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Sind die Naturgesetze Konventionen?

Zuerst erschienen in »Actes du congrès de philosophie scientifique. Sorbonne, Paris, 1935«, fasc. 4. (= Actualités scientifiques et industrielles, 391, Paris, 1936).


Jede Definition ist eine willkürliche Festsetzung, also eine Konvention. Aber unter einer »Konvention« in dem charakteristischen Sinne, in dem Poincaré dieses Wort in die Logik der Wissenschaft eingeführt hat, verstehen wir gewöhnlich eine ganz besondere Art der Definition, nämlich eine solche, durch welche bestimmte Satzformen für die Naturbeschreibung festgelegt werden. Den Gegensatz dazu würde z. B. eine hinweisende Definition bilden, welche für eine bestimmte Farbe ein bestimmtes Wort wie »gelb« festlegt.

Henri Poincaré hat das Verfahren der Konvention bekanntlich an den Sätzen der Geometrie entwickelt – übrigens ist ihm Helmholtz darin der Sache nach bereits vorausgegangen – indem er darauf hinwies, daß jene Sätze in ihrer Anwendung auf die räumlichen Eigenschaften der Körper als Definitionen zu betrachten seien. Sie sagen nichts über einen »wirklichen Raum«, sondern setzen fest, wie die räumlichen Verhältnisse der Wirklichkeit zu beschreiben seien. Der Satz, daß ein aus drei euklidischen Geraden gebildetes Dreieck die Winkelsumme von zwei Rechten hat, drückt nicht eine Naturtatsache aus, sondern legt eine Bedingung fest, unter der wir von gewissen physikalischen Gebilden sagen wollen, daß sie die Eigenschaften »Euklidischer Geraden« besitzen. Wenn wir, wie es die heutige Physik wirklich tut, gewisse physikalische Gebilde wie Lichtstrahlen, Drehungsachsen usw. als »Gerade« bezeichnen, so kann die Erfahrung lehren, daß sie nicht die Eigenschaft von »Euklidischen Geraden« haben, also definitionsgemäß nicht mit diesem Namen genannt werden dürfen. Das ist dann eine Erfahrungserkenntnis, nicht ein geometrischer Satz.

In unserer Redeweise drücken wir die Einsicht in den konventionellen Charakter der geometrischen Sätze am kürzesten aus, indem wir sagen: Die Geometrie ist die Grammatik der Sprache, in welcher wir die räumlichen Beziehungen in der Physik beschreiben.

Nehmen nun aber die räumlichen – oder in unserer modernen Physik die räumlich-zeitlichen – eine Ausnahmestellung ein gegenüber anderen physikalischen Beziehungen?

Die Sprache, in der wir von den letzteren reden, muß ja auch ihre Grammatik haben, und es ist auch kein Zweifel, daß sie durch Konventionen festgelegt wird. Sind vielleicht die Naturgesetze die Konventionen? Stellen sie also vielleicht gar nichts anderes dar als die Grammatik der Naturwissenschaften, d. h. in letzter Linie der physikalischen Sprache überhaupt? Wie Sie wissen, ist diese Ansicht tatsächlich vertreten worden, teils von etwas phantastischen Schriftstellern, die hier keine Erwähnung verdienen, teils aber auch von so hervorragenden Forschern wie Sir Arthur Eddington, der wenigstens eine ganze Klasse von Naturgesetzen (nämlich alle außer den statistischen) für bloße Definitionen erklärt hat und daher als Verfechter eines ziemlich extremen »Konventionalismus« (um dies unschöne Wort nicht zu vermeiden) angesehen werden muß.

Nach meiner Überzeugung beruht dieser Konventionalismus auf einem schweren logischen Irrtum, der von sehr großem prinzipiellen Interesse ist, sich aber doch mit wenigen Worten aufklären läßt. Diese Aufklärung soll hier kurz versucht werden.

Der Unterschied zwischen einer Festsetzung und einer echten Aussage besteht ja darin, daß die Gültigkeit der Konvention von uns selbst geschaffen wird. Nachdem wir eine Feststellung getroffen haben, können wir unter allen Umständen daran festhalten. Die Erfahrung kann uns wohl veranlassen, nie aber zwingen, sie aufzugeben, ihre Geltung bleibt in unserer Macht. So können wir bekanntlich, wenn wir darauf erpicht sind, die Naturvorgänge durchaus mittels der Euklidischen Geometrie beschreiben, nur müssen wir dann große Unbequemlichkeiten der Darstellung mit in den Kauf nehmen, da es in der Natur z. B. keine leicht herstellbaren Gebilde gibt, die genau den Axiomen der euklidischen Geraden gehorchen.

Betrachten wir nun die Formulierungen der Naturgesetze, so scheint von ihnen genau das Gleiche zu gelten: wir können sie, wenn wir absolut wollen, unter allen Umständen aufrechterhalten, wenn wir uns nicht davor scheuen, unpraktische und fremdartige Ausdrucksweisen einzuführen. Wenn nur diese Möglichkeit besteht, scheint der Konventionscharakter der Naturgesetze bereits erwiesen zu sein.

Bevor wir die Sachlage ganz allgemein und prinzipiell prüfen, sei sie an zwei bekannten Beispielen erläutert.

Als erstes wählen wir das Energieprinzip, von dem in der Tat nicht selten und verhältnismäßig früh behauptet wurde, daß es eine bloße Definition sei. Es genügt, die Formulierung zu betrachten, die in der Thermodynamik üblich ist. Bringen wir irgendein System aus einem Zustande 1 in einen Zustand 2 derart, daß ihm dabei die Wärme U zugeführt und die Arbeit A an ihm geleistet wird, so lautet der Ausdruck für die Energie des Systems im Zustand 2 (bezogen auf 1): E = A + U. Da E nur durch Messung von A und U bestimmt werden kann, so scheint diese Energiegleichung nichts anderes zu sein als eine reine Definition, nämlich die Einführung eines neuen Zeichens für die Summe von U und A. Wäre also das Energieprinzip in diesem Falle eine Konvention? Der Physiker sagt uns sofort, daß dieser Schluß ganz falsch wäre. Das Wesentliche an der Energiegleichung ist nämlich das, daß E eine Größe bedeuten soll, die nur von den Zuständen 1 und 2 abhängt; nicht aber von dem Wege, auf dem die Überführung stattfindet. Dies ist aus der Gleichung selbst nicht abzulesen, sondern muß als besondere Erläuterung hinzugefügt werden. Infolge dieser Erläuterung aber sind jetzt die rechte und die linke Seite der Gleichung verschieden definiert, und es ist Sache der Erfahrung, zu entscheiden, ob man für E bei Durchlaufung verschiedener Übergangswege immer denselben Wert erhält. So aufgefaßt, bedeutet die Energiegleichung also eine Behauptung, die durch die Tatsachen widerlegt oder bestätigt werden kann, sie ist also keine Definition. Was sie behauptet, ist ja die äußerst greifbare Tatsache der Unmöglichkeit eines perpetuum mobile; die »Konventionalisten« bedenken nicht, daß man, wenn ihre Ansicht richtig wäre, imstande sein müßte, sich durch eine passende Definition von den Energiequellen der Erde – Kohle, Öl, Wasserkräfte – unabhängig zu machen.

Dennoch haben sie versucht, ihre Behauptung, das Energieprinzip stelle eine Definition dar, dadurch aufrechtzuerhalten, daß sie sagen, die Konstanz der Größe E ließe sich für ganz beliebige Übergänge vom Zustand 1 zum Zustand 2 einfach dadurch erzwingen, daß man ein Entstehen und Vergehen verborgener Energien annimmt, die sich der Wahrnehmung entziehen, aber die Bilanz unter allen Umständen aufrechterhalten ( Driesch). Auf diese Weise würde die Gleichung in der Tat zu einer bloßen Tautologie, aber ich brauche nicht erst hervorzuheben, daß sie nunmehr mit dem Energieprinzip der Physik nicht das Geringste mehr zu tun hat. Denn für dieses ist es wesentlich, daß unter »Energie« eine durch Messungen stets feststellbare Größe verstanden wird. Wenn man das Wort »Energie« nach dem Vorschlag der Konventionalisten durch die Bedingung der Konstanz definiert, unter Aufgabe der Bedingung der Beobachtbarkeit, so bezeichnet man mit dem Worte nicht mehr das, was der Physiker oder Techniker unter »Energie« versteht. Man hat einen gleichklingenden sprachlichen Satz vor sich, der aber einen völlig verschiedenen Sinn besitzt.

Als zweites Beispiel betrachten wir das von Eddington für eine bloße Definition erklärte Trägheitsgesetz in der Galileischen Fassung. Es lautet etwa: »Ein Körper, auf den keine Kräfte wirken, bewegt sich geradlinig gleichförmig.« Wodurch ist aber, fragt Eddington, ein Körper definiert als ein solcher, auf den keine Kräfte wirken? und er antwortet: offenbar nur dadurch, daß er sich geradlinig gleichförmig bewegt. Das Ganze sei also eine auf bloße Festsetzung beruhende Tautologie.

Aber ist das Wort »kräftefrei« wirklich durch die geradlinig gleichförmige Bewegung definiert? Die von Newton gegebene Definition der Kraft könnte es so erscheinen lassen, aber wiederum ist, wie in dem vorigen Beispiel, ein nicht ausdrücklich angegebener, aber wesentlicher Umstand hinzuzudenken: die »Kraft« soll nämlich eine Größe sein, die von anderen in der Nähe befindlichen Körpern und ihrem Zustande abhängt. Das Wesentliche ist hier die Erfahrungstatsache, daß die Beschleunigung oder Bahnkrümmung eines Körpers in bestimmtem Zusammenhang mit der Anwesenheit und mit dem Zustande anderer Körper steht. Zu einer strengen Definition der Kraft gehört daher auch die Bestimmung, daß sie eine Funktion der Gesamtkonstellation der vorhandenen Körper sein soll. Wir stellen also fest, daß Eddington den Satz, welcher das Trägheitsgesetz ausspricht, dadurch zu einer Konvention macht, daß er den Worten eine Bedeutung gibt, die sie in der Physik nicht haben. Er gibt also dem gleichen Wortlaut einen andern Sinn, um seine These verteidigen zu können.

Aber weiter: es ist im Trägheitsgesetz von »gleichförmiger Bewegung« die Rede, also einer solchen, bei der in gleichen Zeiten gleiche Strecken durchlaufen werden. Eddington weist darauf hin, daß die Definition »gleicher Zeiten« wiederum das Trägheitsgesetz voraussetze, daß dieses also zirkelhaft-tautologisch sei. Es ist ganz richtig, daß gleiche Zeiten praktisch mit Hilfe von Trägheitsbewegungen (z. B. Drehung der Erde) festgelegt werden, indem als »gleich« solche Zeiten gelten, in denen gleiche Strecken (bzw. gleiche Drehwinkel) zurückgelegt werden. Dennoch ist der Schluß auf den definitorischen Charakter des Trägheitsprinzips falsch. Zur Definition »gleicher« Zeiten kann nämlich die Bewegung eines einzigen Körpers dienen, und es ist erst eine Tatsache der Erfahrung, daß Zeiten, die nach der Definition in bezug auf einen »kräftefrei« bewegten Körper gleich sind, ebenfalls gleich sind in bezug auf einen beliebigen anderen »kräftefrei« bewegten Körper. Aber gerade diese Erfahrungstatsache ist es, die in Wahrheit durch den Trägheitssatz ausgedrückt werden soll.

Hier liegt der Irrtum also in dem Übersehen der Bedeutung des unbestimmten Artikels »ein«, der im Trägheitsgesetz vor dem Worte »Körper« steht. Er bedeutet nämlich »jeder beliebige«, und damit weist der Trägheitssatz auf eine Übereinstimmung im Verhalten aller Körper hin, deren Bestehen nur aus der Erfahrung abgelesen, nicht aber durch Definition erzielt werden kann.

Ich habe diese Beispiele besprochen, um an ihnen recht anschaulich zu machen, auf welche Weise die Meinung sich bilden konnte, daß die Naturgesetze Konventionen seien: man betrachtete den Ausdruck der Gesetze, wie er da – meist in Form einer Gleichung – auf dem Papier steht, kümmerte sich nicht genug um die definitorischen Erläuterungen, durch die der Ausdruck erst seinen Sinn erhält und die oft gar nicht ausdrücklich oder vollständig formuliert wurden, sondern legte eine eigenmächtige Interpretation unter, die den fraglichen Ausdruck zu einer Tautologie macht. Hierzu wird man dadurch verführt, daß man zur Interpretation der Zeichen nur alles das benützt, was tatsächlich in Form von Rechnungen hingeschrieben ist. Das ist aber das Verfahren des reinen Mathematikers und Logikers, er darf überhaupt nicht anders verfahren, denn in der Logik und Mathematik haben die Zeichen eben denjenigen Sinn, der ihnen durch das ausdrücklich Hingeschriebene oder sonstwie Formulierte gegeben wird. Mathematik und Logik weisen nicht über sich selbst, über ihr eigenes Zeichenreich hinaus, in ihnen besteht kein prinzipieller Gegensatz zwischen Lehrsatz und Definition.

Ganz anders in der Naturwissenschaft, wo jedes einzelne von ihr verwendete Zeichen auf bestimmte Beobachtungen und Experimente hinweist, die wirklich ausgeführt werden müssen, damit ihre Sätze überhaupt Sinn bekommen. Nachdem das System der Physik fertig ist, kann es freilich in rein mathematischer Form dargestellt werden, und der Mathematiker vergnügt sich damit, die einzelnen Sätze nur auf ihren gegenseitigen Zusammenhang, ihre gegenseitige Ableitbarkeit und Umformbarkeit zu untersuchen, und bei dieser Arbeit kommt der Unterschied zwischen Definition und Lehrsatz wiederum nicht vor, da von jeder Beziehung zu Beobachtungen abgesehen wird. Bei dieser Art der Betrachtung und Arbeit ist es gleichgültig, ob eine bestimmte Gleichung als Definition oder Naturgesetz aufgefaßt wird, und man kann ihr auf keine Weise ansehen, ob sie das eine oder das andere ist. Diese Betrachtungsweise ist nur in gleichsam abgeschlossenen Gebieten der Physik möglich, in denen man sich nicht mehr bei jedem Schritt an der Erfahrung orientieren muß; und es ist höchst interessant zu sehen, wie Eddington in seiner Darstellung der Relativitätstheorie sich sozusagen durch den bloßen Anblick der Einsteinschen Gravitationsgleichungen verführen läßt, sie als bloße Definitionen anzusprechen. Wie schon bemerkt, dehnt er diese Anschauung auf alle Gesetze der klassischen Physik aus, die ja den Charakter der Geschlossenheit trägt, für den die Relativitätstheorie das reinste Beispiel bildet.

Den Unterschied zwischen der logico-mathematischen und der naturforschenden Einstellung machen wir bis in seinen letzten Ursprung uns am besten an dem Unterschied zwischen »Satz« und »Aussage« klar, auf den ich in ähnlichem Zusammenhange schon bei einer früheren Gelegenheit sehr nachdrücklich hinweisen mußte (vgl. Lefondement de la connaissance, Paris 1935). Unter einem »Satz« wollen wir die Reihe der sprachlichen Zeichen verstehen, mit deren Hilfe etwas ausgesagt werden kann, also z. B. die hingeschriebene Reihe der Buchstaben einer schriftlichen Mitteilung, oder die Folge von Lauten einer gesprochenen Mitteilung, oder auch die Folge von Einritzungen auf einer Grammophonplatte, die zu einer Mitteilung benützt werden können. Unter einer »Aussage« dagegen wollen wir einen solchen Satz zusammen mit seinem Sinn verstehen, wobei dieser Sinn nicht als eine Art von schattenhaftem Gebilde aufzufassen ist, das in dem Satze wohne oder ihn begleitete, sondern es sollen damit ganz einfach nur die Regeln gemeint sein, die für die tatsächliche Anwendung des Satzes festgesetzt wurden, also für den wirklichen Gebrauch des Satzes zur Darstellung von Tatsachen. Kurz, eine »Aussage« ist ein »Satz«, sofern er wirklich die Funktion des Mitteilens ausübt.

Die moderne Entwicklung der Logik hat immer deutlicher gezeigt, daß man ihre Methode, ebenso wie die der Mathematik, am besten als eine formale charakterisiert, d. h. als eine solche, die von dem Sinn der Sätze, von der Bedeutung der Zeichen, also von ihrer tatsächlichen Verwendung absieht und die Zeichen nur in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander betrachtet. Solche gegenseitigen Beziehungen haben die Zeichen zueinander vermöge von Festsetzungen (syntaktischen Regeln), welche die »logische Grammatik« der fraglichen Sprache bilden. Mit anderen Worten: die logico-mathematische Betrachtung hat es mit den syntaktischen Eigenschaften und Beziehungen von Sätzen zu tun, nicht aber mit Aussagen.

Zum Wesen der Naturwissenschaft dagegen (wie übrigens zum Wesen jeder Realwissenschaft) gehört es, daß sie niemals von Sinn und Bedeutung absieht; sie hat es also stets mit Aussagen zu tun.

Naturgesetze sind zweifellos Aussagen in dem soeben erklärten Sinne; es wäre gewiß absurd, wollte man den Sprachgebrauch einführen, einen bloß hingeschriebenen oder ausgesprochenen Satz, unabhängig von der Bedeutung, ein »Naturgesetz« zu nennen.

Ein und derselbe Satz kann natürlich Vehikel beliebig vieler verschiedener Aussagen sein; ich brauche ja nur verschiedene Regeln seines Gebrauches festzusetzen. Der Satz (die Wortfolge) »Der König hält sich im Hintergrund« stellt ganz verschiedene Aussagen dar, je nachdem ich unter »König« einen bestimmten Monarchen, eine Schachfigur, oder einen Fußballspieler namens König verstehe. Ich kann auch jeden Satz durch geeignete Festsetzungen zu einer Definition machen; er ist dann eben keine Aussage mehr. Ein Satz stellt eine Aussage dar kraft bestimmter Konventionen; eine Aussage aber ist natürlich keine Konvention. Also ist auch kein Naturgesetz eine solche.

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal den Fall der Geometrie. Eine und dieselbe physische Welt kann ich mit Hilfe verschiedener Geometrien beschreiben, wenn ich nur den Ausdruck der physikalischen Gesetze jedesmal der benützten Geometrie anpasse. Ich sage absichtlich: den Ausdruck der physikalischen Gesetze. Es sind nämlich die Sätze in der oben erklärten Bedeutung des Wortes, in diesem Falle die hingeschriebenen mathematischen Gleichungen, die sich vollkommen ändern, wenn ich von einer Geometrie zur andern übergehe. Die aus mathematischen Zeichen bestehenden Gleichungen sind es (und natürlich auch der an diese Gleichungen angeschlossene Prosaausdruck der Sprache), die eine viel kompliziertere Gestalt annehmen würden, wenn ich etwa bei der Beschreibung der Gravitationsvorgänge statt der Riemannschen die Euklidische Geometrie zugrunde legte. Aber habe ich ein Recht zu sagen, daß die physikalischen Gesetze andere werden, daß ich eine »andere Physik« erhalte, wenn ich die Geometrie wechsle? Offenbar nicht, denn es würde bedeuten, daß ich die bloßen Zeichenreihen auf dem Papier mit dem Namen der »Gesetze« ehre, was wir oben als dem natürlichen Empfinden zuwiderlaufend abgelehnt haben. Unter einem »Naturgesetz« möchten wir doch, wenn es überhaupt möglich ist, etwas gegenüber jeder willkürlichen Ausdrucksweise Invariantes verstehen. Und es ist möglich. Wir sprechen doch gern von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze, und wir denken doch nicht daran zu sagen, die Naturgesetze hätten sich geändert, wenn wir eine neue Schreibweise oder auch eine ganz neue Geometrie eingeführt haben. Das Energieprinzip z. B. bedeutet für uns doch wohl jene »objektive« Ordnung der Tatsachen, die es unmöglich macht, Arbeit aus nichts zu erzeugen – eine Unmöglichkeit, die wir täglich und stündlich am eigenen Leibe spüren und die gewiß ganz unabhängig ist von der Art, wie wir sie auszudrücken belieben.

Die Sache liegt so: Weder die geometrischen Axiome noch die Gleichungen der Physik sagen etwas über die Wirklichkeit aus; die Ersteren sind bloße grammatische Regeln, die Letzteren sind bloße »Sätze«, keine Aussagen. Beide sind für sich beliebig abänderbar, sie sind daher nicht die »Naturgesetze«. Erst beide zusammen bilden echte Aussagen. Das was den eigentlichen Inhalt eines Naturgesetzes bildet, wird durch den Umstand ausgedrückt, daß zu bestimmten, grammatischen Regeln (z. B. einer Geometrie) ganz bestimmte Sätze als wahre Beschreibungen der Wirklichkeit gehören, und dieser Umstand ist völlig invariant gegenüber jeder Willkür in der Bezeichnung.

Willkürlich sind erstens die Regeln, welche die Beziehungen der verwendeten Zeichen unter sich festlegen, also die mathematischen Axiome und die expliziten Definitionen der abgeleiteten Begriffe der Naturwissenschaft, und zweitens die hinweisenden Definitionen (Aufzeigungen), durch die in letzter Linie die Bedeutung der Grundbegriffe der Naturwissenschaft festgesetzt wird. Diese Regeln bilden in ihrer Gesamtheit die Grammatik der wissenschaftlichen Sprache, d. h. das vollständige Inventar der Regeln, nach denen die Symbole (Buchstaben, Worte, Sätze usw.) zur Beschreibung der Tatsachen verwendet werden sollen. Alle diese »grammatischen« Regeln, und sie allein, bestimmen zusammen den Sinn der Sätze der Wissenschaft, denn der Sinn eines Satzes ist dadurch und nur dadurch anzugeben, daß ich angebe, wie er zu gebrauchen ist; und das geben eben jene Regeln restlos an. Sie sind die einzigen Konventionen, nicht die »Naturgesetze«. Jene Regeln sind es, die aus den bloßen »Sätzen« echte »Aussagen« machen, denn sie bestimmen ja den Sinn.

Sind sie einmal festgelegt, hat man sich also über die Grammatik der wissenschaftlichen Sprache geeinigt, so hat man keine Wahl mehr, wie man irgendwelche Tatsachen der Natur ausdrücken will, sondern es gibt in jedem Falle nur mehr eine Möglichkeit, nur einen einzigen hinzuschreibenden oder auszusprechenden Satz, der den Zweck erfüllt. Jetzt kann jedes Naturgesetz nur mehr in einer ganz bestimmten Form, und keiner anderen, dargestellt werden Wenn Carnap erklärt (Logische Syntax der Sprache, S. 133), man könne auch eine Sprache mit »außerlogischen« Umformungsbestimmungen aufstellen, indem man z. B. »Naturgesetze« unter die Grundsätze aufnehme (also als grammatische Regeln betrachtet), so scheint mir diese Ausdrucksweise in demselben Sinn irreführend zu sein wie die These des Konventionalismus. Wohl kann man einen Satz (eine Zeichenreihe), der unter Voraussetzung der üblichen Grammatik ein Naturgesetz ausspricht, zu einem Grundsatz der Sprache machen, indem man ihn einfach durch Festsetzung als syntaktische Regel erklärt. Aber damit hat man eben die Grammatik geändert und folglich dem Satze einen ganz neuen Sinn gegeben, oder vielmehr, eigentlich hat man ihn des Sinnes beraubt. Er ist jetzt kein Naturgesetz mehr, überhaupt keine Aussage, sondern eine Zeichenregel. Die ganze Umdeutung erscheint jetzt trivial und nutzlos. – Höchst gefährlich ist jede Darstellungsweise, welche so fundamentale Unterschiede zu verwischen droht.

Es ist natürlich ein leichtes, die Grammatik zu ändern, also neue Verwendungsregeln für meine Symbole einzuführen. Sobald ich das tue, muß ich, um dieselbe Naturtatsache wie vorher zu beschreiben, nun natürlich einen anderen Satz, eine andere Symbolreihe verwenden. Wird ein Naturgesetz in der Grammatik G 1 durch den Satz S 1 dargestellt, so wird es in der Grammatik G 2 durch den Satz S 2 ausgedrückt werden. Das Gesetz »lautet« jetzt anders. Aber tatsächlich sind sozusagen die Laute das einzige, was sich geändert hat, der Sinn ist derselbe geblieben. Die Sätze S 1 und S 2 sind zwar verschiedene Zeichenreihen, aber beide stellen dieselbe Aussage dar in demselben Sinne, in welchem »le roi est mort« und »the king is dead« verschiedene Sätze, aber dieselbe Aussage sind. Welche Aussage einem Satze entspricht, wird durch die verwendete Grammatik bestimmt, denn sie gibt ja den Zeichen ihren Sinn. In unserem Falle gibt die Grammatik G 1 dem Satze S 1 denselben Sinn, den die Grammatik G 2 dem Satze S 2 gibt, in beiden Fällen liegt also dieselbe » Aussage« vor.

So sehen wir, daß alle echten Aussagen, also z. B. Naturgesetze, stets etwas Objektives, gegenüber den Darstellungsweisen Invariantes sind, sie hängen in keiner Weise von irgendwelchen Konventionen ab. Konventionell, also willkürlich, sind allein die Ausdrucksformen, die Symbole, die Sätze, mithin nur das Äußerliche, auf das es dem Forscher überhaupt nicht ankommt. In der Wissenschaft, in der Erkenntnis suchen wir nichts als Wahrheit, wahr oder falsch aber sind nur Aussagen, nicht Sätze. Die letzteren mögen so wandelbar und unserer Willkür so sehr unterworfen sein, wie sie wollen; das ficht den Erkennenden nicht an. Er kann stets mit Hilfe der Gebrauchsregeln (der »Grammatik«, die ihm ja bekannt sein muß, da ohne sie die Sätze für ihn sinnlos wären) zu den echten Aussagen vordringen, deren Wahrheit von Niemandes Belieben abhängt.

Die Einsicht, daß Konventionen bei der Formulierung unserer Erkenntnis eine Rolle spielen, darf also nicht so mißverstanden werden, als würde ihr dadurch irgend etwas von ihrer objektiven Gültigkeit genommen, als wäre die Wahrheit irgendwie subjektiv, die Naturgesetze bloß ein Produkt unserer Willkür. Wo immer der Konventionalismus dergleichen behauptet, da macht er sich einer Verwechslung von Satz und Aussage schuldig, da verwechselt er das Wesen mit seinem Gewande.

Daß das Gewand rein konventionell ist, ist zwar eine triviale Einsicht, denn niemand zweifelt wohl daran, daß ein Symbol seine Bedeutung immer erst durch eine Festsetzung bekommen kann; es ist aber doch eine wichtige Einsicht, gerade weil sie uns veranlaßt, uns auf den Unterschied zwischen Wesen und Gewand, zwischen Kern und Schale recht sorgfältig zu besinnen: eine echt philosophische Arbeit.

So birgt die Konventionslehre zwar, wie die historischen Tatsachen beweisen, die Gefahr schwerer Mißverständnisse in sich, aber wenn wir diese zu vermeiden wissen, so ist sie ein wertvolles Hilfsmittel, das, was zur Erkenntnis selber gehört, von dem zu sondern, was nur zur Darstellung gehört. Manche in der Wissenschaftslogik noch herrschende Verwirrung kann dadurch überwunden werden.


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