weiß ich nich, das is nach meiner Zeit!« Ach! diese gemütliche, etwas maulfaule, behäbige, drollige Mundart, deren er sich ganz leger bediente, noch dazu meist ohne jede korrekte grammatikalische Satzbildung; eine ganz schnelle, abrupte Gedankenhackerei, fast ein Versuch zu einer Stenographie der Sprache mit meist fortgelassenem Prädikat; Subjekt und Objekt blitzartig nebeneinander gepackt mußten genügen. Meist sprach er mit uns plattdeutsch, und ich kann noch ganze Homerszenen in seiner Art vorpommerisch rezitieren: »Je, de oll'n Griechen de seggten nich, Ajax dat wir'n grotmächtigen Held, de stünn in de Schlacht as wi'n Boom, nee, de Homer de mockt anner Vergleiche, de wi as Beleidigung upfaten würr'n. Ajax stünn, seggt Homer, as en Esel, de den Barg vollbepackt rupkrupen sall. Em kümmern de Schläg' nich, de rechts un links up em runnerprasseln.« Und so zahllose Szenen. Plattdeutsch war in Stralsund um jene Zeit noch die allgemein gesellschaftliche Umgangssprache, auch in den besten Kreisen. Wir untereinander sprachen fast nur platt. Einmal aber mußte Freese schon zu einem festlichen Hochdeutsch greifen, das dann amüsant genug ausfiel. Es ist schwierig, diese Sprache schriftlich zu fixieren in ihrer Absonderlichkeit, in dem Ziehen der Worte in singendem Ton. Es ist kaum möglich, die vielen »Je!« und »Ooch!« anders als mündlich, gleichsam schauspielerisch zu imitieren. Ich bin mir deshalb nicht sicher, ob es mir gelingen kann, die volle Komik dieses Idioms Nichtvorpommern oder Nichtmecklenburgern schwarz auf weiß anschaulich zu machen. Ich bitte also, bei den folgenden Erzählungen mir die Schwierigkeit, ein echtes Original redend hier einzuführen, zugute halten zu wollen. Sollten diese Anekdoten auch nur für Freese-Schwärmer und Vorpommern einigen Reiz haben, so wollte ich doch einmal im Leben diese nie vergessenen Folgen lieb gewordener Szenen, wenn auch schließlich nur für ihre wenigen noch lebenden Zeugen, dokumentarisch retten. Dieses Original hatte sich eine ihm ganz allein gehörige »Freese-Sprache« geschaffen, die schwer erlernbar war und studiert sein wollte. So kam er einst in die Klasse und sagte: »Je – mein lieber Teichen! Schwings Eltern haben mich – und da wollt' ich!« Als wir alle mit Teichen anfingen, über diese Satzbrocken zu lachen, sagte Freese ärgerlich: »Na denn nich. Denn nachher lassen Sie!« Ohne förmlichen Kommentar würden Uneingeweihte den Sinn dieser Sätze nie erfassen. Aber wir, jahrelang geschult, wußten genau, was er meinte. Das sollte heißen: »Teichen, Schwings Eltern haben mir mitgeteilt, daß ihr Sohn Nachhilfestunden im Griechischen haben solle, und da möchte ich Sie, Teichen, fragen, ob Sie bereit sind, gegen Bezahlung dieses Amt eines Nachhilfelehrers zu übernehmen!« Gewiß eine anständige Leistung einer mündlichen Kurzschrift. »Oll« Freese hat unsere moderne Sprachstenographie – wie A. E. G. – K. d. W. – M. d. R. – ganz richtig vorausgeahnt. Das klassische Beispiel seiner (anakoluthen) prädikatlosen Sprechweise war seine wirklich und wahrhaftig in Stralsund gehaltene Abiturienten-Entlassungsrede, welche ich fast wörtlich wiedergeben kann – einen so tiefen Eindruck hat sie auf mich gemacht. Er ist nur ein einzig Mal zu diesem gleichsam öffentlichen Auftreten gekommen, aber die Stralsunder sprachen noch jahrelang von diesem großen Ereignis! Nämlich der Direktor der Anstalt, dem die Pflicht obgelegen hätte, uns in einer besonderen Aulafeier, die öffentlich war, zu entlassen, war erkrankt und Freese von ihm beauftragt worden, statt seiner die Ansprache an die »Muli und das Volk« zu halten. Wie ein Lauffeuer ging diese Nachricht durch die Stadt. Alle Honoratioren und Bürger derselben hatten ja unzählige Schnurren von dem lieben alten Sonderling gehört. Ihn amtieren zu sehen, das konnte sich niemand entgehen lassen, und so war denn am Morgen des Festtages die Aula gefüllt mit den bekanntesten Persönlichkeiten, den Offizieren, Ratsherren, Kaufherren und Reedern der Stadt mit ihren festlich geschmückten Damen.
Da ließ sich »Oll-Frees« also vernehmen:
»Je! Meine Lieben! De Härr Direkter is krank. Nich slimm, äwerst ornd'lich. Na, und so sall ik nu. Je. Das is ja woll so. Denn nachher muß ich ja woll. Die Entlassungsrede. Die jungen Leute! Och! frei! (Mit gehobener, komisch skandierter Deklamation:) ›Dahin des Schulstaubs schlimme Pein!‹; Hinaus! Je, das Studium. Der Beruf. Die Wahl. Vater, Mutter, Freunde raten. Klugsnackers gibt's immer. Meinen häzlichen Glückwunsch! – Je, da seh' ich welche, die wollen Philologie. Wie sagte Goethe? ›Neue Sprache, neues Leben!‹; Auch Englisch und Französisch. Och, vergessen Sie nich das Klassische, das Fundament. Es kommt die Sehnsucht. Vergessen Sie nich Ihren alten Freese! Lernen Sie, später lehren Sie! Meinen häzlichen Glückwunsch!
Je, da seh ich welche, de wollen Jurisprudenz. Je. Das ist der Staat. Der grüne Tisch. Der Herr Landrat. Die Waage der Gerechtigkeit. Sie wissen: blinde Justitia. Halbblind: Mitleid, Strenge! Je, der Paragraph. Pflicht und Gewissen. Die Menschenseele. Wie sagt Goethe? ›Es gibt kein Verbrechen, als dessen Urheber ich mich nicht denken könnte!‹; Denken Sie auch daran bisweilen, wenn schwere Strafen! Referendar, Assessor, Präsident. Meinen häzlichen Glückwunsch!
Ach! Da seh' ich welche, die wollen Medizin. Je, die Naturwissenschaft. Die Welt vom Kleinsten. Das Mikroskop. Wie sieht die Welt lütt aus! Ganz lütting – lütt. Je, das is das Geheimnis des Kleinen. Große Bedeutung. Volkswohl. Heilung, Mitgefühl. Wie sagt Virchow? ›Die Medizin involviert den Begriff des Heilens! ‹; Je, das is schön. Ich habe keine Sorge. Meinen häzlichen Glückwunsch!
Je. Zwei wollen Mathematiker. Na nu? Je, Absonderlich. Das Skelett der Dinge! Wo ist das Individuum? Alles Typizität. Abstrakt. Aber geistreich. Meinen häzlichen Glückwunsch!
Je, da seh ich welche, die wollen – Theologie – – – ach! Du lieber Gott! (Alles platzte heraus!) Je, lachen Sie nicht, die Stunde, sie kommt, der Zweifel, der Rabe hackt ins Genick, bohrt, beißt, man weiß nicht aus noch ein; die Welt, das Schlechte scheinbar belohnt, das Gute an die Wand gedrückt, der Brave übersehen! Spott! Kein Glaube. Kanzel. Vergebliche Sonntagspredigt: einer schläft; je, es ist schmärzlich! Oh, lachen Sie nicht, die Stunde kommt, es is furchtbar, die Qual, das liebe Brot; weiß nich aus noch ein. Martyrium! Mein häzliches Beileid!«
So gehalten in Stralsund um 1880. Zahlreiche Zeugen werden es bestätigen. Wer diese gewiß einzigartige Rede aufmerksam liest, wird sehen, wieviel Assoziationen von Herzlichkeit, Menschenliebe und tiefer Weltkenntnis hier herausgesprudelt wurden von einem Manne, dessen Naivität so ursprünglich war, daß ihm folgendes passieren konnte. Er rief mitten in die Demosthenesstunde: »Och! mein lieber Wegely! Was lachen Sie da so?« »Ach, entschuldigen Sie, Herr Professor, mir tat eben das rechte Bein so weh!« Darauf Freese steinernst: »Na, dann ist das was anderes!«
Alle zwei Semester bei der Versetzung in ein neues Klassenlokal ereignete sich folgendes: von Tigerström, ein Schüler von unnatürlicher Körperlänge, saß regelmäßig auf der dritten Bank in einer Reihe hinter mir. Ich selbst unverdientermaßen auf der ersten Bank. Programmgemäß alle Jahre in der ersten Stunde bei Freese streckte ich beide Beine weit vor in den geheiligten Wandelraum der Lehrer zwischen erster Bank und dem Katheder. Freese kam, sah meine Pedale und winkte mit gutmütig-schelmischem Zeigefinger gegen meine Beine, was: »Weg da!« heißen sollte. Ich erstaunte heuchelnd, beugte den Oberkörper neugierig vor, ohne die Beine im geringsten zu rühren. »Wie meinen Herr Professor?« »Oh! weg da! Die Füße!« »Ich verstehe immer noch nicht!« »Oh, mein Lieber, Ihre Beine!« »Ach so! Ja, das wird wohl Tigerström sein! Ach! bitte, Tigerström! nimm doch deine Beine zurück!« Während ich nun die Beine mit steifem Kreuz zurückzog, machte Tigerström die entsprechende Ruderbewegung des Oberleibs. Freese merkte das nie, sondern hielt eine längere Rede. »Je, das Wachstum! Die Knochen, aber nicht die Lungen und das Herz. Da kommt Nasenbluten, Siechtum. Och! Nehmen's sich in acht, lieber Tigerström!« Dieselbe Szene ließen wir Rüpels sich alle Jahre ein paarmal abspielen. Freese war ein rührend gütiger Mensch, der seine Schüler innigst liebte. Trotzdem wir ihn neckten – Jugend ist nun einmal spatzenrupferisch grausam –, hingen wir schwärmerisch an ihm.
Für gewöhnlich herrschte bei ihm ein aus der Zwischenpause in die Unterrichtsstunde frei übernommenes allgemeines, meist plattdeutsches Gebrabbel. Ein summender, ungeniert brummiger Lärm. Das nahm er gemütlich hin und begann: »Na, heute haben wir unseren geliebten Demosthenes! Na, fangen Sie an, mein lieber Wegely! Ich übersetze vorweg. Hören Sie! ›Als Philipp sah, daß, obwohl die Lazedämonier, trotzdem indessen die Truppen, weil immerhin, obgleich eine Umgehung der Truppen, welche wenn – schon Philipp, belehrt durch eine Erfahrung, die‹;« – – wir fingen an zu lachen.
Da wurde er aber ärgerlich. »Na, dann lassen Sie. (Stampfend!) Der arme Lehrer will – und kann nicht! Je! Die Einschachtelungen, die vielen Gen. abs. (absolute Genitive = griechische Konstruktionsform), es ist zu schwer, na! dann woll'n wir noch einmal. ›Als Philipp usw.‹;«
Für gewöhnlich also war es immer laut bei seinem Eintritt. Einmal hatten wir uns aber vorgenommen, mit Freese zu schmollen. Wir glaubten, ihm etwas vorwerfen zu können. Also auf allgemeinen Klassenbeschluß: tiefste, peinlichste Stille im Klassenzimmer. Das war ihm äußerst auffallend. Er stutzte sofort beim Hereintreten. »Och, was haben Sie?« Er wurde beinahe blaß und aufgeregt, es war ihm überaus ungemütlich. Er versuchte mit uns zu scherzen. »Na, schlecht präpariert, Wegely? Noch unterm Tisch ein bißchen Nachhilfe? Na macht nichts. Nur Mut. Unser lieber Demosthenes. Fangen Sie an! (Die Stille nützend.) – – Och! was haben Sie, was ist? Na dann – ach, Primus! – was soll – was is? – – reden Sie!« Da legte der los! »Herr Professor! Sie haben Carl Kröger, bloß weil er aus dem Haus vom Gastwirt Möller herauskam, beim Direktor angezeigt wegen verbotenem Restaurationsbesuch, und der ist bloß bei seinem Onkel gewesen.« »Och so! Je, aber der Onkel war doch schon vor acht Tagen abgereist?« »Na, jedenfalls hat Kröger nicht Bier getrunken. Ihn zu denunzieren –« »Och, das verbitt' ich mir. Das ist unverschämt – je, sehn Sie, Primus und junge Freunde! Der arme Lehrer: er muß, die Pflicht, der Eid, das Gewissen. Was soll er tun? Je, aber wenn Kröger nicht pokuliert un nich ›Poch, Poch‹; gespielt hat, je, denn nachher, denn is das was anners. Das will ich man gleich nachher dem Direktor berichten.« »Na, dann danken wir auch schön, lieber Herr Professor!« Sofort ging das gewohnte Gebrabbele und Geschwabbele los, und Freese dozierte vergnügt und sichtlich erleichtert unseren lieben Demosthenes.
So ulkig Freese war, er war ein Mensch von großer Tiefe und geradezu idealer Weltanschauung, der einen warmen, sonnigen und weisen Humor spielen lassen konnte. Wir lasen eine Anthologie griechischer Lyriker: auch Sappho und Anakreon kamen heran. Pindar nannte er einmal: »den alten Gleim«, den Kriegslied-Dichter Friedrichs des Großen. Solche modernen Parallelen liebte er sehr. Als wir Sapphische Oden lasen, fragten wir naiv genug, was sapphische Liebe sei. Er sagte: »Och, meine Lieben, es is eigentlich nichts für Primanerohren. Aber Sie werden später doch. Je, es is so: Der Grieche, die Sonne, die Glut, der blaue Himmel, das warme Meer, je! Das Nackte ist ganz was anderes as bi uns. Da kommen sie beim Baden – sie schmiegen sich, sie taxieren: Schultern, Hüften und so – je! und denn der böse Leumund! Oh, wenn Sie später mal was hören – glauben Sie's nicht – – es ist nichts Schlimmes, glauben Sie Ihrem alten Freese. Überhören Sie es. Lassen Sie die schmutzige Phantasie nicht in die Sinne. Sie wissen, – Phantasus, je! is der nich der dritte Diener des Hypnos, des Schlafgottes? Je! wer sind die beiden andern? Oh, hören Sie, wie sinnig die Griechen waren: Eikelos, der Bildner, je! der Gaukler, achten Sie. Gleichklang: Eikelos, Gaukelos, Gaukler – och! er greift gliksam Blumen, Spielkarten aus der schwarzen Nacht; je – und Phobetor, der Spinner der Furcht; och! Das ist der Alpdruck, der Angsttraum, der Vampir auf der Brust!« So lenkte er uns schnell von dem heiklen Thema ab.
Einst lasen wir Anakreon. Wir mußten ihm Übertragungen auf das Katheder hinaufreichen. »Haben Sie, mein lieber Schleich? Och, was seh' ich? In Reimen? Sieh, sieh! Och – nee – – nee, min Jung! Dat is nix! Je! warum haben die Griechen keine Reime? Auffällig, nich! Je, ich will's sagen. Reim is Echolalie, Nachahmung des Echos, Koselaute, Zärtlichkeit! Och! Sie wissen, Echo ist das Weib, das nie von selber spricht, aber, einmal angeredet, nie wieder aufhören kann. Je, das sind die witzigen, bißchen boshaften Griechen. Denken Sie, Aristophanes, Satire: Lysistrata, Vögel! Je! aber das Reimen ist Echoimitation. Die Griechen aber brauchten es nicht zu imitieren, hatten Originalecho, in den Bergen war Echo überall, populär. Reimen ist aber was Festtägliches, Außergewöhnliches; Balladengesang, feierlich, darum dichtet der Norddeutsche in Reimen. Wo kein Echo in Natur oder selten, da entsteht Reimdichtung. Na, Sie haben in Reimen: Anakreon. Ach, du lieber Gott! Je, mein lieber Schleich. Seien Sie nicht bekümmert. Sie werden noch von Atreus' Söhnen singen. Je! aber Liebe – is schwer! Och! Trösten Sie sich: es hatte auch jemand. Ein großer Dichter! Bitte, sehen Sie nach, Primus, daß uns ja kein Sekundaner hört, es ist nur für Primanerohren.« Es mußte wirklich jemand die Klassentür spaltweise öffnen. Wie im Theater. »Nein, Herr Professor! es ist niemand an der Tür!« »Na, dann will ich's sagen! Ein großer Dichter hat auch versucht, Anakreon: Die Zikade. Goethe!!« (Mit vorgehaltenen Händen, heimlich und verächtlich:) »Jämmerlich! Trösten Sie sich, mein lieber Schleich! Je. Ihre Reime! Auch jämmerlich!«
Ein andermal kam er auf Perikles. »Er hatte einen Zwiebelkopf, Schinoskephalos. Je! man sagt: Verbrecher! Unterschlagung. Je! das war so. Sie wissen: die Akropolis, das ist das Rathaus hier auf'm Markt. Da ist der Areopag. Das Landgericht. Och! Sie kennen den Archogeronten: das ist der Landgerichtsdirektor Prieschke, Sie wissen. Der Ekklasiast, Sie kennen ihn, den Staatsanwalt Neumann, och! ich seh' sie alle sitzen. Perikles ist angeklagt. ›Je‹;, segt der Staatsanwalt. ›Perikles! es ist erwiesen. Du hast in die Kasse gegriffen. Geklaut! Wie kommst du dazu? Was soll das?‹; Je, und Perikles sagt: ›Ein Augenblick.‹; Geht an die Dür und kümmt rein – mit Phryne! Ganz nackt und seggt gor nix, blot: ›Dat is min Geliebte: Phryne!‹; Und die Richter hebben em freisproken. Je, das gibt's bloß in Griechenland: die Sonne, das Licht, die Schönheit, nee, in Stralsund geiht dat nich. Dor kümmt hei in Kasten! Na, nu an die Arbeit!«
Ein andermal waren wir »in« Rom. Es handelte sich um die Komitienwahlen. Da ließ sich Freese völlig romanhaft also vernehmen. »Also – wir sind auf'n Kapitol, unseren Markt, dat Kapitol is unser Rathaus. Och – Sie kennen es! Da geiht Erischan Piepenborn un Hans Peter Kunz: – de gahn äwern Markt in Rom. Door seggt Hans Peter Kunz: ›Ja, min Jung! Wat sall nu warn'n? De Cäsar, de Kirl, steiht bi Anklam; de Mann is en Revolutschonnär, de is kumpabel un geiht äwer den Rubikon un Peene und bautz! kümmt hei dörch't Knieper Dur! (eins von Stralsunds schönen Stadttoren), und denn hebb'n wi de Bescherung!‹; ›Je‹;, seggt Piepenborn, ›wat geiht mi dat an?‹; ›Dat geiht di blots so veel an, dat di dat Kopp und Kragen kost, wenn du nich Cäsarn wählst in de Komitien!‹; ›Ne, dat dau ik likers nich! De Pompejussen, dat sind ne seine, adlige Familie; min Grotvadder wir Stallknecht bi Pompejussen, min Vadder wir Stallknecht bi Pompejussen, und ik bin ook Stallknecht bi unsen Pompejussen, und do wähl ick ok Pompejussen!‹; ›Je, denn dau du dat man. Nahstens kast seihn, wie du de Chausseestein up de Via Appia bei nah Griepswold kloppen kast!‹; ›So? uns Pompejussen wähl ik doch! Hätt hei mi nich twee Doktors schickt, as mine lütte Cäcilia krank lag: eenen Griechen und een oll'n Etrurier, se wir süß nich mihr. Un min Casus Sempronius Livonius (nich unsen Apothekersohn seinen Livonius) de wir ok nich mihr ohne Pompejussen. Ne! da lat ik nix up komen. Un nu go du man los naht Schützenhus, ik häw keen Tid mihr, un wähl du man! De Liktor (och! Sie kennen ihn alle: Herr Gendarm Naumann, dat is de Liktor) de steiht all dor mit de grote Zeddelbüchs. Un wenn du vor'n Knieper Dur Cäsarn dröppst: denn nachher grüß em man und segg em, hei soll man kommen: de oll Cassius an de Spitz un Brutus, de warr'n em woll Mores lehren. Von wegen Köpp aff un Chausseestein's!‹;«
So brachte er uns ein Bild aller wichtigen Staatsaktionen in Rom oder Athen bei. Wie oft haben wir mit ihm regelrecht »Ostrazismus« gespielt, d.h. wir mußten in der Aulavorhalle auf Bänken ringsum sitzen und das Scherbengericht gegen Aristides mit Spielmarken als eine richtige Theaterszene mit Pro- und Kontra-Reden aufführen. Mehrfach hielt er die Anklagerede gegen Sokrates als Verführer der Jugend, wobei einer von uns als völlig geknickter Sokrates auf dem Katheder sich von ihm andonnern lassen mußte. Er warf ihm dann, ganz modern, vor, daß er sich von Plato habe als Sprachorgan benutzen lassen, aber für die revolutionäre Stimmung in der aristokratischen Jugend Athens völlig verantwortlich sei!
Die griechischen Dramen analysierte er mit uns auf das tiefste und geistreichste, und nirgends habe ich die schönen Griechenchöre so tief als die Stimmen des Gewissens, der Seelenkämpfe und zugleich der öffentlichen Meinung auslegen gehört. Er sagte einmal: »Je! der Chor – das is, was man im stillen Kämmerlein denkt, wenn man Ödipus is, un zweitens: was sagt die Stralsunder Morgenzeitung zu der Affäre in Aulis! Das beides zusammen sagt der griechische Chor!« Solche Chöre führten wir im Gehschritt, er voran, mit Vor- und Rücktritt wie in einer Prozession, skandierend und im Text und Rhythmus des » Actis äelliu to kalliston« durch unsere schönen Klosterschulgänge ziehend auf, und in der gotischen Aulavorhalle brüllten wir laut und klagend die wundervoll tönenden, reich vokalisierten Verse!
Die Versmaße wurden uns durch praktische Chorübungen eingeprägt. Das heißt: er sprach die Trochäen, Jamben, Anapäste usw. uns vor, und wir skandierten sie unter seinem Dirigentenkartenstock ihm nach. Dazu erbat er von uns von Mal zu Mal das Mitbringen von klassisch schönen Versen, auch von deutschen Dichtern. Dabei gab's manchen Spaß. Mein Freund Wilhelm Kobes, noch heute ein warmherziger Poete, führte ihn an. Freese fragte: »Och, Kobes, haben Sie auch Verse?« »Jawohl, Herr Professor!« »Och, dann geb'n Sie her!« Kobes reichte einen Zettel zu ihm hinauf, auf dem stand:
Es deckt ihn in das eine
Und schnitt ihm beide Beine
Ganz kurz vom Rumpfe ab! –
Freese stutzte. »Och! mein lieber Kobes! Was ist das? Was soll das? Woraus dürfte das sein?«
»Das ist aus einem nachgelassenen Drama Heines: Prokrustes!«
»Och! Kobes. Heine, Prokrustes? Das is interessant. Ich erinnere mich gar nich. Heine? Prokrustes? Heinrich Heine? Och, Kobes, Sie irren. Woher kennen Sie, woher wissen Sie?«
»Ja, Herr Professor, ein alter Onkel von mir, der sammelt Handschriften, und da hab' ich dieses Fragment Heinrich Heines mal gesehen!« »Och, das is interessant. Kobes der Quellenforscher. Na, das muß ich nachher gleich mal Kollegen Thümen (dem deutschen Lehrer) zur Begutachtung mitteilen. Na aber. Schön, also lassen Sie uns zusammen.« Und so brüllte die ganze Klasse: Heine. Prokrustes. Jamben.
Es deckt ihn in das eine
Und schnitt ihm beide Beine
Ganz kurz vom Rumpfe ab! –
Wir durch Kobes eingeweihten Lümmel wollten uns dabei totlachen. Ganz sicher waren aber wir doch die Angeführten. Denn ich bin heute überzeugt, der alte gute Vater Freese durchschaute den ganzen Rummel, er war aber großzügig genug, uns den Spaß zu lassen; so liebte er die Jugend, und mit so viel Humor beherrschte er die Situation. Er kam nie auf die Heine-Affäre zurück.
Er war eben ein Lehrer, der mit uns lebte und strebte und besser als wir selbst die geheimsten Fasern der Schülerpsyche kannte und wie ein heiterer Griechen-Jüngling-Greis uns in unserer Kindheit selbst auf seine Kosten jauchzen ließ. Zeichnet er uns doch, mit seinen Riesenpatschen den Ballettanz der jungen Griechinnen in der Luft markierend, die Szene plastisch vor, wie Anakreon gehöhnt wird von den jungen Tänzerinnen. »›Anakreon! Geh, was willst du unter uns! Du bist ein Greis!‹; Je, was sagt Anakreon? ›Weiß ist mein Haar, aber seht das grüne Weinlaub darin, so grün ist mein Herz, und jeden Frühling blüht es wieder für die Schönste unter euch!‹;« Dann bekam sein Gesicht einen so überirdisch schönen Glanz, daß wir ihn tiefergriffen dort oben sitzen sahen, Weinlaub im Haar, in dionysischer Verzückung, selbst ein Anakreon, den ein gütiges Geschick vor dem Winter des Herzens bewahrt hatte. Er war gleichsam immer mitten unter unseren Scherzen. Dafür haben wir ihn aber auch sehr geliebt. Jeder der Schüler wäre für seinen alten Freese durch das Feuer gegangen.
Er war eine der gewiß enorm seltenen Naturen, welche den Mut haben, es im Vollgefühl eines goldenen Herzens ruhig darauf ankommen zu lassen, ob man sie bewundert oder verlacht. Er hatte den Humor, über sich lachen zu lassen, wenn er nur mit der durch ihn veranlaßten und heraufgezauberten Komik den Nagel auf den Kopf traf.
Als ich, vom Stettiner Gymnasium kommend, als Tertianer zum erstenmal eine Stunde bei Freese hatte, konnte ich mich vor elementaren Heiterkeitsausbrüchen über den allzu drolligen Mann gar nicht halten. Ich lachte immer hell in die schon tolerantere Schulgenossenschaft hinein. Freese merkte natürlich sofort, daß mein Lachen ihm galt. Jeder andere Lehrer würde wohl disziplinarisch dagegen seine Würde gewahrt haben. Freese keineswegs. Mit einer wahrhaft göttlichen Seelenkenntnis sagte er mir ein über das andere Mal bei meinen Lachausbrüchen: »Och, seht den Fremdling! Er lacht. Er amüsiert sich. Schon wieder. Je, mein lieber junger Herr aus Stettin. Das is hier nicht anners.
Nach Korinthus von Athen gezogen
kam ein Jüngling, dort noch unbekannt!
Je, sieh mal an. Der Fremdling. Er macht sich mausig!«
Er war der größte Psycholog. Ein wahrer Weiser am Baltenstrand. Ich denke oft an ihn. Er war unser aller alter, noch bis in unsere eigene Reife hineinwirkender Mentor. Er wäre für Könige der richtige Erzieher gewesen. Vor seinem Humor schmolz jede Form von Anmaßung, und er sah uns allen bis ins Herz. Ein Virtuos der Knaben- und Jünglingsseele.
Beim Abiturientenentlassungsfest gab er uns allen eine private Prognose mit. Wir alle haben uns verdutzt angesehen, wie er uns kannte.
Mir sagte er: »Je, mein lieber Schleich. Gewiß. Talente. Guter Kopf, alle Achtung. Weg wird gemacht. Könnte bedeutend. Vielleicht Erfindungen. Entwicklung. Je, aber die Dämonen. Da ist Gefahr. Och. Denken Sie Herkules. Die Hydra siebenköpfig im eigenen Busen. Je, es wird schon gehen. Aber mir ist bange!«
Wie wußte der Mann etwas von meinen Dämonen? Alter Freese, ich danke dir, ich habe mich redlich bemüht, sie zu bezwingen.
Ich sah ihn zum letzten Male beim Abschiedsbesuch, bevor ich Stralsund verließ. »Wohin gehen Sie, mein Lieber?« »Nach Zürich!« »Och – nehmen Sie sich in acht. Sie werden Heimweh, je, die See, das Meer, es läßt seine Söhne nicht los!« »Aber, da ist ja ein großer See, Herr Professor!« »Je, aber nich – die See, Junker Naseweis!«
Er sollte recht behalten. Mich überfiel die Sehnsucht zur Heimat mitten in rauschenden Studentenfesten ganz elementar. Ich magerte ab wie ein vergessener Kanarienvogel.
Aber auch nach dem alten Freese habe ich Heimweh.