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I.

Die kleine märkische Stadt S. liegt mittwegs an Eisenbahnstrecke Berlin–Breslau. Schon seit fünfzig Jahren klagen die Einwohner darüber, daß S. stillstehe oder zurückgehe. Eins ist gewiß, daß die Zahl der Einwohner in der letzten Zeit sich nicht vermehrt hat. Die ältesten Leute wissen von schöner Vergangenheit der Stadt zu berichten, als das Kreisgericht noch da war und die Garnison, ein Füsilier-Regiment, die sogenannten Zwölfer, weil sie die Zahl 12 auf den roten Achselklappen trugen. Fünfzehntausend Einwohner zählte man vor Jahrzehnten und zählt man noch heute, mal ein paar mehr, mal weniger. Es ist in Deutschland vielleicht der einzige Ort, wo es keine Wohnungsnot gibt. Draußen vor den Toren liegt, von hohen roten Mauern umgeben, ein großer Komplex von Backsteinbauten mit vergitterten Fenstern. Das ist die Provinziallandesirrenanstalt, im Volksmunde die »Drehscheibe« genannt, weil hier die in Unordnung geratenen Menschenhirne der Mark Brandenburg wieder ins rechte Gleis zurückgebremst werden sollen. Diese Drehscheibe hat übrigens mit der nachfolgenden Erzählung nichts zu tun. Es sei ihrer nur als, so ziemlich der einzigen, Sehenswürdigkeit des Ortes gebührend Erwähnung getan.

Schlägt man das Konversationslexikon auf, so erfährt man, daß der liebe kleine Ort eine Anzahl Tuchfabriken und Leinwebereien enthält; so und so viel Evangelische, Katholiken und 45 Juden, eine gotische Kirche aus dem XII. und ein Rathaus aus dem XV. Jahrhundert. Daß es aber auch in die Literaturgeschichte eingegangen ist, davon redet weder der Meyer noch der Brockhaus.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts besuchte ein Jüngling das Gymnasium zu S., der später ein bekannter Dichter werden sollte. Das Gymnasium stand in dem Rufe, daß man hier viel leichter für die Universität reifen könnte als anderswo, und da der zukünftige Dichter auf anderen Gymnasien nicht so recht hatte vorwärtskommen können, so versuchte er hier als Schüler sein Glück. Das sollte später der Stadt zum Ruhm gereichen, als der Dichter gewordene Jüngling in seine Jugenderinnerungen dem Orte eine gewisse Unsterblichkeit verlieh. Christian Morgenstern heißt dieser Dichter, bekannt durch eine launige Travestie des Horaz, durch welche er alle die erfreute, welche des Römers Oden hatten auswendig lernen müssen. Noch mehr gelesen sind seine bizarren Palmström-Gedichte, welche mit unglaublicher Sprachgewandtheit die Dinge dieser Welt aufs harmloseste verulken.

Besagtem Christian Morgenstern – ach, er mußte leider allzu früh sterben – verdankt die Nachwelt auch die Kunde von einem Brauch, der seit Begründung des Gymnasiums von S. alljährlich von den Schülern geübt wird, einem ehrwürdig fröhlichen Brauch, der in dem traditionellen Schülerbergfest besteht; er wird alljährlich vor Beginn der großen Ferien gefeiert. An diesem Tage ziehen alle Schüler, vom längsten Oberprimaner bis zum kleinsten Sextaner, angetan mit den Schärpen und den Farben ihrer Klassen, in den Wald hinaus, wo zwei Wochen vorher eine jede Klasse mit einem Erlaubnisschein der Oberförsterei kleine Stämme, Äste und Zweige abgehackt und eine Laube gebaut hat. Spiele werden gespielt, Lieder gesungen, und des Abends ziehen die Schüler in Reih' und Glied mit brennenden Fackeln zu einem Hügel, dem Schülerberg, wo in ausgerodeter Waldlichtung eine hohe mit Stroh und Pech umhüllte Fichte errichtet ist, in die man unter Absingen des Gaudeamus igitur den Baum umkreist und die lodernden Fackeln hineinschleudert. Erst wenn der Baum völlig niedergebrannt ist, marschiert man nach der Stadt zurück, und dann ist das Fest zu Ende.

Beinahe bis auf die Zeit der napoleonischen Kriege geht der Brauch des Schülerbergfestes zurück, und durch viele Generationen hindurch war es schon über hundert Mal gefeiert worden zum Ergötzen der Alten und der Jungen.

Da kam eines Tages in dem auf so ehrwürdiges Vermächtnis beruhenden historischen Brauch ein Geist der Neuerung. Oder war es nicht vielmehr ein mittelalterlicher Geist der Verneinung harmlosester Lebensfreude, wenn entgegen allem Herkommen höheren Ortes auf einmal verfügt wurde, daß dieses herrliche Fest von nun ab bis in alle Ewigkeit für jedermann, der sich daran beteiligte, absolut und durchaus alkoholfrei zu verlaufen hätte.

Der neue, erst seit einigen Jahren amtierende Gymnasialdirektor Gottfried Bögehold nämlich hatte nach reiflicher Erwägung Anstoß daran genommen, daß bei dieser Feier am Festplatz im Walde das herkömmliche Fäßchen Lagerbier aus der Schloßbrauerei verzapft wurde. So gab er den Befehl, daß mit dieser Unsitte sowohl in Hinsicht auf die Schüler als auch auf ihre Angehörigen aufgeräumt werde. Das Verbot erregte bei der Bürgerschaft allgemeines Aufsehen und reichliches Mißfallen. Das Gaudeamus igitur schien zum Spott geworden und die Weissagung des bemoosten Studentenliedes » post multa saecula pocula nulla« (nach vielen Jahrhunderten gibt es keinen Becher mehr) schien in Erfüllung gegangen. Dieses Verbot kam um so überraschender, als es sich durch keinerlei unliebsame Erfahrungen rechtfertigen ließ. Seit Menschengedenken war keine Ausschreitung vorgekommen. Nie hatten bei dieser Gelegenheit Väter oder Söhne eins über den Durst getrunken, selbst die Professoren des Gymnasiums schüttelten die grauen Köpfe und tauschten heimliche Bemerkungen aus. Die Bürger schimpften und die Jungen der oberen Klassen machten mehr oder weniger schlechte Spottverse über den Direktor. Als ihn einer seiner älteren Kollegen fragte, warum er eigentlich das Verbot erlassen und seine Übertretung mit strengen Strafen bedroht hätte, antwortete der Direktor gelassen mit einem angeblichen Zitat Katos des Weisen, das nach einer lateinischen Überlieferung des Seneca also gelautet haben soll:

» Nemo prudens punit quia peccatum est, sed ne peccetur«,

was, in unser geliebtes Deutsch übertragen, soviel heißt wie: »Kein Kluger straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde.«

Sei es nun, daß es dem griechischen Weisen überhaupt niemals in den Sinne gekommen war, eine derartige Sentenz von sich zu geben, sei es, daß Seneca sie falsch überliefert habe: jedenfalls erwies sich in der Praxis dieser Spruch als gänzlich irrig. Denn die Folge von Rektor Bögeholds Verbot war, daß zwar kein offizieller Ausschank von Lagerbier beim Schülerfest jetzt mehr stattfand, daß aber einige hundert Meter abseits von dem Spielplatze, hinter dichtem Tannengrün verborgen, eine heimliche Schankstätte sich auftat, deren Entdeckung den Jungen ebenso großen Spaß gemacht hatte wie ihre Benutzung. Ja, es muß sogar leider berichtet werden, daß dieses Mal etwas mehr Bier als sonst in die durch Spiel und sommerliche Hitze ausgetrockneten Kehlen eindrang. Dazu kam, daß der heimliche Schänke verschmitzt lächelnd auch gelegentlich einen Korn oder Allasch ihnen angeboten hatte, was sicher nicht hätte geschehen können, wenn unter der Aufsicht einer hohen Schulleitung wie sonst in aller Öffentlichkeit dem Fäßchen der Spund eingeschlagen worden wäre.

Doch die Sache kam heraus. Rektor Bögehold zeigte zunächst den wilden Wirt im grünen Wald wegen Ausübung eines unbefugten Gewerbes an unerlaubter Stätte bei der Polizei an. Darauf leitete er eine Untersuchung gegen seine Gymnasiasten mit vielen peinlichen Verhören an. Die Vernehmungen, die im Beisein des gesamten Lehrerkollegiums stattfanden, zogen sich durch viele Tage hin bei elektrischer Beleuchtung tief in die späten Abendstunden, bis endlich festgestellt wurde, wer alles genippt hatte von dem goldgelben Trank aus der Brauerei. Das Ergebnis war furchtbar. Alle, alle hatten sie in die Kanne geguckt, sogar die kleinsten Knirpse aus der Sexta. Einer von ihnen, indem er mehr Tränen vergoß, als er Biertropfen zu sich genommen hatte, gestand unter lautem Schluchzen ein, daß ihm das bittere Zeug gar nicht einmal geschmeckt habe und daß er tausendmal lieber Selterswasser mit Himbeer getrunken haben würde, wenn es verboten gewesen wäre.

Es wurden nun klassenweise Strafen über die Missetäter verhängt. Die Sextaner und Quintaner mußten folgende Sätze hundertmal abschreiben: »Lagerbier enthält mindestens 3½ Prozent Alkohol. Alkohol ist ein verheerendes Gift. Alkohol vernichtet den Körper und die Seele. Darum fort mit dem Alkohol!«

Die Quartaner, weil sie im Abschreiben schon einige Übung hatten und mithin eine solche Strafe für sie als nicht genügende Sühne erachtet werden konnte, durften acht Tage lang in der großen Pause das Schulzimmer nicht verlassen. Die Tertianer bekamen, auf eine Woche verteilt, drei, die Sekundaner vier, die Primaner fünf Stunden Arrest und eine Rüge ins Klassenbuch. Außerdem mußten Primaner und Sekundaner das Lied von der Glocke auswendig lernen, weil es das längste von allen war. Wer weiß, ob Schiller jemals dieses Lied von der Glocke gedichtet haben würde, wenn er geahnt hätte, daß er einst bei den Gymnasiasten von S. als Büttel walten müßte.

Die Zöglinge, schon weil sie alle ohne Ausnahme gemaßregelt wurden, nahmen die Sache nicht sehr tragisch; ein jeder von ihnen tröstete sich damit, Genossen im Unglück zu haben. Die Strafe schlang um groß und klein eine Art Band der Solidarität und der Freundschaft. Der Sextaner fühlte sich stolz Kamerad des Primaners. Bögehold hatte die ganze Anstalt in stummer Opposition gegen sich geeint. Er bemerkte das wohl, obgleich sich die Schüler keinerlei sichtbare Unbotmäßigkeit zuschulden kommen ließen. An ihrem Gruß merkte er es, obschon sie die bunten Mützen bei seiner Begegnung genau so tief wie vorher von den Köpfen rissen, an ihrer Haltung, an ihrem Gebaren. Das schmerzte den wackeren Mann, der keinen höheren Ehrgeiz kannte, als von den Schülern und ihren Angehörigen verstanden und geachtet zu werden.

Es entsprach durchaus seiner ehrlichen Überzeugung, wenn er von nun an gelegentlich des Unterrichts sich als entschiedenen Gegner des Alkoholgenusses bekannte, und er hielt es darum für seine Pflicht, unter der ihm anvertrauten Jugend Parteigänger seiner Abstinenzlehre zu werben. Als er dabei in allzu großen Eifer geriet und jeden Nichtabstinenzler als einen sozialen Schädling bezeichnete, hatte er bald die ganze Stadt zu Feinden mit Ausnahme eines hochbetagten magenkranken Fräuleins und der Frau eines notorischen Trunkenboldes, der jeden Sonnabend seinen Wochenlohn versoff und dann sein armes Weib, wenn es ihm Vorwürfe machte, obendrein noch verprügelte.

Die angesehensten Honoratioren des Ortes, der Bürgermeister, der Apotheker, ja selbst der ehrwürdige Superintendent, fühlten sich beleidigt, daß sie für den Krug Bier oder das Glas Wein, das sie nach getaner Arbeit tranken und dessen ihre Väter und Großväter, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, sich bis ins geruhsamste Alter erfreuten, nun vom Erzieher ihrer Söhne und Enkel in die Kategorie der sozialen Schädlinge, der gesellschafts- und staatsfeindlichen Elemente eingereiht wurden. Selbst die dem Rektor unterstellte Lehrerschaft nahm Anstoß an den Äußerungen ihres Chefs. Denn ihr bloßes Erscheinen an einem Stammtische mußte, ob sie dies nun wollte oder nicht, als eine öffentliche Demonstration gegen Bögehold gedeutet werden.

Diese allgemeine Mißstimmung berührte auch das Privatleben des Rektors. Seine Frau und seine reizende blonde Tochter Lisbeth empfanden den Reflex davon bei jeder gesellschaftlichen Berührung mit den Familien, in denen sie bisher freundschaftlich verkehrt hatten. Vermied man es auch in diesen Kreisen taktvoll, das heikle Thema in Anwesenheit der Frau Rektor und Lisbeth zu streifen, so verriet sich doch gerade dadurch, daß man ihm beständig auszuweichen suchte, die Peinlichkeit der Situation. Schon wenn die Damen Bögehold erschienen, setzte oft plötzlich ein verlegenes Schweigen ein. Ein befangenes Benehmen der Bekannten und Freunde bewies, daß seit einiger Zeit irgend etwas nicht in Ordnung war in den Beziehungen zu jenen Kreisen. So passierte es beispielsweise, daß die Frau Rektor und Lisbeth bei der Frau Oberförster mit anderen Damen des Ortes zum Kaffee eingeladen waren, wobei allerlei Stadtgespräche den Unterhaltungsstoff hergaben, nur nicht den einen, der eigentlich der interessanteste war und der aktuellste, nämlich den Zwist des Gymnasialdirektors Bögehold mit der Bürgerschaft. Das Thema wurde umgangen und zwar unter den oft komischen Bemühungen, selbst den losesten Gedankenverbindungen mit dem Alkohol aus dem Wege zu gehen. Es hatte sich vor kurzem zugetragen, daß den Ratszimmermeister Resicke bei der Besichtigung von Arbeiten auf einem Neubau ein Unfall traf, so daß er für tot nach Hause gebracht werden mußte. Jetzt allerdings ging es ihm schon wieder ganz leidlich, sonst würde ja Frau Resicke nicht zum Kaffee hergekommen sein.

»Wie ist denn das eigentlich passiert? Es soll Ihrem lieben Mann etwas auf den Kopf gefallen sein? ein Brett oder so was?«

»Nein, ein Brett nicht,« antwortete die Gattin des Patienten, »sondern ein richtiges Stück Metall, das Aushängeschild des neuen Restaurants am Promenadenweg, ein Gambrinus aus Eisenblech, der ein Bierseidel in der Hand trägt.«

Hier verstummte plötzlich die Gattin des Ratszimmermeisters, weil die Augen der anwesenden Damen sich auf einmal unwillkürlich nach der Rektorin und ihrer Tochter hinwandten. Lisbeth errötete, ihre Mutter kniff die Unterlippe zwischen die Zähne.

Eigentlich war das ja für sie gar kein Grund zur Verlegenheit. Denn, wenn man schon das Mißgeschick des Ratszimmermeisters irgendwie deuten wollte, so hätte das nur zugunsten der Abstinenz, also im Sinne des Familienhauptes der beiden Damen geschehen können und zwar etwa nach folgender Logik: Wurde das Bier abgeschafft, so gab es in den Gastwirtschaften keine Aushängeschilder mehr, die einen Gambrinus darstellten. Gab es keinen Gambrinus mehr aus Eisenblech, so konnte er auch niemandem mehr auf den Kopf fallen.

Gleichwohl trat eine leidige Pause ein im Geplauder der Kaffeegesellschaft. Um die Situation zu retten, wies die taktvolle Wirtin mit der Hand auf das Fenster und rief ablenkend: »Schauen Sie doch, meine Damen, schauen Sie doch nur: der erste Schnee in diesem Winter!«

In diesem Augenblick trat das Hausmädchen mit einem blitzblanken Tablett ein, worauf eine Anzahl gefüllter Likörgläser stand. »Etwas ganz Harmloses,« sagte gleichsam sich entschuldigend zu den Rektors-Damen die Oberförsterin; »selbstgebrannter Ingwer. Mein Mann ist nicht zu bewegen, auch nur daran zu nippen. Er findet das Zeug labberig wie Zuckerwasser.«

Was sollten die beiden nun tun? Sie fühlten sich Gegenstand der allgemeinen Neugier, denn die Damen waren natürlich sehr gespannt, ob sie nehmen oder refusieren würden. Lehnten sie dankend ab, so hieß es natürlich morgen in der ganzen Stadt, dieser Abstinenzfanatiker, der Rektor, gestattet den Seinigen nicht einmal, außerhalb des Hauses das allerkleinste, allerunschuldigste Schnäpschen! Nahmen sie an, so machte sich der Lästermund von S. darüber lustig, daß des Rektors eigene Frau und Tochter sich gegen die Marotten Bögeholds auflehnten.

Um diesem Dilemma ein Ende zu machen, leerte Lisbeth schließlich ihr Gläschen und die Rektorin tat das gleiche.

Die anderen Damen triumphierten. Mutter und Tochter verließen die Kaffeegesellschaft als die ersten. Sie hatten das Bedürfnis, miteinander allein zu sein.

Es war ein weiter Weg nach der Stadt zurück, denn die Oberförsterei lag draußen vor dem Nordtor, das die alten Festungsmauern aus dem fünfzehnten Jahrhundert unterbrach.

»Nein, weißt du, Mama,« meinte Lisbeth auf dem Heimwege, »bei allem Respekt, den ich vor Papa habe, er macht sich und uns lächerlich. Man kann schon nirgends mehr hingehen, und über kurz oder lang werden wir vollständig isoliert sein.«

»Ich fürchte noch Schlimmeres,« sagte die Rektorin. »Ich fürchte, es kommt noch zu einem Krach mit den Stadtverordneten, wo der Papa lauter Gegner hat infolge seiner fortwährenden Redereien vor den Schülern. Schön, mag er Abstinenzler sein für sich, da dies nun einmal seine Überzeugung ist, mag er meinetwegen auch uns beiden den Zwang auferlegen, keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken, obwohl mir das ... na, ich will nicht von dem Opfer sprechen, das ich ihm persönlich damit bringe; denn ich war in meinem Elternhause daran gewöhnt, jeden Abend mein Glas Bier zu trinken und im Winter sogar ein Glas Grog oder Glühwein, wenn es recht kalt war, und zu Silvester Punsch. Doch was tut man nicht alles dem Frieden zuliebe. Und er ist ja auch sonst wirklich ein so guter lieber Mensch, bis auf die eine – man möchte sagen: fixe Idee.«

»War er denn immer so ... so eigentümlich?«

»Ein bißchen ein Sonderling freilich ist er immer gewesen. Er trägt, solange wir verheiratet sind, keine neuen Unterhosen. Auf jede muß ich ihm erst am Knie oder am Gesäß einen Flicken draufsetzen, wenn er sie anziehen soll. Doch das mit dem Alkohol, das hat sich eigentlich erst so kraß herausgestellt ein paar Jahre, bevor wir hierher nach S. gekommen sind.«

Frau Bögehold tat einen leichten Seufzer: »Wenn er sich wenigstens glücklich dabei fühlte. Aber mit der Wandlung ist zugleich eine Schärfe, eine Schroffheit in Papa gefahren, wie ich sie vorher nicht an ihm kannte. Denk nur daran, was er angab, als du dir einen Bubikopf schneiden lassen und seidene Strümpfe tragen wolltest, wie die anderen Mädel. Das hängt alles mit der Abstinenz zusammen.«

Und nun erzählte Frau Bögehold, so gut sie es selber begriff, wie die Wandlung in dem Vater vorgegangen war. »Bis zum Weltkrieg,« sagte sie, als sie nun durch die dunkelnden Straßen der Stadt gingen – »du warst ja damals noch ein kleines Mädel, als es los ging – wußte ich überhaupt nicht, daß es eine solche Frage gibt. Nie hatte ich davon gehört, denn auch Papa hat kein Aufhebens davon gemacht. Jetzt auf einmal ist ihm das die Wurzel alles Übels. Weil durch unvernünftigen Genuß geistiger Getränke ein gewisser Prozentsatz Menschen zu Schaden kommt, soll für alle Menschen der Genuß auf einmal verboten sein.«

»Das kommt mir so vor,« meinte Lisbeth lächelnd, »als ob man unseren schönen Badeteich zuschütten wollte, weil neulich ein Junge, der nicht schwimmen konnte, sich trotz aller Warnung zu tief hineinwagte.«

»Mach nur mal diesen Vergleich vor Papa. Der wird dich schon auf den Trab bringen!«

»Hab ich etwa nicht recht?«

»Es gibt in dieser Frage für ihn kein Recht, es gibt nur eine Autorität, nämlich seine. Das ist eben ein Dogma, woran er nicht rütteln läßt. Ach Gott, wie oft habe ich gerade in letzter Zeit, wo es so schlimm mit ihm wurde, auf Papa einzuwirken versucht. Alles hab ich ihm entgegengehalten, was vom Standpunkte der Erfahrung und des gesunden Menschenverstandes sich anführen läßt – nichts zu machen, einfach nichts zu machen mit ihm. Wenn er wenigstens sein Steckenpferd für sich allein reiten und andere Leute nach ihrer Fasson selig werden lassen wollte! Aber nein – er muß kämpfen, bekehren ... Fanatiker, mit einem Worte. Und ich meine es doch so gut mit ihm, will doch nur verhindern, daß er die ganze Stadt zu Feinden hat.«

Die Rektorin machte ein so verzweifeltes Gesicht, daß Lisbeth voll Mitleid mitten auf der Straße stehenblieb, ihr die Wange streichelte und sie küßte.

»Aber ich wollte dir ja erzählen,« fuhr die Mutter fort, »wodurch er so geworden ist. Der Ausgang des Krieges hat Papa aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Papa hatte so fest an die Gerechtigkeit der deutschen Sache und an die Vernunft der Weltgeschichte geglaubt, nie daran gezweifelt, daß wir siegen würden und daß die herrlichen Zeiten, die dem Volke verheißen waren, nun endlich kommen müßten. Seine Zuversicht kannte keine Grenzen. Als ein Kollege von ihm, der als Offizier die verlorene Marneschlacht mitgemacht hatte, auf Urlaub nach Hause kam und behauptete, daß Beste wäre, einen schnellen, anständigen Frieden zu machen, weil jetzt der Krieg nicht mehr gewonnen werden könnte, wurde Papa rasend, nannte ihn einen Flaumacher, einen Schwächling. Als später Amerika mit seinen unermeßlichen Reserven an Mannschaften und technischen Mitteln unseren Feinden zu Hilfe kam, war er felsenfest davon überzeugt, daß unsere Unterseeboote jeden Truppentransport versenken würden. Als die große Juli-Offensive unter Hindenburg keine Fortschritte machte, als im Gegenteil die Front immer mehr nach rückwärts verlegt wurde, meinte er oft an der Hand der Heeresberichte: – ›Der Hindenburg scheint einen großen Coup vorzuhaben. Was mag er wohl für einen taktischen Zweck damit verfolgen, daß er die Front immer mehr zurückverlegte?‹ Daß man zurückging, weil man zurückgehen mußte, kam ihm nicht in den Sinn. So wurde er denn vollständig überrascht von der Niederlage, vom Umsturz, von den Folgen des Friedens von Versailles. Nie hatte er das für möglich gehalten. Nun grübelte er über die Ursachen des Unglücks nach und zermarterte sein Hirn, um schließlich den Grund in der eigenen Schuld des deutschen Volkes zu finden. Jener Kollege, der die Marneschlacht mitgemacht hatte, sagte später einmal zu ihm in meiner Gegenwart: ›Lieber Bögehold, Sie sind und bleiben Philologe. Wie kann man nur so weltfremd sein, ohne tieferen Einblick in die Notwendigkeit der Tatsachen. Erst waren Sie fest davon überzeugt, daß alles aufs Beste gehen würde und jetzt, wo das Schlimmste geschehen ist, suchen Sie den Verantwortlichen, den Prügelknaben.‹ – Und so war es wirklich, mein Kind. Er suchte den Prügelknaben und fand heraus, daß hauptsächlich der Alkohol die Niederlage der deutschen Heere verschuldet habe. Er hatte die Bücher und Broschüren der Abstinenten gelesen und daraus erfahren, die Hindenburgsche Offensive sei gescheitert, weil unsere Truppen in den eroberten Ortschaften an den vom Feinde arglistig zurückgelassenen Weinvorräten sich bis zur Kampfunfähigkeit berauscht hätten. Die deutschen Heerführer widersprachen zwar energisch diesem albernen Gerücht, aber Papa glaubte steif und fest daran, denn ein Theologieprofessor hatte es behauptet und verbreitet. Darum ist nach Papas Meinung ein Wiederaufbau Deutschlands nur möglich, wenn der Alkohol mit Stumpf und Stiel ausgerottet wird. Darum hat er das Fäßchen Bier beim Schülerbergfest verboten. Darum wettert er jede Woche zweimal vom Katheder herab gegen den Genuß geistiger Getränke. Neulich auf dem Wochenmarkte hat ein Weib zu einer anderen Verkäuferin hinter mir hergeschrien: ›Das ist die Olle vom Rektor Bögehold mit die Milch der frommen Denkungsart. Die spioniert wahrscheinlich aus, ob wir eine Kümmelpulle mang die Kartoffeln haben.‹«

Lisbeth mußte laut auflachen, dann meinte sie: »Wenn es sich bloß machen ließe, daß Papa in eine größere Stadt versetzt würde, wo seine ... seine ..., na, sagen wir Eigenart nicht so auffällt.«

Frau Bögehold nickte lebhaft: »Wo der einzelne in der Menge verschwindet. Ein Gymnasialdirektor, das ist in einem Nest wie diesem S. eine Autorität, von der man jedes Wort auf die Wagschale legt. Ich komme mir wie geächtet hier vor. Und du, du wirst mal sehen, Lisbeth, hier kriegst du im Leben keinen Mann.«

Unter diesem Gesichtspunkte hatte Lisbeth die Sache allerdings noch nie betrachtet. Denn sie dachte mit ihren neunzehn Jahren überhaupt noch nicht ans Heiraten. Aber aus S. hätte sie allerdings gern herausgewollt. Ihr schwebte vor, einen tüchtigen Kursus in Stenographie, Schreibmaschine und Buchführung zu nehmen, um so bald wie möglich eine Anstellung zu finden und sich auf eigene Füße zu stellen.

»Wie wär's,« sagte sie, »wenn ich bei Onkel Robert in Berlin anfragte, ob er und die Tante mich für einige Monate aufnehmen würden?«

»In diesem Augenblick ging mir das gleiche durch den Kopf,« erwiderte die Mutter. »Vielleicht wärst du ihnen gerade jetzt sehr willkommen und könntest dich nützlich machen, wo sie im Hause mit Irmas Ausstattung so viel zu tun haben. Auch soll es dem armen Onkel Robert gesundheitlich gar nicht gut gehen, seitdem sich das mit seinem Herzen so verschlimmert hat. Da könntest du der Tante und deiner Kusine Irma bei seiner Pflege helfen und dabei im Lette-Verein einen kaufmännischen Kursus nehmen.«

Mutter und Tochter kamen überein, in diesem Sinne nach Berlin zu schreiben, vorausgesetzt, daß der Vater einverstanden wäre. Immerhin nicht unmöglich, daß er Widerstände zeigte. Denn was man ein alkoholfreies Haus zu nennen pflegt, das war das Haus seines Bruders, des wohlhabenden Fabrikbesitzers Robert Bögehold, durchaus nicht. Ja, der Rektor führte sogar die Verschlechterung im Befinden des Bruders darauf zurück, daß dieser es sich nicht abgewöhnen konnte, trotz seiner Arteriosklerose nach wie vor jeden Tag eine Flasche Rotwein zu trinken, an welcher Gewohnheit der behandelnde Arzt ihn unerhörterweise noch bestärke. Na überhaupt, die Ärzte! Waren die meisten von ihnen nicht mit dem Dämon Alkohol geradezu im Bunde. Solange die medizinische Wissenschaft gegen den Alkohol nicht Front machte, solange sie seine Anwendung sogar bei Kranken noch befürwortete, war an eine Genesung der Menschheit nicht zu denken.

Die Frauen waren inzwischen in der Nähe des Gymnasiums angelangt, wo in einem der oberen Stockwerke sich die Bögeholdsche Wohnung befand. Der Rektor kam ihnen auf die Straße entgegen. Er reichte ihnen die Hand und sprach kein Wort dabei. Erst als sie daheim waren und Licht gemacht wurde, bemerkten die Frauen, wie verstört er aussah und daß seine Augen leicht gerötet waren. Ehe sie noch zu fragen wagten, was vorgefallen sei, gab er ihnen ein Telegramm zu lesen. Es lautete:

»Unser guter Robert soeben sanft entschlafen.«

Da war im Augenblick alles vergessen, alle Verstimmung, alle Gegensätze innerhalb der Familie. Mutter und Tochter sahen nur einen lieben alten Herrn, über den plötzlich Trauer gekommen war. Sie umarmten und küßten ihn und weinten mit seinen Tränen.

Drei Tage später fuhren sie alle drei miteinander zur Beerdigung nach Berlin.


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