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4. Das »Schicksal« in der Geschichte

Alle Klagen über Kulturzustände wären sinnlos und unser ganzes Problem könnte kein lebendiges Interesse erwecken, wenn es so etwas gäbe wie »Schicksal« in dem gänzlich unmöglichen und kindischen Sinne eines Fatums, in dem das Wort von modernen Schriftstellern mit großer Vorliebe gebraucht wird und in dem es unter dem Namen εἱμαρμένη auch bei den Alten – aber mehr in ihrer Mythologie als ihrer Philosophie – vorkommt.

Dieser »Schicksalsgedanke« ruht auf einem konfusen Begriff der Notwendigkeit, als wäre sie eine Art von Zwang, die an den Menschen von außen herantritt und das Geschick der Völker bestimmt, so daß die Geschichte unabhängig vom Willen des einzelnen ihren Weg nimmt. Spengler zum Beispiel wiederholt die Redensart von einer unerbittlichen, unentrinnbaren Bestimmung im Lebenslauf der Kulturen so unermüdlich, daß man einen deutlich komischen Eindruck erhält, wenn man alle Stellen unterstreicht, an denen die Wendung in der einen oder anderen Form auftritt. »Wir haben gelernt, daß Geschichte etwas ist, das nicht im geringsten auf unsere Erwartungen Rücksicht nimmt »Der Mensch und die Technik«, S. 6.«. Ich habe das nicht gelernt, denn obwohl ich an eine Notwendigkeit des Geschehens in demselben Sinn und Maße glaube wie die gegenwärtige Naturwissenschaft, so ist mir doch klar, daß Kultur und Geschichte nicht unabhängig vom Wollen der Menschen sich entwickeln, sondern im Gegenteil durch ihr Wollen. Die menschlichen Strebungen gehören mit zu den Gliedern der Kausalketten, man kann von ihnen nicht absehen. Schiller drückte das kurz so aus: »In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne.« Weit entfernt davon, auf die Erwartungen Alexanders, Cäsars, Napoleons keine Rücksicht zu nehmen, hat sich die Geschichte gar sehr nach ihren Wünschen gerichtet. Hätte Djingis-Khan seine Eroberungen gemacht, wenn er nicht gewollt hätte? Wären die Russen aus einem asiatischen zu einem europäischen Volke geworden ohne den Willen Peters des Großen? Sogar bei Hegel ist Geschichte ein Produkt des Wollens der Menschen. Daß dieses Wollen bei ihm als eine Manifestation des Weltgeistes gedeutet wird, der durch die List der Vernunft sein eigenes Streben den Heroen als das ihrige einpflanzt, ändert daran nichts.

In der Spenglerschen Auffassung vom Kulturgeschehen spukt sehr deutlich der aristotelisch-scholastische Erkenntnisbegriff, den die Welt aber seit Galilei überwunden hat. Nach dieser sozusagen statischen Ansicht erkennen wir eine Sache dadurch, daß wir uns einen Begriff von ihrem »Wesen« bilden. Wie nach Aristoteles das Feuer brennt und leuchtet, weil brennen und leuchten »wesentlich« zu seinem Begriff gehören, so müssen nach Spengler Kulturen aufblühen und verwelken, weil dies eben das Wesen einer Kultur, ebenso wie das Wesen einer Pflanze ist. Wir brauchen hiemit nur zu vergleichen, was die Naturforschung, die längst in das Stadium eines sozusagen dynamischen Erkenntnisbegriffes getreten ist, über die Prozesse des Brennens und Leuchtens zu sagen hat, und wie sie die Vorgänge des Wachsens und Welkens einer Pflanze behandelt, um sofort die Nutzanwendung auf das Verständnis der Kulturerscheinungen machen zu können. Es nützt nichts, alle Eigenschaften, die man bei noch so vielen Kulturen als ihr Gemeinsames immer wieder findet, zu einem metaphysischen Wesen zu vereinigen, das hinter den wirklichen Geschehnissen stehe, als ihr eigentlicher Grund: auch nicht ein einziger Vorgang ist damit verstanden oder erklärt. Sondern auch für historische Erscheinungen gibt es keine andere Erklärung als die aus ihren Ursachen, auf welche sie nach Gesetzen folgen. Zeigen sich Ähnlichkeiten und Parallelen im Verlauf der Kulturgeschichte, so können diese nicht durch einen Hinweis auf das metaphysische Wesen der Kultur, sondern nur durch Hinweis auf ähnliche Ursachen gedeutet werden. Und das gleiche gilt für jede historische Vorhersage, wobei nur die für jeden wissenschaftlich geschulten Geist selbstverständliche Mahnung zur Vorsicht zu beachten ist; denn je verwickelter ein Geschehensablauf ist, umso leichter kann eine minimale Verschiedenheit der ursächlichen Umstände eine gänzlich andere Wirkung zur Folge haben.

Wozu diese Abschweifung? Sie sollte uns vor einer gewissen Art des Dogmatismus bewahren, der besonders in der Gegenwart gefährlich zu werden droht. Wir dürfen nicht irgendwelche Aspekte der Kultur als mit »unentrinnbarer Notwendigkeit« gegeben betrachten, weil sie soundso oft in Erscheinung traten; wir dürfen vielmehr alles in Zweifel ziehen und verführerische Verallgemeinerungen nicht wichtiger nehmen als sie sind.

Höchst verführerisch wäre zum Beispiel folgender Gedanke: Da Kultur mit dem Eingreifen des Verstandes in die Handlungen beginnt, das heißt mit der individuellen Anpassung des Werkzeuges im Gegensatz zur generellen Anpassung der Organe, so läge es nahe, zu sagen: Diese Übernahme der Führung durch den Intellekt, wodurch die Kultur definiert wird, ist zugleich das, was sie von der Natur trennt; diese Trennung bedeutet zugleich Feindschaft gegen die Natur; es liegt also im Wesen der Kultur, unnatürlich zu sein. Wir brauchen daher nicht lange zu suchen, was an dem Gegensatz schuld ist und wie er sich entwickelt, sondern er war von Anfang an mit der Kultur da, diese ist eo ipso das Unnatürliche; eine Versöhnung ist nicht möglich, weil durch Vereinigung mit der Natur die Kultur aufhören würde, sie selbst zu sein. Ihre Entwicklung kann nur darin bestehen, daß sie immer unnatürlicher wird, sonst wäre es keine Entwicklung. Sie ist Kampf gegen die Natur, und das einzig mögliche Ende des Kampfes, das »unentrinnbare«, kann dann nichts anderes sein als die Niederlage des Menschen, denn die Mächte der Natur sind stärker als sein Verstand: die Tage der Kultur müssen irgendwann einmal gezählt sein.

Dieser Gedanke muß nicht falsch sein; aber es steht nicht von vornherein fest, ob er wahr oder falsch ist; nur Prüfung der Tatsachen kann es lehren. Wir lassen uns nicht (wie wiederum Spengler) ohne Beweise zu ihm verführen; denn damit begingen wir einen Fehler der eben gerügten Art, indem wir das Schicksal der Kultur allein aus ihrem »Wesen« zu deduzieren suchten.

Es ist durchaus nicht evident, daß der Gebrauch des Verstandes, also scheinbar das Eintreten bewußter Planmäßigkeit in die sonst »blinde« Welt, allein schon »schicksalhaft« Feindschaft und Gegensatz gegen die Natur bedeute; es wäre doch möglich, daß das eine aufs beste in das andere hineinpaßte; in diesem Falle würde die Kultur selbst etwas Natürliches sein, wir könnten von ihr sprechen als einer ganz bestimmten Sache, könnten aber nicht das eigentümliche Begriffspaar Kultur – Natur bilden.

Was heißt denn eigentlich »Gegensatz« und »Feindschaft« in unserem Falle? Es ist klar, daß diese Worte nicht ein Verhältnis logischer Art bezeichnen, sondern daß es sich um ein Wertverhältnis, um eine gefühlsmäßige Einstellung handelt. Zwischen zwei Individuen besteht ein Gegensatz, wenn das, was den einen freut, dem anderen zuwider ist; und er kann sich zur Feindschaft steigern, wenn er sich in Handlungen auswirkt, die miteinander unverträglich sind. Der eine sucht gerade das herbeizuführen, was der andere vermeiden will; beides kann nicht zugleich geschehen; erfüllt sich der Wunsch des einen, so ist der des anderen damit vereitelt, kurz die Lust des einen ist mit dem Schmerz des anderen zwangsläufig verknüpft: der Widerstreit reduziert sich also auf den ursprünglichsten aller Gegensätze, den von Lust und Unlust. Erst später dient durch bildliche Übertragung das Wort auch zur Bezeichnung wertfreier und rein logischer Verhältnisse (z. B. positive und negative Zahlen, »entgegengesetzte« Richtungen, Kräfte usw.). Bei der Frage »Natur oder Kultur« liegt aber ohne Zweifel der elementare Gegensatz eines Wertverhältnisses vor, für den quälende Unlust das Anzeichen ist, denn wir waren ja gerade ausgegangen von der allgemeinen Erfahrung, daß der Mensch irgendwie an seiner Kultur leidet. Tatsächlich war die Rede vom »Widerstreit« nur eine besondere Art, von der Unzufriedenheit und dem Schmerz zu sprechen, welche das zivilisierte Dasein uns bereitet.

Die Frage, ob Kultur als solche schon selbst im »Gegensatz« zur Natur stehen müsse, erscheint jetzt also in der Form: Muß individuelles vernunftmäßiges Handeln notwendig zu Einrichtungen führen, die uns Unlust schaffen?

Wiederum ist es auf keine Weise evident, daß dies unvermeidlich sei. Im Gegenteil erscheint es klar, daß mindestens auf den unteren Stufen der Entwicklung das Ergebnis des Eingreifens der Vernunft Freude und Genugtuung ohne bitteren Beigeschmack gewesen sein muß. Sonst wäre die Vernunft als Führerin des Handelns wohl auch bald entthront worden; ihre Herrschaft mußte sich erst befestigen, bevor sie Unheil stiften konnte. Inwiefern hätte auch die Beschaffung von Nahrung, Schutz und Wärme durch künstliche Werkzeuge notwendig zur Leidvermehrung führen sollen?

Es ist also sicher, daß Kultur zu Beginn natürlich war und erst später in Widerstreit mit der Natur trat. Die Frage ist nur, in welchem Stadium es geschah und ob es damals möglich gewesen wäre, einen anderen Weg einzuschlagen oder vielleicht auch einfach stehenzubleiben. Es ist schwer zu sagen, an welchem Zeitpunkt wohl frühestens der Segen in Fluch umgeschlagen sein könnte; klar aber scheint zu sein, daß es spätestens jene Epoche sein muß, in welcher – wenn Spenglers Begriffsbildung hier anwendbar sein sollte – die Kultur in Zivilisation übergeht. In diesem Falle wäre jede gesunde, aufsteigende, starke Kultur natürlich zu nennen, und ein Gegensatz bestünde überhaupt nur zwischen der Zivilisation und der Kultur; die erstere wäre eine Krankheitserscheinung. Das Leid, das uns zum Problem wurde, wäre einfach die Müdigkeit einer welkenden Kultur, die sich gleichsam von der Natur loslöst, wie ja ein alter, sterbender Organismus aus seinen natürlichen Verbindungen mit der Natur austritt, um erst durch Tod und Verwesung zu ihr zurückzukehren und in neue Kreisläufe einzugehen.

Der gesuchte Zeitpunkt ist aber früher anzusetzen, weil es Moral und Schuld schon vor dem Stadium der Zivilisation gibt.


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