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Geschichte ist ein notwendiges Übel. Sie ist der Übergang aus einem Gleichgewichtszustand der Kultur in einen anderen, aus der instinktiven Vollkommenheit der Tiere in die vernünftige des freien Menschen. Der geschichtliche Mensch ist wirklich eine Brücke. Auf einer Brücke aber herrschen ganz andere Regeln als im freien Gelände. Sie hat Geländer, über die man nicht hinauskann, ohne in die Tiefe zu stürzen; sie erlaubt kein Ausruhen, weil man sonst den Verkehr stocken macht, man ist eingeengt, daher unfrei; das Gelände aber ist frei. Du kannst die Straße verlassen, wo du willst, und rasten, wo es dir gefällt. Du brauchst keine Regeln des Verkehrs zu verletzen und so durch die Erfüllung deiner Wünsche andern lästig fallen, denn du kannst dem Verkehr und dem Treiben der anderen aus dem Wege gehen. – Und nun, liebe Freunde, begeht Ihr alle den Fehler, Ihr Historiker und Politiker, die Regeln der Brücke für die Regeln des Lebens überhaupt zu halten. Ihr dürft nicht sagen: »Wir sind nun einmal auf der Brücke über dem Strom – was gehen uns die Länder zu beiden Seiten des Stromes an!« Denn wie man die Vorgänge auf einem kleinen Teil der Erdoberfläche nicht verstehen kann, ohne zu wissen, daß unser Planet rund ist, ja wie man dazu sogar manches über die Sterne und den Bau des großen Weltalls wissen muß – so lassen sich auch die für die Regeln der Brücke nötigen Begriffe nur bilden, wenn man imstande ist, hinüberzublicken nach dem anderen Ufer, wo keine Geschichte mehr sein wird. Glaubt Ihr etwa, daß man auch drüben noch die Götzen verehrt, die Ihr als Heilige auf Eurer Brücke aufstelltet und denen Ihr so schöne Namen gegeben habt? Ehre, Freiheit und Größe! Es gibt nur eine Größe des Menschen: die sittliche. Größe setzt nämlich voraus, daß man eine ungeheure Verantwortung auf sich nimmt, und das ist eine rein moralische Angelegenheit. Denn wie könntest Du groß sein, ohne unablässig das Höchste zu wagen? Auf Deinem Wege wird nämlich dann alles zum Wagnis, was dem alltäglichen Menschen ungefährlich ist, für Dich bedeutet das geringste Nachlassen den Sturz, Du kannst nicht gemächlich Deines Weges rollen, denn um zu Deinem Ziel zu gelangen, bedarfst Du so großer Kraft und Geschicklichkeit, daß die kleinste falsche Wendung des Steuers Dich für immer aus der Bahn wirft. Prachtvoll sagt es Kierkegaard: »Du bist in dem Grad ein bedeutender Mensch, daß auch das geringste Versehen gestraft wird, als wäre es das himmelschreiendste Verbrechen. Daß es so streng zugeht, bedeutet, daß Du ein äußerst wichtiger Mensch bist.«
Unsere Freiheit besteht darin, daß wir in allen wichtigen Lebenslagen viele Zielvorstellungen gegenwärtig haben, zwischen denen unsere Aufmerksamkeit hin und her wandert, so daß es nur von dem Gesetz unserer eigenen Persönlichkeit abhängt, für welche Handlung wir uns entscheiden. Das Tier ist unfrei, weil es in jedem Augenblick fast immer auf ein Ziel allein beschränkt ist, und die verschiedenen zu gleicher Zeit möglichen Ziele sich nur wenig voneinander unterscheiden.
Echte Kultur macht uns freier und freier, weil sie unablässig neue Ziele erfindet und alle Möglichkeiten verfeinert, indem sie die Unterschiede zwischen ihnen vergrößert. Der Machtstaat wirkt genau in der entgegengesetzten Richtung: durch Suggestion (Propaganda) und unausgesetzte Drohungen hält er wenige bestimmte Vorstellungen im Vordergrund des Bewußtseins der Untertanen und schreckt die anderen von vornherein vom Eintritt zurück. So wird der »einheitliche Volkswille« geschaffen. Aber so etwas verdient nicht mehr den Namen »Wille«.
Auch die wilde Natur ist frei in einem schönen Sinn, sie hat noch keine Sehnsucht zum Anderssein, kein Bewußtsein ihrer Grenzen. Diese erwachen erst mit dem Beginn der Kultur; mit deren Vollendung aber wird die Freiheit einer höheren Stufe erreicht. Mithin ist die ganze Kulturgeschichte und das heißt: die ganze Geschichte – Entwicklung von unbewußter zu bewußter Freiheit. Also im Grunde ganz wie bei Hegel, nur daß dieser auch nicht die schlichteste Wahrheit aussprechen konnte, ohne sie alsbald durch Verlegung ins Metaphysische zu entstellen. Um die jammervollen politischen Kämpfe auf der kleinen Erde, den Übergang von einer Staatsform zur anderen zu verstehen und mißzuverstehen, mußte er die Weltvernunft und den absoluten Geist bemühen.
Kulturentwicklung ist Entwicklung zur Freiheit. Ist es nicht sonderbar, daß meine Lehre hier der Hegelschen zu begegnen scheint? Nein, denn wer nicht ganz von allen Göttern verlassen ist, muß, wenn er die Geschichte betrachtet und über das Schicksal der Menschheit nachdenkt, deutlich sehen, daß alle historischen Bewegungen, alle Fortschritte der Naturbeherrschung, alle Entfaltungen geistigen Lebens dem ewigen unbändigen Durst nach Freiheit entspringen. Vernunft ist Fähigkeit des Vorausschauens, des Erfassens von Möglichkeiten; als vernünftiges Wesen sieht also der Mensch immer neue Horizonte vor sich und will weitere neue entdecken. Dazu muß er frei sein von allen Ketten, die ihn an seinen gegenwärtigen Zustand binden. Er will neue Glücksmöglichkeiten erproben; dazu muß er immer neue Mittel versuchen, und die Zahl der Mittel ist ein Maß seiner Freiheit.