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in statu nascendi Ich kann es meinem Vater nicht genug danken, daß er mit großer Liberalität bei mir die Frage nach dem Staatsexamen eigentlich nie besonders urgierte. Er wußte mich bei Virchow in den besten Händen und legte meinem allerdings höchst ungewöhnlichen Studiengange nicht die geringsten Hindernisse in den Weg. Ich selbst hatte eigentlich gar keinen Plan, war ständig im Pathologischen Institut, oft in unmittelbarer Nähe des damals wie ein Alleinherrscher die Medizin verwaltenden Heros der Wissenschaft Virchow und im innigen Verkehr mit seinen Assistenten Jürgens, Grawitz, Israël, später v. Hansemann und Langerhans, die mich völlig als den Ihren betrachteten, und in deren Spezialarbeiten ich durch ihre Vertraulichkeit zu mir den allerfreiesten Einblick gewann. Das war wirklich, als wenn man einem Prinzen immer nur die feinsten Gelehrtenkosthappen vorsetzte, um ihn schneller als andere, zu fördern. Meine ganze Revanche für diese Gunst den Herren gegenüber bestand in Schnurrenerzählen, Liedersingen, Musikmachen in ihren Häusern. Ich war wirklich ein munterer Meistersingerlehrbursch. Gewiß fehlte meiner Arbeit bei Virchow die Stetigkeit und die Systematik, aber dafür kam ich auch mit so vielen innersten Problemen der Pathologie frühzeitig in Berührung, wie wohl selten ein werdender Arzt. Ich war aber – wenn auch meist nur in zuckhaften, gleichsam epileptischen Anfällen – ungeheuer fleißig, studierte eifrig in Virchows eigener Bibliothek und habe bei dem ungeheuren Material des Instituts Gelegenheit gehabt, zur Information ganze Serienuntersuchungen auf eigene Faust zu veranstalten. So habe ich einmal in einem Zuge die ganze Zellularpathologie Virchows praktisch durchmikroskopiert und ein anderes Mal die gesamte Geschwulstlehre des Meisters gleichsam mikroskopisch durchwandert und war allmählich wirklich ein kleiner Virchow in der Westentasche, wie sie mich in Stettin nannten, geworden. Mein Vater hat mir oft gesagt bei Gesprächen über die Leiden bestimmter seiner Patienten: »Am meisten beneide ich dich um deine enorme Übersicht über die Krankheits möglichkeiten, die dir ganz andere Erwägungen gestattet als den meisten von uns!« Gewiß, ich hätte nicht Mediziner werden mögen ohne dieses ganz breite Fundament einer umfassenden pathologischen Vorbildung. Ich war zu Hause im Reich der Zellen und in der ganzen Welt des Kleinsten, von der uns allein die Geheimnisse des großen Lebens zu entschleiern sind. Hier drangen schon frühe, um nur einige Beispiele zu nennen, die Fragen an mich heran, ob wohl wirklich die Funktionen der Nerven und Ganglien so von der Ernährung abhängig seien, wie die Wissenschaft bis heute noch annimmt, ob tatsächlich die Neuroglia, das Aufhängenetz zwischen den Hirnganglien, nichts sei als ein Stützapparat oder nicht vielmehr ein grandioser Hemmungsmechanismus elektrischer Natur; hier kamen mir eigene Gedanken über die Natur des Schmerzes, des Gefühls, der Bahnungen, die einst alle eine so große Rolle in meinen selbständigen Arbeiten spielen sollten. Hatte ich doch bei Jürgens täglich Gelegenheit, die wundervollsten Hirn-Rückenmarksschnitte in Tausenden von Serien kostbarster Hirnpräparate auf seinen Riesengefriermikrotom zu schneiden, zu färben, auf Glasplatten zu fixieren und zu durchmustern. Ein wahres Museum der Hirngeheimnisse konnte ich täglich betreten und unbekannte Schlupfwinkel umstöbern. »Die Ganglienzelle ist eine Welt für sich«, das wußte ich schon damals, und Jürgens lächelte, wenn ich voll Emphase behauptete, was bisher davon gelehrt werde, sei alles Stümperwerk. Bei Grawitz durfte ich die Geheimnisse der Entzündung mitstudieren und die wundervollen Gedankengänge dieses tiefgründigen Forschers, der zu verblüffend sicher und kühn in das Wesen der Dinge eingedrungen ist, als daß man ihn heute schon genügend versteht und bewundernd seine reformatorischen Ideen anerkennt. Er sitzt in Greifswald und grollt der dogmatischen, ewig rückständigen Schulgelehrsamkeit, die ihre Besten stets unterdrückt, nur um auf ihren Lehrbänken kein bißchen beiseite rücken zu müssen! Ein herrlicher Gelehrter, Grawitz, von einer Schärfe des Auges und der sichtenden Akribie, wie sie nur die größten Naturforscher besessen haben! Ich sage es mit Sicherheit voraus: Grawitz' Reform der Entzündungslehre und der Lehre der schlummernden Zellen wird ein wichtiges Fundament biologischer Lehre vom Zelleben überhaupt bilden, wenn es erst voll erfaßt ist. Grawitz hat auch in unzähligen Einzelarbeiten Neues zur Geschwulstlehre beigetragen. Alle die werdenden Gedanken konnte ich mitbelauschen, und keiner der Meister hat mir sein Herz verschlossen. Da gab's in meiner Gegenwart keine Angst vor Prioritätsansprüchen, Resultat-Durchsickern, Kleptomanie der Ideen, – einfach brüderliches Vertrauen dieser vielen Stützen der Wissenschaft hat mich ebenso geehrt wie bereichert. Ich galt ihnen wohl als eine Art von harmlosen Adepten im Embryonalstadium der Erkenntnis, von dem man sich nichts Böses vermuten konnte. Außer diesen gewissermaßen vom Tisch der Reichen auf mich niederfallenden Brocken stand es mir ja jederzeit frei, zu fragen und Unverstandenes mir erklären zu lassen. Man bedenke ferner, daß ich ja allmählich perfekt sezieren und anatomische Protokolle zu diktieren gelernt hatte, so daß ich ganz offiziell die Assistenten vertrat bei den täglich oft 6-8 Obduktionen. Da stand ich denn schon wie ein kleiner Urteilsverkünder vor den entblößten Leichen, das Messer in der Hand, um einem Frerichs, Leyden, Henoch, Bardeleben, Gusserow zu offenbaren durch Schnitt und Urteil, ob sie sich geirrt hatten in ihren Diagnosen, die jedenfalls nicht verhindern konnten, daß ihre Opfer hier lagen, bereit für die Enthüllung aller ihrer Leidenszustände während ihres ganzen Lebens. Da nun die Koryphäen oder ihre Assistenten vorher eine Skizze ihrer Beobachtungen, eine Symptomenreihe, eine Geschichte der Krankheit zu entwerfen pflegten, um selbst möglichst viel Gewinn aus einer nun zu klärenden Sachlage für zukünftige Fälle zu ziehen, so war für mich jede Sektion eine Unterrichtsquelle ersten Ranges, zumal die Vertreter der Klinik die Ersten ihres Faches waren und ich die Ehre hatte, sie durch den Augenschein zu widerlegen oder ihnen Triumphe der Diagnose zu bereiten. Das brachte mich natürlich auch zu diesen Herren in einen gewissen intimeren Konnex, und ich kann mir schon denken, daß es auch für sie einigen Reiz hatte, es mit dem blutjungen, frischen Prosektor zu tun zu haben, der sie nicht terrorisieren konnte, wie das der großen Pathologen Art war, die Kliniker immer ein bißchen aufzuziehen und zu necken, sondern mit einem, von dem sie sich nicht alles gefallen zu lassen brauchten. Da gab es manchmal ganz handfeste Kontroversen, bis sie sich überzeugen ließen, daß ein schönes, mit viel Scharfsinn aufgebautes Diagnosengerüst vor der nackten Tatsache des anatomischen Befundes zusammenbrechen mußte. Auch vertrat ich die Herren Assistenten bisweilen in ihren Kollegs, was eine große Übung im öffentlichen Vortrag für mich bedeutete, und einmal habe ich sogar den großen Rudolf im gewohnten Montagmorgenkolleg vertreten müssen, was beinahe übel auslief. Wenn Virchow, wie öfter, später, als der Beginn der Vorlesung angesagt war, erscheinen sollte, hatte Jürgens die Weisung, das Kolleg mit Demonstrationen zu eröffnen. Eines Tages kam Virchow nicht, Jürgens, im Grunde ein leichtsinniger Strick, aber auch nicht. Ich war zufällig da. Von den Assistenten sonst niemand. Die zahlreichen, beinahe hundert, anwesenden Studenten begannen zu trampeln. Dutzende von Präparaten lagen bereit. Was sollte geschehen? Bindemann, Prowe hatten nicht die Courage, das Podium zu besteigen. Auch mir erschien es mehr als kühn, so einfach unvorbereitet den großen Virchow zu vertreten. Da kam ein Eilbote von Jürgens an mich. »Beginnen Sie sofort das Kolleg mit Krankheiten der Leber. Es sind alle Arten da. Sagen Sie, was Sie wollen, nur nicht das von den Embolien, was ich Ihnen neulich mitgeteilt habe! Ich komme in Windeseile, Jürgens.« Was half's? Ich mußte hinauf auf das Podium, entschuldigte mich und bat, mit mir vorliebnehmen zu wollen, der große Meister oder sein Vertreter müßte jeden Augenblick kommen, und begann zu meinem eigenen Schrecken ganz in Virchows eigener, langsamer, bedächtiger, verschnörkelter Manier, die wir unter uns so oft kopiert hatten. »Ich bitte Sie, meine Herren, die hier vor Ihnen ausgebreiteten, sehr zahlreichen und höchst lehrreichen Präparate, wie sie uns die vergangene Woche in einer eigenen Gunst der Verhältnisse geliefert hat, recht aufmerksam zu betrachten. Ich glaube nicht, daß Sie in Ihrem Leben noch einmal Gelegenheit haben werden, so gewissermaßen einen Exemplarenatlas von Repräsentanten aller Formen der Leberleiden mit einem Blick zu übersehen!« In diesem Tone fuhr ich fort und hatte mich lange Zeit in den Anblick eines besonderen Präparats und in seine Ausdeutung vertieft, als ich mich endlich aufrichtete und nun Rudolf Virchow ganz ruhig in einem Türspalt stehen sah, mit einem so eigentümlich lauernd-sarkastischen Ausdruck, daß mir das Herz fast auf einen Präparatenteller gefallen wäre. Ich hielt mitten im Satze inne und trat ab. Aber der Grausame sagte ganz ruhig: »Sprechen Sie nur Ihren so gelehrt begonnenen Satz aus.«Er hatte immer etwas süffisant Höhnendes im Ton. Als wir, er, mein Vater und ich, im Zoologischen Garten Meyerheim vor der Staffelei bei einem Löwenporträt trafen, stellte er die beiden also vor: »Das ist der berühmte Maler Meyerheim aus Berlin, und dies der weniger berühmte, aber desto vorzüglichere Doktor Schleich aus Stettin!« Nach dem Kolleg ließ mich Virchow kommen. Ich erklärte ihm die Sachlage. »Ganz schön«, sagte er, seine Schrippe kauend, »aber wenn Sie mich schon vertreten, so brauchen Sie mich doch nicht gleich zu kopieren. Es empfiehlt sich in allen Lebenslagen, immer man selbst zu sein. Das Schauspielern wollen wir den Bühnenleuten überlassen.« Mit seinem Humor war es nicht weit her.
Eines Tages, es war schon spät am Nachmittag, saß ich in Jürgens' Zimmer und ordnete Gehirnschnitte, als es heftig klopfte. Ich rief: »Herein!« Vor mir stand, in Frack und Zylinder, mit Orden und Ehrenzeichen geschmückt, ein rundlicher Herr mit hochgeröteten Wangen, fettglänzend und mit dicken Fleischermeisterfingern heftig gestikulierend. »Iss bat eene Wirtschaft hier in die olle Leichenbude! Wo is denn hier wer zu sprechen? Da hört sich doch alles uff. Ick will hier meine Olle abholen zu's Begräbnis, werd' in Keller gewiesen, da steht der Sarg. Wat seh' ick? Nich meine Frau! Nee, – een besoffener Wärter liegt mang die Seidenspitzen, schnarcht un meine Olle aus'n Sarg raus, quer uff de Erde!! Da schlag' doch gleich ein Kreuzhimmeldonnerwetter in die janze Bude!« »Um Gottes willen! Herr! Das ist ja entsetzlich! Bitte, beruhigen Sie sich. Ich komme gleich mit Ihnen.« Ich führte ihn eilig hinaus, stürzte durch die Räume vor Virchows Tür. Eine schwache Hoffnung! Vielleicht war er selbst noch da. Was sollte ich autoritätsloser Bakkalaurens nur anfangen? Gott sei Dank! Er war da. In größter Eile berichtete ich: »Herr Geheimrat! Unten im Leichenkeller liegt ein betrunkener Leichenwärter im Sarg einer zu Bestattenden. Der Mann will sie abholen und hat das Entsetzliche gesehen!« Virchow stieß wie ein Falke vor. Als er den Meister sah, sprach er ihn ruhig an. »Ich bin Virchow. Ihnen wird jede Genugtuung werden!« »Schlächtermeister Müller aus der Köpenicker Straße. Habe schon die Ehre, Herr Geheimrat! Aus dem Bezirksverein. Habe öfters mit Herrn Geheimrat am Präsidententisch die Ehre besessen. Stramm lieberal, immer vor'n Fortschritt!« Virchow gab ihm sehr herzlich die Hand. Nun ging's in den Keller. Wahrhaftig, da lag in den zerwühlten Kissen, um sich die Hobelspäne verstreut, schnarchend das Vieh von einem Wärter. Der Präparatenspiritus war eine riesige Gefahr für diese Leute. Virchow schlug ihn blitzartig hinter die Ohren, riß ihn mit meiner Hilfe heraus, und wir warfen ihn wie ein Bündel Flicken in die Ecke. Dann säuberte Virchow eigenhändig die Leiche, bettete alles förmlich und feierlich zurecht und hob die gekränkte Tote selbst zurück in ihr letztes Bett. Dann sagte er: »Herr Schlächtermeister! Verschieben Sie, bitte, die Beerdigung um eine Stunde. Ich komme selbst zurück. Ich werde mir persönlich die Ehre erweisen, Ihrer verstorbenen Frau das letzte Geleit zu geben!« »Aber, Herr Geheimrat! Es geht bis nach Weißensee!« »Das tut nichts. Ich komme!« Virchow nahm, was äußerst selten war, eine Droschke und reihte sich im bald formierten Trauerzuge neben den Schlächtermeister, der, stolz, an der Seite des berühmten Mannes wandern zu dürfen, die angetane Schmach verzieh. Virchows geniale Diplomatie verhütete einen gewiß gräßlichen öffentlichen Skandal. Er war doch auch ein großer Psychologe.
Wir saßen eines Abends, Jürgens, Grawitz, Israël, Bindemann, Prowe, Langerhans und ich im Bierlokal beim dicken Schünemann. Es war gegen ½ 12 nachts. Plötzlich rief Jürgens: »Teufel! Da hab' ich was Schönes angerichtet! Ich muß noch in den Präparatenkeller. Virchow will durchaus zu morgen früh eine Niere mit Adenom haben, die liegt nun vergessen im großen Abwascheimer! Das geht nicht! Ich muß 'rüber ins Institut, um sie zu holen!« »Unsinn! Das kann doch einer von uns Jungen tun. Wie sah die Niere aus? Wir finden sie gewiß.« »Ausgeschlossen. Jetzt ist's bald 12 Uhr. Ihr jungen Dächse um Mitternacht durch alle die Leichen hindurch! Dazu gehören alte Nerven!« »Nanu! wir fürchten uns doch nicht vor Kadavern? Was ist denn dabei? Außerdem klingeln wir Hübner (den Oberwärter) heraus!« »Wir wollen knobeln, wer von uns vieren die Reise antritt.« Ich schlug es vor, und ich wußte ganz genau im voraus, daß es mich treffen würde. So ganz gemütlich war es doch nicht, so nachts durch ein paar Dutzend Leichen hindurch zu spazieren, denn der Abwaschraum mit der großen Präparatensammeltonne lag hinter dem Kühlraum der Leichen, die, neben- und durcheinander gereiht, nur mit Laken flach überdeckt waren. Wir würfelten, und ich warf drei Sechsen. Also! »Guten Abend, meine Herren!«
Ich gelangte leicht bis ins Pathologische Institut und öffnete es, denn Jürgens hatte mir den Schlüssel mitgegeben, schritt ganz ruhig durch die dunklen, vom Schlürfen der Füße widerhallenden, hohen Räume die dunklen zwei Treppen zu der Wohnung des Oberwärters Hübner hinauf. Endlich öffnete er. »Nanu? Das is ja ganz was Neues! Ick nachts in den Leichensaal? Nich in de Hand! Ick bin keen Don Quichotte. Man hat ooch seine respektablen Religiositäten. Nich zehn Pferde bringen mich da durch. Bei Tage, ja. Da is es Beruf. Nachts weeß man nicht. Es gibt Mys-todien! Aber wissen Se was? Ick werd' Ihnen den Jashahn uffdrehn. Dann können Se sich wenigstens unten Licht machen!« Nun gut. Ich ging lächelnd hinab. Im Leichensaal angekommen, entzündete ich ein Streichholz. Geisterhaft flog ein leichter Gelblichtton über den Raum. Da lagen sie. Manche Gliederecken markierten sich unter den Laken wie Gebirgskuppeln. Viele Füße ragten an den Tischrändern hervor; hier und da tauchte ein Kopf unter dem Weiß auf. Pfeifend schoß die Gasflamme ihr Licht in die Höhe. Na also! Nun lag alles in realer Beleuchtung. Kein Spuk. Keine Bewegung. Ich schritt ruhig durch den leeren Raum zwischen den niedrigen Bänken durch, betrat das Nebenabteil, entzündete auch hier die Gasflamme und suchte und fand nicht ohne Mühe aus dem eklen Zuber das wissenschaftlich kostbare Präparat. Ich nahm es auf einen Teller und trat, ihn vor mich hertragend, befriedigt die Rückreise an. Ich sah, milde lächelnd, beinahe wehmütig auf diesen Kongreß der für immer Schweigenden. War aber ganz ruhig. Da – fupp! – ging das Licht aus. Das war nun freilich schon etwas ungemütlicher. Ich tastete zur Orientierung, etwas unsicher geworden, nach rechts mit der freien Hand, ich faßte erst ein paar Zehen, dann ein Knie und noch eins, einen ganzen Fuß, eben strich ich über Lippen, äh, das waren kalte Zähne –, da – – allmächtiger Gott! – mich hielt jemand im Rücken fest, ich konnte nicht fliehen, ich fühlte deutlich meine beiden Schultern zurückgerissen – – ohnmächtig sank ich hintenüber – – – –
Ich erwachte. Jürgens und alle um mich herum, auch Hübner. Ich hörte ihn demonstrieren. »Ja, hier sitzt doch sein Gehrock fest an diesem Nagel. Da is er hängengeblieben. – Vielleicht, daß ich zu früh den Jass ausgedreht habe! Ja, ja, meine Herren, das sind so Phantasmorgien, Sphänomene!«
Eines Herbstnachmittags spät klopfte es an der Tür des allgemeinen Präparatenzimmers. Ein mittelgroßer Herr stand davor in einer Achtung fordernden Stellung. »Mein Name ist Cohnheim«, sagte er freundlich, »ich wünschte wohl einen der Herren Assistenten zu sprechen.« »Schleich!« stammelte ich – »doch nicht der berühmte Julius Cohnheim, Virchows größter – –« Er lächelte. »Derselbe«, nickte er. »Vielleicht können Sie mir behilflich sein. Ich höre, es ist eine Marmorbüste Virchows von Schaper gefertigt worden. Ich hätte sie gern einmal gesehen. Ich bin nicht ganz in Frieden aus diesen Räumen gegangen, möchte aber vor meinem wohl nicht mehr fernen Ende noch einmal, wenn ihn nicht persönlich, doch sein, wie ich höre, vorzügliches Bildwerk in Augenschein nehmen!« »Aber selbstverständlich!« Ich beeilte mich, ihm mitzuteilen, daß ich ganz allein im Institut sei, und führte ihn in den großen Doziersaal, wo Virchows Büste rechts an der Wand aufgestellt war. »Ist der alte Hübner noch hier?« Da stand der schon bei uns. »Mein Gott! Herr Geheimrat. Na, die Ehre! Warten Sie mal, das sind 14 Jahre her. Ja, ja! Es rollt sich so zusammen, sagt der Kegelschieber. Die Büste wollen Sie sehen? Da hängt se. Aber mit'n Zeltdach. Der Geheimrat will sich nich immer als seine eigene Leiche bei's Dozieren vor sich sehen, wie 'nen Totenspiegel. Das stört ihn. Darum muß ich ihm immer zudecken. Wird aber alle acht Tage gestaubt. Nu seh'n Se'n sich mal an! Ja! – – Nich? Wie aus'n Auge geschnitten. Sehr künstlerisch – natürlich!« Julius Cohnheim stand, Hut in der Hand, in träumerischer Versunkenheit. Der schwatzhafte Hübner ließ nicht locker. »Nu soll'n Se ihn mal erst mit der Brille sehn! Sehn Se mal, wenn ich ihm so meinen Kneifer aufsetze« – er nahm einen Stuhl und wollte wirklich sein Glas Virchow auf die Nase klemmen. Cohnheim wehrte dezent ab. Aber Hübner ließ es sich nicht nehmen. Da wandte sich der größte und bedeutendste Schüler Virchows, der hier nur heimlich einen pietätvollen Besuch abstattete, lächelnd zum Gehen. »Sie sind doch immer noch der alte, Hübner.« Nachher fragte dieser mich: »Soll ich nu Rudolfen was von der Visite sagen? Is doch drollig. So hintenrum, gewissermaßen bei Nacht, ohne Offiziosum! Schade, daß sie sich so verknurrt haben. Cohnheim war unser Begabtester. Ein großer Lumen!«
Cohnheim hat nicht mehr lange gelebt.
Um jene Zeit wohnte ich in der Schumannstraße 15, die »Goldene 15« genannt, weil sich im Keller des Hauses eine Viktualienhandlung des kleinen buckligen N. N. befand, in deren mehr als dürftigem Hinterstübchen man ausgezeichnet frühstücken konnte. Dies war denn auch der Restaurationstreffpunkt aller Mitglieder des berühmten, damals gegründeten Künstlerassozietätstheaters in der Schumannstraße unter Barnay, Förster, Friedmann, L'Arronge, genau an der Stelle des jetzigen Deutschen Theaters, nur daß an der Stätte der Kammerspiele damals noch ein weltberühmtes Bums- und Studententanzlokal bestand, in dem wir natürlich auch nicht unbekannt waren mit unseren japanischen, spanischen und italienischen Kollegen bei Virchow. Hier in dem Kellerlokal primitivster Einrichtung verkehrte eine ganze illustre Künstlergesellschaft, und ich habe hier Kainz, Pohl, die reizende junge Agnes Sorma, die bildschöne Anne Jürgens, Molenar, Sommerstorf und andere in ihrer ersten Künstler- und Jugendblüte kennengelernt, ja, mit Joseph Kainz sogar eine innige Freundschaft geschlossen. Dieser damals noch blutjunge geniale Mensch war auch einmal Mediziner gewesen und ließ sich stundenlang von Obduktionen usw. berichten, kam auch einmal mit mir in den Leichensaal, um gewisse Stellungen der Toten zu studieren, als der Maler Eugen Hanetzog dort gerade Modelle für sein Monumentalbild: »Antonius läßt sich sterbend vor Kleopatra tragen« malte, zu dem ich dann eine Ballade gedichtet habe, die – sonderbare Szene – ich Kainz, Hanetzog und – Oberwärter Hübner in diesem schaurigen Raume vorlas. Hübner meinte: es sei sehr pathetorisch rührend gewesen. Dieser Verkehr mit den Schauspielern war für mich höchst anregend, und ich erinnere mich sehr lebhafter Debatten über Shakespeare, Hamlet, dramatische Dichtung usw., woran auch öfter ein gleichfalls schon »hochbetagtes« medizinisches Semester, Paul Friedländer, ein ebenso witziger wie liebenswürdiger Kollege, teilnahm, auch Korpsstudent, der dann durch das ganze Leben, bis zum heutigen Tage, mir ein treuer, gütiger Freund geblieben ist und durch alle meine späteren Sturmphasen in der Medizin, wie sehr wenige, an unserem Jugendbündnis nicht hat rütteln lassen. Er ist jetzt ein sehr geachteter Arzt in der Friedrichstadt.
Man kann sich kein Bild machen von dem hinreißenden Charme, welcher damals die ganz junge Anfängerin Agnes Sorma umschwebte. Es war das entzückendste Taubenweibchen, das man denken konnte. Diese grübchenkichernde Heiterkeit, diese unter allen Umständen bezwingende Güte, dieser Wohllaut der perlenden oder gurrenden Stimme und diese Augeninnigkeit, wogegen die klassische Heroinenschönheit Anna Jürgens' dastand wie eine Säule der Akropolis.
Ward mir hier schon die Gunst vielfacher, ganz intimer Beziehungen zu großen Künstlern, ein Glück, das mich manche Schwänzstunde bei Virchow und manche Nacht kostete, so sorgte der gütige Prinzenerzieher meiner Jugend, der Zufall, dafür, daß ich in einen der interessantesten und anregendsten Kreise geriet, den man sich denken kann. Ich wurde – ich weiß nicht von wem, ich glaube aber von Richard Dehmel, den ich um diese Zeit kennenlernte – aufgefordert, Mitglied des »Ethischen Klubs« zu werden. Dieser Klub hatte mit Ethik auch nicht das geringste zu tun. Es war eine freie Gemeinschaft von Jünglingen, die alle das bestimmte Gefühl einer unausbleiblichen bedeutenden Zukunft in sich trugen, ein Genieschwarm, von dem man nicht wußte, wer und was ihn zusammengetrieben, und wenn ich von vornherein die Namen seiner Mitglieder nenne, so wird man mir recht geben: es war eine Treffstelle von lauter werdenden Größen, die alle den Feldmarschallstab der Zukunft ganz bewußt in ihrem Tornister trugen. Da waren: Gerhart Hauptmann, Gebrüder Hart, Halbe, Wolzogen, Hartleben, Polenz, Tovote, Felix Holländer, Jakob Christian Schmidt, Julius Türk, Richard Dehmel, Gizycki, Bruno Wille, Arno Holz, Joseph Kainz, Molenar, Dr. Pohl, Matkowski usw. Man muß gestehen, diese damals noch sehr wenig bekannten jungen Leute (es war um das Ende der achtziger Jahre) haben es alle wahrhaftig zu was gebracht! Präsidiert wurde die alle acht Tage tagende Gesellschaft von einem Rechtsanwalt Mühsam; Treffpunkt war das alte Münchener Hofbräu in der Behrenstraße, im Keller. Der Schauspieler wegen begann der Abend immer erst um 11 Uhr, Ende gegen 5 Uhr morgens. Es war Brauch, daß eines der Mitglieder über ein selbstgewähltes Thema nicht länger als 20 Minuten frei sprach. Daran schloß sich dann die Hauptsache: die Diskussion. Hei! was flammten da für Genieblitze, wie glühte, sprudelte, kochte die ganze Geysirglut der werdenden jungen deutschen Literatur hier schäumend empor! Es war eine Wonne, so irgendein Thema von allen Seiten mit den kühn-subjektiven Schlaglichtern werdender Geistesführer beleuchtet und niemand auch nur eine leise Ausweichung von den Kristallinien seiner rein persönlichen Gedankenfolgen gestattet zu sehen. Ich behaupte mit Sicherheit, daß nicht so leicht ein zweites Mal eine Gesellschaft gefunden werden kann, die so allseitig, so tief, so grundgeboren originell, so fern von jedem Konventionellen wissenschaftliche Musterdiskussionen liefert. Es ist geradezu ein literarischer Verlust, daß diese Vorträge und Besprechungen nicht protokolliert wurden. Sie sind verflattert, wie so vieles ganz Schöne, wie belichtete Wolken, wie Sternschnuppen, Meteore, Regenbögen! Da sprach Wolzogen über den Humor als Erzieher, was eine der fruchtbarsten Diskussionen über das Wesen des Komischen hervorrief, die weit über alles ging, was in der Literatur über dieses Thema mühsam zusammenzuholen ist; Dehmel über Schillers falschen Begriff des Sentimentalischen, mit wieder hochaufgewühlten Erörterungen über Ästhetik und Psychologie; Hartleben über die Illusion des schönen Sterbens (unglaublich tief und ernst das Problem des Todes berührend); Holländer »Über den Spieltrieb«, wobei er steckenblieb, worin aber vielleicht doch die Keime seiner ganzen Lebensarbeit schlummerten; der gewaltige Philosoph Jakob Christian Schmidt, der jetzt so berühmte Kantianer, der noch jüngst eine entzückende Arbeit über Hegel geliefert hat; Arno Holz sprach über »Schleimige Reime und den Unfug des Reimens überhaupt« usw. Genug, es waren geistige Brause- und Sprudelbäder, die hier quollen, und es war gewiß, es gab keinen unter uns, der sich nicht aus solchen Abend von Herzen gefreut hätte. Übrigens war es eine streng geschlossene Gesellschaft, ich glaube, sonst wären wir überflutet worden. Hier lernte ich auch Martin Mahn kennen, den späteren schlichten Makler, den Schwager Grottewitzens. Dieser einfache, aber feurige Mensch war von einer ungewöhnlichen Seelenreinheit, Güte und Liebefähigkeit für die, an die er glaubte. Er war einer meiner glühendsten Verehrer, mein wohl einzig dastehender Prophet. Ich habe einen aufopfernden Freund in ihm verloren, als 1919 ihn das Auto des Generals Lüttwitz totfuhr. Sein tragischer Tod hat mich furchtbar erschüttert, ebenso wie Emanuel Lasker, für den Mahn ebenso von Jugend an gekämpft, gerungen, gepredigt hat, wie für mich. Doch ich schweife ab. Zurück zum Ethischen Klub. Es hatte einen eigenen Reiz, Kainz in der Diskussion ebenso hinreißend-temperamentvoll eigene, tiefe Gedanken produzieren zu hören, wie auf der Bühne, und Pohl oder Molenar, auch Matkowski sich als Philosophen mit tief schürfenden Sehnsuchten offenbaren zu sehen. Wie eigentümlich, einen Georg Engels über die Unhaltbarkeit des Kontrastbegriffes beim Humor tief ernst debattieren zu hören. Ich selbst habe hier zum ersten Male meine Hirnphysiologie erörtert unter dem Titel: »Über das elektrische Geschehen beim Denkprozeß«, wobei ich allerdings von dem unüberwindlichen Debattentyrannen Schmidt, dem Säbelschmidt (wegen seines tiefen studentischen Wangenschmisses), furchtbar vom dogmatischen Erkenntnistheoriestandpunkt aus zerfleddert wurde. Zum Glück war ich ihm in dem plastischen Anschauen vom Gefüge der Gehirnmaterialien etwas überlegen, und so endigte die Sache mit einem Kompromiß. Ich weiß nur noch, daß Franz Oppenheimer und Joseph Kainz sich aus meine Seite stellten. Einst trugen die Gebrüder Hart über »Neue Religion« vor und wurden arg angegriffen. Es ging überhaupt kaum ein Vortrag unzerrissen über die Szene; Harts wurden arg verstimmt und sprangen schließlich wütend über den Tisch, Heinrich rief: »Ich habe den Ethischen Klub überschätzt« – und beide verschwanden entrüstet.
O bestünde doch noch so eine Gemeinschaft junger, hochführender Geister! Wir haben des öfteren versucht, dem Ethischen Klub später neues Leben zu geben. Wir brachten viele inzwischen zu Berühmtheiten emporgewachsene, alte Mitglieder zusammen. Eins aber war nicht mehr da, was dem Ganzen Schwung und Wärme gab: das Feuer der Jugend, die Glut der Zeit.
Hier war noch einmal eine Klippe, die meinen Lebensstrom leicht hätte in ganz andere Bahnen werfen können. Die tägliche Berührung mit Dichtern, Malern, Schauspielern ließ die alte künstlerische Sehnsucht in mir mächtig emporlodern. Ich traute mir ohne weiteres zu, mit meinen längst literarisch wirkenden Freunden konkurrieren zu können an Phantasie, und behauptete einmal ganz kühn, so oft wie sie sei ich noch allemal von der Muse geküßt worden. Aber man hat mich, da ich nun doch einmal für sie der Anatom war, doch nie so recht voll genommen mit meinen ihnen gelegentlich nicht vorenthaltenen Dichtungen. Eigentlich wirklich angehört hat mich erst Strindberg. Die anderen: Dehmel, Hartleben, Franz Evers, Prszybyszewski, Ola Hanson fanden alles ja sehr nett, kamen aber alle immer beleidigend schnell auf andere Themata. Es ist sehr deprimierend, einem Kreis junger Dichter einen Attila-Monolog vorzulesen und dann plötzlich zu hören: »Kommen Sie heute abend mit zum Skat?« Ich glaube, die Menschen gestatten einem nicht, auf zwei Gleisen zu fahren; der volle Kredit, den sie jemand gewähren, langt nur für eins. Ich war aber so in Literatur und Kunst eingesponnen, daß ich noch einmal in eine katastrophale Verzweiflung über die Zukunft geriet. Ich revoltierte zum soundso vielten Male gegen die Medizin. Aus diesem Konflikt resultierte eine schwere, wilde Bummelperiode, die mich wieder einmal an den Rand des Verderbens, ja, bis zum Auftreten auf Vorstadtbühnen, Bänkelsängereien, Konzertmitspielen in kleinen Kapellen für Geld und Tageskost, wie zu einem Versuch zur Selbständigkeit herunterbrachte. Von Selbstmordplänen hielt mich mit echtem Humor mein alter Freund Curt Zander fern. Da kam endlich wieder der echte alte Eckhard mit seinem Wunderbart und rückte alles in die Reihe – mein Vater.