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III.

Tannengrün und Kränze auf Robert Bögeholds Grab waren längst vergilbt, verdorrt, zerbröckelt. Der Kirchhofsgärtner hatte aus dem gefrorenen Hügel ein weiches Blumenbeet gemacht, das er nach den Regeln der hortologischen Kunst mit den Pflanzen zierte, die der Reihe nach die Jahreszeiten gestatteten: mit Primeln und Veilchen im Frühling, mit Stiefmütterchen, Tulpen, Reseda im Sommer, mit Chrysanthemen im Herbst.

Herbst nämlich ist es wieder geworden und in einigen Monaten wird sich der Todestag Robert Bögeholds jähren, des »inniggeliebten Gatten und Vaters, des unvergeßlichen Bruders, Schwagers und Neffen«, wie er in der Todesanzeige genannt worden war. Binnen kurzem, ehe das Erdreich von Neuem gegen die Angriffe des Winters sich festigt und mit einer harten Kruste sich panzert, wird der Stein gesetzt werden, der zwar ebenfalls nicht unvergänglich, doch durch einige Jahrzehnte in goldener Inschrift den Schmerz und die Liebe derer künden soll, von denen vielleicht – wer weiß – der eine oder der andere bald selbst in einem Grabe ruhen wird.

Aber noch gehört ihnen der Tag und noch fordern sie, bis ihnen das sicherste, weil verbriefteste Recht zuteil werden wird, das Recht auf den Tod – noch fordern sie ihre Rechte vom Leben.

Irma und Egon sind in Stuttgart ein glückliches Paar. Der jungen Frau an der Seite ihres geliebten Gatten ist all die Munterkeit und liebenswürdige Grazie der Mädchenjahre wiedergekehrt, nachdem ihre gesunde Jugend den ersten schweren Schicksalsschlag ihres Daseins überwunden hat. Ja, es scheint, als ob jenes schmerzliche Erlebnis, das so tief die empfindsame Seele erschüttert hatte, sie jetzt den Sonnenschein ihres Glücks mit um so bewußterer Freude begrüßen lasse.

Die beiden sind wie Kinder. Sie jagen und tollen durch die Zimmer ihrer Wohnung. Irma versteckt sich, wenn er aus dem Werk heimkommt, läuft lachend davon, wenn er nahe daran ist, sie zu finden, um, endlich gefangen und besiegt in seinen Armen, sich durch das Lösegeld unzähliger Küsse zu befreien.

Mitunter aber, mitten im vergnüglichsten Übermut wird Irma plötzlich ernst und still. Sie erinnert sich, daß sie noch Trauer trägt. Doch schnell ziehen die Schatten wieder vorüber.

Sie haben sich zur Kurzweil einen jungen Hund angeschafft, einen außerordentlich drolligen kleinen Wolfsspitz, der noch im ersten lockigen Wollhaar steckt und mit seinen pechschwarzen Teufelsaugen in das Glück des jungen Paares hineinschaut. Sie spielen mit ihm. Er springt, purzelt und überkugelt sich auf den dicken Smyrnateppichen, hie und da eine Franse von der Möbelpolsterung mit den grimmen, weißen Zähnen loszerrend, hie und da wohl auch, weil noch nicht ganz stubenrein, sich vergessend. Dann kriegt er Prügel, aber zünftige Prügel von seinem Herrn. Doch über ein Weilchen streicheln sie ihm beide das weiche Fell, denn Muffi hat Abbitte geleistet und versprochen, es nicht wieder zu tun. Oft auch, wenn er Schlimmeres angerichtet hat, weiß Muffi den verdienten Schlägen raffiniert vorzubeugen, indem er unter ein Bett kriecht, unter ein Sofa oder einen Schrank und den ganzen Tag nicht wieder zum Vorschein kommt.

Gar nicht genug kann die junge Frau darüber nach Hause berichten, wie wohl und wie warm sie sich fühlt in dem Neste, das sie sich eingerichtet haben in Stuttgart, und was für Vergnügen sie hat an jedem einzelnen Möbel, an jedem Stück Wäsche, und wieviel Spaß ihr die eigene Wirtschaft macht. Überhaupt schreiben sie beide nach Berlin an die Mutter Briefe so übermütig, so lustig, so unbändig froher Laune voll, daß ein feuchter Abglanz davon in Luisens Augen sichtbar ist. Die Witwe zeigt den Verwandten die Briefe oder liest sie ihnen vor.

»Wer weiß«, sagt sie dann, »ob ich nicht sehr töricht gehandelt hätte, wenn ich zu ihnen nach Stuttgart gezogen wäre, wie sie es wollten.«

Darin vor allem gibt Kolberg ihr recht.

Nach dem letzten Willen des Erblassers führt er die Fabrik jetzt selbständig weiter mit je gleichen Gewinnanteilen für sich und die beiden Frauen. Er unterläßt nicht, an der Hand der Bücher nachzuweisen, daß die einträgliche Dampfziegelei unter seiner alleinigen Leitung noch weit besser prosperiert als früher. Warum soll er auch nicht davon sprechen? Was braucht er sein Licht unter den Scheffel zu stellen? Er rühmt sich ja nicht, um die Leistungen des Verstorbenen herabzusetzen. Im Gegenteil, er betont bei jeder Gelegenheit dessen ruhige und solide Geschäftsführung und seine Beliebtheit bei den Arbeitern, er läßt es bescheidentlich unerörtert, ob der stetig sich mehrende Umsatz darauf zurückzuführen ist, daß er, Kolberg, kaufmännischer, großzügiger zu disponieren versteht und gegebene Konjunkturen besser auszunutzen weiß. Aber unwillkürlich klingt dieses doch durch seine Worte hindurch.

Luise pflegt ihm mit einem Interesse zuzuhören, das sie früher für Geschäfte nie gehabt hat. Sie muß sich ja auch wohl jetzt mehr darum kümmern als zu Lebzeiten des seligen Robert. Sie handelt damit gewiß nur im Sinne des Verstorbenen. Dieser Gedanke ist ihr Gewissensruhe und Genugtuung zugleich.

Nach dem Unglück hat Kolberg ihr auch als helfender Freund treulich zur Seite gestanden in allen Dingen, die des Rats und der Erfahrung eines gewandten, diskreten, uneigennützigen Mannes bedurften. Bei der Ordnung des Nachlasses, bei den Auseinandersetzungen mit den Behörden, bei den Schreibereien und Laufereien hat er die praktisch unbewanderte Frau unterstützt, hat ihr Arbeiten und Unannehmlichkeiten abgenommen und jegliches Wort des Dankes auf die Selbstverständlichkeit seiner Pflichten als Freund des Hauses und als Kompagnon abgewehrt.

Auch rein menschlich ist er der trauernden Witwe viel gewesen, hat, was in seinen Kräften stand, getan, um das nach Irmas Heirat doppelt verödete Haus ihr erträglicher zu machen.

Anderen Verkehr hat sie kaum gehabt mit der Außenwelt, denn die alte, kränkliche Christine kommt nur selten herauf und ihr Bruder Oskar, wenn er vorspricht, bleibt nie länger als eine Viertelstunde, es sei denn, daß Lisbeth gerade anwesend ist, die er in sein Herz geschlossen hat. Denn Onkel Oskar fühlt sich nun einmal nur wohl mit der Jugend.

Luisens einundvierzigster Geburtstag kam und mit ihm eine freudige Überraschung. Am Tage zuvor traf ein Telegramm aus Stuttgart ein: »Ankomme vier Uhr nachmittags Anhalter Bahnhof, freue mich unendlich, Irma.«

Frau Luise Bögehold war schier kopflos vor lauter Aufregung und Glückseligkeit. Sie tat zunächst eine Menge Unzweckmäßiges und Überflüssiges. Endlich ging sie ans Telephon, ließ sich mit der Fabrik verbinden und meldete die Neuigkeit Kolberg. An den Bruder und die Tante schrieb sie Postkarten. Es genügte, wenn die es morgen erführen.

Eine Stunde schon vor Ankunft des Schnellzuges war sie auf der Station, ungeduldig mit großer Lebhaftigkeit den Bahnsteig auf- und abgehend, als könnte sie dadurch das Hereinbrausen der Maschine beschleunigen. Immerzu blickte sie auf das große weiße Zifferblatt an der rauchgeschwärzten Mauer des Bahnhofsgebäudes. Der Zeiger rückte gar zu langsam vorwärts: Noch einundzwanzig Minuten ... noch neunzehn ... noch zwölf! Ach, das Warten!

Nun hörte man den Zug schon von fern heranbrausen. Sie trat dicht an die Bordschwelle des Perrons, legte schützend die Hand vor die Augen und blickte das weite schnurgerade sich dehnende Gleis entlang.

Jetzt sah sie den Zug.

Ein Rasseln, ein Pfeifen, ein Dröhnen.

»Zurrrrück! bitte zurücktreten, die Herrschaften!«

Schnaubend fuhr der Zug in die Bahnhofshalle ein.

Einige Sekunden später hielten sich Mutter und Tochter umschlungen.

Was die beiden Frauen im Nu sich alles sagten und fragten! Und dazwischen immer neue Händedrücke, Umarmungen und Küsse.

Ein Auto, beladen mit vielen Koffern, Schachteln und Schächtelchen, führte sie rasch nach dem Belle-Alliance-Platz.

Nicht ohne ein Gefühl von Wehmut betrat Irma das Vaterhaus. Als sie durch das Zimmer ging, worin Robert Bögehold so lange krank gelegen hatte, worin er schließlich auch gestorben war, erwachte wieder greifbar deutlich in ihr die Erinnerung an jede einzelne Phase der schweren Zeit.

Luise führte die Tochter in das Zimmer, das sie als Mädchen bewohnt hatte und das während des Berliner Besuches ihr als Schlafraum bestimmt war.

Gott, wie lieb und nett und heimisch dieser Raum auf sie wirkte und dabei doch so gedächtnisfern, wie wenn nicht Monate, sondern Jahre sie davon trennten. Alles war unverändert an seinem Platze: der Schrank, die Waschtoilette, das Bett, die Bilder und Photographien, womit sie selbst die Wände behängt hatte, der Läufer, den sie eigenhändig für das Sofa gestickt hatte, die Nippes auf dem Ofensims – alles mit Ausnahme von ein paar Sächelchen, die sie mit nach Stuttgart genommen, hatte pietätvoller Sinn unverrückt und unverändert gelassen.

Irma ergriff die Rechte der Mutter und drückte sie wortlos.

»Was meinst du,« sagte die, »wie oft habe ich hier gesessen in deiner kleinen Stube und habe an dich gedacht und habe von dir geträumt und um dich geweint, als wenn ich dich verloren hätte durch deine Heirat.«

Auch die übrigen Räume der Bögeholdschen Wohnung waren unverändert geblieben. Eine Ausnahme bildete der Salon, wo die Polstermöbel frisch überzogen, einige Stücke neu angeschafft worden waren und wo sich überhaupt ein Bestreben zu modernisieren und zu renovieren bemerkbar machte. Dadurch hatte für Irma das Zimmer etwas Fremdes, Unbehagliches bekommen.

Nachdem Irma der Mutter und Lisbeth längst Gute Nacht gesagt hatte, war Frau Bögehold immer und immer wieder mit einer neuen Frage zu Irma hineingekommen: ob ihr auch das Bett so recht sei, ob sie irgendwelche besonderen Wünsche habe, wann sie morgen früh geweckt werden wolle.

Die junge Frau, sie wußte selbst nicht wieso, fühlte sich ein wenig beengt, daß die Mutter anwesend war, während sie Nachttoilette machte. Die forschenden Blicke, die ihr auf Schulter, Nacken und Armen ruhten, genierten sie ein wenig. Als dann gar, halb schelmisch, halb neugierig an sie die Frage gerichtet wurde, ob Familienzuwachs zu erwarten sei, gab die junge Frau ziemlich trocken zur Antwort, daß die Fragende vorläufig noch keine Aussicht habe Großmutter zu werden.

Jene schien mehr erfreut als enttäuscht. Ein Kind in den ersten Jahren sei auch nicht unbedingt nötig; das käme zurecht, wenn man drei, vier Jahre und länger verheiratet wäre. Freilich, entzückend sei es wohl, ja, unendlich lieb und süß, so ein kleines Wesen, aber die Angst und auch die Sorge! Nein, nein, Irma könne zufrieden sein. Die Hauptsache, daß sie glücklich sei mit ihrem Egon. Und wenn man das nicht längst schon wüßte aus ihren Briefen, so brauche man Irma nur anzusehen, um sich davon zu überzeugen. Übrigens eine herrliche Figur hätte Irma bekommen ... zum Malen ... einfach zum Malen! Ja, du lieber Gott, in diesem Alter da wäre sie auch so gewesen. Wenn sie mit dem seligen Papa auf einen Ball gegangen sei, so hätte man immer ihre Figur und ihr Décolleté bewundert. Aber jetzt würde sie leider schon ein bißchen sehr stark:

»Findest du nicht auch, Irma?«

Es war das erstemal seit Irmas Ankunft, das erstemal seit einem fast siebenstündigen Zusammensein, daß die Mutter des Vaters erwähnte. Die junge Frau hätte gewünscht, es wäre eher geschehen und in anderer Gedankenverbindung. Sie bot der allzu Gesprächigen den Gutenachtkuß, wie sie es seit ihrer Kindheit gewohnt war, froh, endlich mit ihrem Empfinden allein zu sein.

Am nächsten Morgen stand auf dem Geburtstagstisch der Witwe ein großes Blumenarrangement von weißen und roten Rosen. Die Blumen ruhten in einem geflochtenen Korbe von der Form eines Schiffes, dessen Masten mit lauter fröhlichen, buntseidenen Fähnchen bewimpelt waren. Man hatte das Geschenk schon in aller Frühe gebracht; es stammte, wie die unbeschriebene Visitenkarte besagte, von Gustav Kolberg.

Irmas Geschenk, ein lebensgroßes, nach der Photographie gefertigtes Ölbild des Verstorbenen, lehnte an der Wand und war unter Tränen der Rührung von dem Geburtstagskinde bewundert worden.

Tante Christine ließ es sich nicht nehmen, die erste zu sein von den Gratulanten. Noch echauffiert vom Treppensteigen und von der Begrüßung mit Irma küßte sie Frau Luise auf beide Wangen und sagte ihr Sprüchlein auf:

»Ich wünsche dir, daß du in diesem Jahre nur Angenehmes und Erfreuliches erleben sollst!«

Sie enthüllte umständlich einen in Seidenpapier eingewickelten Gegenstand:

»Und hier habe ich dir ein paar Blümchen mitgebracht. Und hier ...« (Sie nestelte eben so umständlich aus ihrer Kleidertasche ein kleines Etui heraus) ... »hier habe ich dir auf Porzellan in Goldfassung als Brosche das Bild des guten Robert machen lassen.«

Die also Beschenkte drückte der Geberin beide Hände: »Dank, herzlichen Dank! ... Nein, wahrhaftig, eine größere Freude konntest du mir nicht machen; das ist ja wundervoll! Das ist ... nein, das ist aber wirklich zu lieb von dir, Tante!«

»Wir haben denselben Gedanken gehabt,« rief Irma, »schau her, Tante, auch ich habe der Mama Papas Bild geschenkt.«

Die alte Dame betrachtete eine Weile das lebensgroße Porträt ohne ein Wort der Kritik. Schließlich sagte sie kopfschüttelnd, fast beleidigt zu Irma:

»Warum schriebst du mir nicht eine Zeile? Hättest du mich beizeiten davon verständigt, hätte ich auch nur eine Ahnung gehabt, so würde ich ein anderes Geschenk ...«

»Laß dich's nicht gereuen, Tante. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es bekanntlich nicht dasselbe. Meins ist ein Ölbild und deins eine Brosche,« begütigte lächelnd die junge Frau.

Mit den langsamen, bedächtigen Bewegungen der alten Leute zog Christine ihre Brille aus dem Futteral, hauchte die Gläser an, putzte sie sorgfältig mit dem Taschentuch und versenkte sich dann von neuem in den Anblick des Bildes, um abermals die Achseln zu zucken:

»Ich kann mir halt nicht helfen: Meins finde ich viel ähnlicher.«

Frau Luise und Irma tauschten ein nachsichtiges, verständnisinniges, amüsiertes Lächeln.

»Viel, viel ähnlicher! frappant ähnlich sogar!« meinte Irma mit der ernsthaftesten Miene der Welt, obwohl sie das Gegenteil dachte.

Luise wollte die Brosche am liebsten gleich anstecken, doch Christine protestierte: »Leg es nur ruhig zu den übrigen Geschenken. Ich hoffe, es kann sich schon daneben sehen lassen.«

»Und ob! ... Ob es sich kann sehen lassen! Hier, ich werde ihm sogar eine ganz bevorzugte Stelle auf meinem Geburtstagstische anweisen. Bist du zufrieden?«

Immer noch ein wenig schmollend, aber schon halb versöhnt, klang die Antwort: »Das verlange ich gar nicht; brauchst mich nicht schlechter, brauchst mich aber auch nicht besser zu behandeln als die übrigen.«

Darauf, freundlich Südwein und Naschwerk ablehnend, wandte sich die Greisin an Irma mit tausenderlei Fragen über das Leben in Stuttgart, über Menschen und Dinge, über die Wohnungsverhältnisse, über die Preise der Lebensmittel und vieles andere mehr. Sie war sehr erstaunt zu erfahren, daß Butter, Fleisch und Eier nicht um einen Pfennig billiger wären als in Berlin, ja daß sogar der Blumenkohl ebenso viel kostete wie in der Reichshauptstadt.

Wenn solche Teuerung das Entsetzen der guten Dame erregte, so fand hingegen das Blumenschiff Kolbergs ihre höchste Bewunderung; was freilich nicht hinderte, daß sie über den leichtsinnigen Menschen den Kopf schüttelte, der ein Heidengeld ausgegeben habe für Rosen, die übermorgen welk und wertlos seien: »So ein Verschwender, dieser Kolberg! Ein Bräutigam könnte seine Braut nicht nobler beschenken!«

Der Vergleich genierte Luise offensichtlich. Wie zur Entschuldigung des Sozius erinnerte sie daran, daß er ihr jedes Jahr Blumen gebracht hätte zum Geburtstag.

»Tja, Blumen und Blumen, das ist ein Unterschied,« erwiderte Christine unbeirrt. »So nobel wie dieses Mal hat er sich noch nie gemacht. Man wird ihn müssen unter Kuratel stellen auf seine alten Tage.«

Danach schwieg sie nicht von Gustav Kolberg, sie rückte ihn vielmehr immer absichtlicher in den Mittelpunkt der Unterhaltung. Sie sprach zwar nicht unfreundlich von ihm, ließ aber hie und da ein Wort, eine Bemerkung einfließen, die, ohne gerade boshaft zu sein, doch deutlich eine ironische Spitze zeigte:

»Er ist sehr galant geworden, der Kolberg, seitdem du ihn nicht gesehen hast,« sagte sie zu Irma, »fast ein wenig eitel. Er trägt die Haare jetzt numeriert, eins neben das andere gelegt über den kahlen Stellen, und den Schnurrbart hat er sich abrasieren lassen, weil er schon ein bißchen grau war.«

»Wahrhaftig?« lachte Irma ... »damit muß ich ihn necken!«

»Das würde ich nicht hübsch von dir finden!« tadelte Frau Luise. »Erstens nämlich ist es gar nicht richtig, was die Tante sagt. Herr Kolberg, wie dir erinnerlich sein dürfte, hat stets etwas auf ein adrettes Äußeres gegeben, und dann finde ich es auch in der Ordnung, daß man, je älter man wird, destoweniger sich vernachlässigt. Herr Kolberg mag ja auch seine Schwächen haben wie andere Leute ...« Hier streifte ein nicht mißzustehender Blick die alte Dame ... »Das wird man eben mit in den Kauf nehmen müssen in Anbetracht seiner vielen Vorzüge, wie man ja auch die Schwächen anderer Leute mit in den Kauf nimmt.«

»Anderer Leute ... hm, hm, das geht auf mich!« murmelte Tante Christine.

Luise fuhr in freundlicherem Tone fort und bot der Tante zur Versöhnung ein großes Stück Kuchen: »Übrigens kann ich dir die Versicherung geben, liebe Irma, daß wir alle Veranlassung haben, Herrn Kolberg von Herzen dankbar zu sein. Er hat sich so nett, so reizend benommen, er hat mit der größten Gewissenhaftigkeit und Selbstlosigkeit alle geschäftlichen Angelegenheiten nach Papas Tode zu unserem Vorteil erledigt ... zu Pontius Pilatus ist er gelaufen, hat Briefe geschrieben und Scherereien gehabt ... ich würde es nur für deine Pflicht halten ... wenn du ihm gelegentlich ein Wort der Anerkennung darüber sagtest.«

Also sprechend, brach sie eine weiße Rose ab von dem Blumenschiff und steckte sie Irma vorn an die rote Matinée.

Als Tante Christine bei dieser, wie ihr dünkte, nicht unbedeutsamen Handlung mit dem Kopfe nickte, nahm es Frau Bögehold als ein Zeichen dafür, daß die Tante wieder gutmachen wollte, was sie ihr, dem Geburtstagskinde, vorhin Kränkendes gesagt hatte. Und sie brach von dem Blumenschiff eine zweite Rose ab und steckte sie der verlegen sich wehrenden Tante an.

Sie atmete tief auf, als die alte Tante sich endlich entfernte.

Nach ihr waren noch eine Reihe anderer Besucher dagewesen, entferntere Verwandte, Freunde, Bekannte.

Um Mittag herum war auch Gustav Kolberg gekommen, in aller Eile, bloß auf einen Sprung, hatte er gesagt.

Irma hatte heimlich bei sich feststellen können, daß sein Haar erheblich nachgedunkelt war.

Und als er nun im Begriff war, sich wieder zu entfernen, da wurde durch Boten von Oskar Siewert ein verschnürter Karton nebst mitfolgendem Briefe überbracht.

Kolberg, wie immer dienstbeflissen, entknotete mit pedantischer Sorgfalt die Schnur des Pakets.

»Was mag Onkel Oskar wohl für ein Geschenk ausgetüftelt haben?« fragte Irma neugierig zuschauend.

»Irre ich mich nicht, ist es wieder ein Bild des guten Robert!« rief die Mutter.

Sie hatte recht. Es war eine Kreidezeichnung ihres verstorbenen Mannes. Sie öffnete das Schreiben und begann es vorzulesen:

»Liebe Schwester!
Zu Deinem Wiegenfeste wünsche ich Dir ... na, Du weißt ja, was alles ... und so weiter und so weiter. Das mit den Geburtstagsphrasen ist ja doch alles Unsinn ...«

»Schöne Gratulation das!« unterbrach sie der Kompagnon, indem er die Kartonschnur fein säuberlich zusammenwickelte.

Irma rieb sich vergnügt die Hände: »Das sieht ihm ähnlich! Das ist Onkel Oskar, wie er leibt und lebt!«

Auch die Witwe lächelte: »Ja, ein drolliger Kauz, mein Bruder; immer muß er so etwas Besonderes machen, immer was anderes als die anderen!«

Dann las sie weiter:

»Also, liebe Schwester, es war einmal ein junger Maler, der hatte Hunger. Er sah jammervoll aus, aber wirklich höchst jammervoll. Man konnte ihm ein Paternoster durch die Backen blasen. Da dachte ich mir: Geben wir diesem schlotterichten Raphael Brot und Arbeit. Und siehe, also geschah es, daß Robert nach seiner letzten Photographie in Kreide gezeichnet wurde. Seien wir gerecht: es ist ein bißchen verpfuscht, das Bild, namentlich Mund, Nase, Augen, Ohren und was so drum und dran hängt, aber meinen seligen Schwager wird das ja hoffentlich nicht weiter genieren ... Ich komme später auf einen Augenblick heran zu Euch, nachmittags oder abends, wenn sich der Schwarm der Gratulanten verflüchtigt haben wird. Kuchen brauchst Du mir nicht aufzuheben. Ich habe mir noch jedesmal den Magen dran verdorben an meinem Geburtstag. Auf Irma freue ich mich unbändig. Sollte sich Kolberg zufällig gerade glückwünschenderweise bei Dir aufhalten, so sag, ich laß ihn grüßen und, täuscht mein Animus mich nicht ...«

Luise hielt verlegen inne mit der Lektüre.

»Sieh da, das sind wohl gar Verse? zeig doch mal her!« rief Irma.

Rasch hatte sich Irma der Mutter genähert und der Widerstrebenden mit sanfter Gewalt den Brief weggenommen, den diese gerade in den Halsausschnitt ihres Kleides verstecken wollte.

»Gib her!« rief Frau Bögehold errötend. »So gib doch her, Irma!«

Die flüchtete mit ihrer Beute in die äußerste Ecke des Zimmers: »Aber so laß doch, Mama! was kann es denn Schlimmes sein? Wollen gleich mal sehen ... Ja, wirklich, Verse:

»So sag, ich laß ihn grüßen ...«

»Gib doch her, Irma!« sagte ärgerlich die Mutter.

Doch Irma ließ sich nicht beirren, sondern fuhr fort:

»Und täuscht mein Animus mich nicht ...«

»Hergeben sollst du, sag' ich!«

»Und täuscht mein Animus mich nicht,
Geht er auf Freiersfüßen.«

Irma sah die Witwe erstaunt an. Die stand da gesenkten Hauptes wie eine Schuldbewußte.

Auch auf den Sozius richtete Irma ihre verwunderten Augen. Der runzelte unwillig die Stirn und nagte an der Unterlippe.

War's möglich? Sollte am Ende der Scherz tiefere Bedeutung haben? Nein, die junge Frau konnte es nicht glauben, und sie wollte es auch nicht glauben.

Aber die Gesichter der beiden? Nun ja, sie fühlten sich ein bißchen peinlich berührt, das war am Ende begreiflich. Aber das mit den »Freiersfüßen« brauchte ja schließlich gar nicht auf die Mutter bezogen werden, und Irma hätte es auch nun und nimmermehr so aufgefaßt, wenn nicht eben ... Lächerlich, daran war ja nicht zu denken.

»Nichts wie Raupen hat er im Kopf, mein Bruder,« unterbrach endlich Luise das ungemütliche Schweigen.

»Übermäßig taktvoll finde ich das nicht von ihm,« sagte Kolberg, indem er die Kreidezeichnung aus der Hand legte und sich feierlich den tadellos sitzenden schwarzen Cutaway zuknöpfte.

»Ich auch nicht,« bestätigte Luise.

Irma aber begriff nicht, wie man einen im Grunde genommenen harmlosen Spaß so mißverstehen konnte.

Indessen, Gustav Kolberg ließ keine Entschuldigung gelten:

»In ernsten Dingen verstehe ich keinen Spaß,« sagte er.

»In ernsten Dingen, Herr Kolberg?«

»Jawohl, in ernsten Dingen!«

Damit verabschiedete er sich schnell. Irma blickte ihm verwundert nach, wie er, von der Mutter begleitet, ärgerlich hinausging.

Also war's ihm doch ernst mit dem Heiraten. Nun, in Gottes Namen! Wer aber mochte die Glückliche sein? Wieder stieg ihr der törichte Argwohn von vorhin auf, jener pudelnärrische Gedanke, daß am Ende gar die Mutter die Erwählte sein könnte. Das ließ ihr keine Ruhe mehr. Kaum daß Frau Bögehold wieder zur Tür hereinkam, legte sie ihr von neuem die Frage vor:

»In ernsten Dingen versteht er keinen Spaß? Was meint er damit? Hat er wirklich die Absicht, in den heiligen Stand der Ehe zu treten?«

Die Witwe zuckte die Achseln und suchte ihr Gesicht dem forschenden Blick durch eine kleine Wendung des Körpers zu entziehen.

»Und wen will er glücklich machen?«

Keine Antwort.

»Etwa gar – – dich?«

»Darauf kann ich dir heute noch keinen Bescheid geben,« klang es zögernd und kleinlaut zurück.

Irma brach in ein schallendes Gelächter aus.

Frau Bögehold, immer noch abgewandt, ließ diesen Ausbruch der Heiterkeit über sich ergehen. Da aber Irma sich nicht beruhigen wollte, und nach kurzen Pausen immer von neuem herausplatzte, tadelte sie in gekränktem Tone:

»Dazu zieht man Kinder groß, daß sie einen später auslachen!«

»Nimm mir's nicht übel, Mama, aber ... ich kann ... schau, Mutter, das kann ich beim besten Willen ... kann ich das nicht glauben.«

Unter dem Kichern Irmas, das immer wieder unterdrückt, immer wieder nach Befreiung rang, verstummte die Antwort der Mutter. Sie schöpfte tief Atem, dann, nach sichtbar innerlichem Kampfe, sagte sie in mildem, fast bittendem Tone:

»Wär's nach mir gegangen, so hätte ich dir erst davon gesprochen, wenn das Trauerjahr vorüber gewesen wäre, aber dem Oskar ist ja nichts heilig, kein Schmerz und kein ...«

Tränen spülten das Ende des Satzes hinweg. Es dauerte geraume Weile, bis sie imstande war, weiter zu sprechen: »Ich halte das Andenken des Seligen gewiß in Ehren, und sag selbst, ob ich nicht alles getan habe während des schrecklichen Krankenlagers. Keinen Schlaf habe ich mir gegönnt und keine Erholung. Keine Zeit zum Essen und Trinken habe ich mir genommen. Ich weiß, das war nicht mehr als meine Pflicht, und ich sage es gewiß nicht, um mich zu rühmen. Aber darauf verlaß dich: kommt es mal dazu mit mir und Herrn Kolberg, dann mögen die Leute reden, was sie wollen, dann ist mir alles egal!«

»Also mit anderen Worten: die Sache stimmt, Mutter?«

»Ich sage nicht ja und nicht nein heute. Ist das Trauerjahr vorbei, so läßt sich weiter darüber reden.«

»Trauerjahr? wenn dich das Trauerjahr nicht abgehalten hat, daran zu denken, so braucht es dich auch nicht zu hindern, davon zu reden,« erwiderte die Tochter schroff und kühl.

»Sei nicht lieblos, Irma! Was hab ich denn nach Papas Tode hier in meiner Einsamkeit anderes getan als fortwährend geweint! ... Natürlich, du in deinem jungen Glück machst dir keine Vorstellung davon, wie mir zumute war ohne dich und Papa in der großen Wohnung. Was auch gleich in der ersten Zeit für eine Menge geschäftlicher Ärgernisse an mich herangetreten sind und was für Sorgen ... Dinge, um die ich mich früher nie zu kümmern brauchte ... ein wahrer Segen, daß ich unseren Herrn Kolberg zur Seite hatte ... Und die Fabrik ist durch ihn auch sicher in die Höhe gekommen.«

»Nun ja, nun ja, liebe Mama. Deshalb brauchst du ihn aber doch nicht gleich zu hei – – –«

»Heiraten,« wollte sie sagen, stolperte aber über das Wort, das seit einigen Minuten mühsam verhaltene Lachen explodierte abermals gewaltsam in kurzen, ruckartigen Stößen durch ihre weißen Zahnreihen hindurch. »Ich finde den Gedanken so unglaublich komisch, ... i – i – ich k – ann es mir nicht vorstellen, daß du und Kolberg ein Paar, ein zärtliches Brautpaar ... ein liebendes Ehepaar ... Mein Gott, sag' mir bloß, liebste, beste Mama, das muß doch furchtbar spaßig gewesen sein, wie er um dich anhielt, wie du ihm das Jawort gegeben hast, wie ihr euch beide dann um den Hals gefallen seid, er mit seinen falschen Zähnen und seinen gefärbten Haaren und du mit ... deinen – achtzig Zentimetern Taillenweite! Daß ich über kurz oder lang zu ihm Papa sagen soll! zu Herrn Kolberg, mit dem ich immer so viel Ulk getrieben habe als Mädel, weißt du noch? Papierschnitzel habe ich ihm an den Rock gesteckt und die Beine habe ich ihm heimlich ans Stuhlbein gebunden. Du mußt schon entschuldigen, aber er ist immer so ein bißchen mein Hampelmann gewesen, dein Erwählter. Ich finde das komisch! nein, wirklich zu komisch!« Sie brach von neuem in lautes Lachen aus. »Jetzt um alles in der Welt stell dir vor: Ich komme mit Egon zu meinem Muttchen auf Besuch aus Stuttgart und, um zu überraschen, kommen wir unangemeldet. Da störe ich, die Tochter, dich, die Mutter und vielleicht die Großmutter, in einem zärtlichen tête-à-tête.«

Die Ärmste ließ den lachenden Spott über sich ergehen wie eine unerläßliche Vorbedingung zur erhofften Verständigung. Sie wollte Irma nicht durch Widerspruch reizen. Eine Aussprache über kurz oder lang hätte doch kommen müssen. Darum war es besser, es geschah heute als später. Kam Zeit, kam Rat. Irma würde sich schon an den Gedanken gewöhnen, der sie augenblicklich noch so sonderbar anmutete.

Doch eins wenigstens wollte Frau Bögehold zu ihrer Verteidigung anführen, ein Argument, das ihr plötzlich einfiel und von dem sie sich eine gewisse Wirkung versprach:

»Denkst du noch daran, als Frau Weber vor einigen Jahren zum zweiten Male heiratete? Weißt du noch, wie du sie damals in Schutz nahmst gegen die Lästermäuler?«

Irma wußte sich nicht zu besinnen.

»Nun, so werde ich dich daran erinnern: ›Ich begreife das dumme Gerede der Leute nicht!‹ hast du damals gesagt; ›sie ist doch noch eine ganz fesche Frau mit ihren vierzig Jahren‹.«

So logisch auch dieses Argument sein mochte, es machte keinen Eindruck.

»Möglich, daß ich das oder ähnliches gesagt habe damals« – und leise, ganz leise fügte sie hinzu: »Frau Webers erster Mann war eben nicht mein Vater!«

Die junge Frau war wieder ernst geworden, ernst und traurig. Ein paar Tränen, wie sehr sie auch dagegen ankämpfte, lösten sich aus ihren ins Ungewisse schauenden Augen, blinkten an den langen dunklen Wimpern und rieselten sacht herab an den Wangen. Ihr war, als ob sie von ferne die Stimme des Toten vernähme, die, kaum hörbar, ihr aber doch verständlich, wie in Geistertönen flüsternd, Klage führte, daß sein Andenken unter dem Glanze von Hochzeitskerzen verlösche, daß sein Hügel im Blumenschmuck des Gärtners unbeweint erblühe, daß freudig begrüßt ein neuer Herr Besitz ergriffe von allem, was sein gewesen war im Leben. Drei Geburtstagsgeschenke vervielfältigten dreimal die Gestalt des Verstorbenen, als wollte man ihn dreifach zum Zeugen des Treubruchs seiner Witwe anrufen.

Ein nervöses Zucken ging durch Irmas Körper. Sie riß sich energisch aus ihrem Grübeln auf, trat schnell an den Geburtstagstisch und drehte der Reihe nach das Medaillon der Tante Christine, die Kreidezeichnung, die Onkel Siewert geschickt hatte, und das Ölporträt, das sie selbst gebracht hatte, um, so daß das Antlitz des Vaters verdeckt wurde.

Frau Bögehold sah es.

Sie wagte dem Tun der Tochter nicht Einhalt zu bieten, sie sah es schweigend mit an und weinte.

An jenem Geburtstagsnachmittage blieben Mutter und Tochter recht wortkarg.

In solcher Stimmung fand Lisbeth die beiden, als sie nach Erledigung wirtschaftlicher Pflichten, die sie in Vertretung der Tante übernommen hatte, zu ihnen hereinkam. Sie fragte nicht, was vorgefallen wäre; sie ahnte es.

Die junge Frau ging zeitig auf ihr Zimmer.

Diesmal fühlte Frau Bögehold nicht das Verlangen, an ihrem Bette plaudernd zu verweilen, wie am ersten Abend.

Irma hatte der Mutter nicht den Mund zum Kusse geboten, wie sie es seit ihrer Kindheit zu tun gewohnt war. Am nächsten Tage suchte sie den Onkel in seiner Junggesellenwohnung auf, um ungestört mit ihm gemeinsam gegen das wahnwitzige Eheprojekt sich zu verschwören.

Siewert lehnte das Ansinnen rundweg ab.

Irma traute ihren Ohren nicht, als er sogar von dem guten Rechte der Witwe sprach, ihr Dasein nach eigenem Willen und Geschmack sich zu zimmern, zumal da keine unerwachsenen, unversorgten Kinder im Hause wären.

»Aber mein Gott, Onkel, begreifst du denn nicht, daß mir dieser Gedanke furchtbar ist?«

»Mangel an Lebensreife, mein Irmeken,« sagte Siewert und streichelte der Nichte begütigend die Hand.

»Du bist noch zu jung, zu unerfahren, du kennst die Welt nicht und begreifst sie noch nicht. Ideale, oder vielmehr Zerrbilder von Idealen aus unseligen Gartenlaubenromanen oder sonstwoher spuken dir noch im Kopfe herum, verwirren dein Urteilsvermögen. Du bist eine verheiratete Frau, du mußt dir das Leben schon ein bißchen genauer ansehen jetzt. Daß deine Mutter wieder heiraten will, was siehst du Schlimmes darin?«

»Der selige Papa wird sich im Grabe umdrehen!«

»Er wird sich nicht umdrehen, Irma ... ich gebe dir mein Wort darauf. Was ist das überhaupt für eine Torheit, die Toten als Ratgeber, als Richter der Lebenden anzurufen. Recht hat allein der Lebende, so unbedingt recht, daß der dümmste Bauer, der da atmet, in solchen Fragen mehr Beachtung verdient, als der klügste Philosoph, der tot ist. Wenn dir ein Zahn wehtut, fragst du den Toten, ob du dir den Zahn sollst ziehen lassen? Und lacht die Sonne über einem Grabe, das du beweinst, wirst du den im Grabe um Erlaubnis bitten, dich von dieser Sonne bescheinen und erwärmen zu lassen? Es gibt Leute, die gehen in kein Konzert, wenn sie Trauer haben; gedankenlose Konvention. Mit derselben Logik müßten sie sich enthalten, Reisen zu machen, Kinder zu zeugen, Kaviar zu essen. Denn das alles ist Lebenslust, die das Andenken des Verstorbenen beleidigen könnte. Deine Mutter ist dem Vater, solange er hier auf Erden pilgerte, ein gutes, treues Weib gewesen. Basta. Alles andere ist Mumpitz. Wäre sie ihm eine Xanthippe gewesen, die schönste Reue und die herrlichste Witwentrauer könnten jetzt nichts mehr gutmachen.«

»Mama ist einundvierzig Jahre alt. Bedenke, ein – und – vierzig Jahre!«

»Beneidenswertes Alter! möchte gern noch mal einundvierzig sein.«

»In diesen Jahren noch ... noch Liebesgedanken ... mein Gott, das will und will mir nicht in den Sinn.«

»Warte bis du auch so alt bist, dann wird dir das Verständnis dafür aufgehen.«

»Ach, wie ich ihn hasse, diesen Kolberg!«

»Kaum das geeignete Mittel, ihm gerecht zu werden! Was verlangst du eigentlich von deiner Mutter? Soll sie sich lebendigen Leibes verbrennen lassen, wie es einst die indischen Witwen taten?«

»Aber Onkel! Mama könnte Großmutter sein.«

»Was heißt Großmutter heutzutage! In dem Alter fangen die Frauen erst an zu leben. Und du willst, daß sie ihre Sinne abtötet und fortan ein Leben führt wie eine Nonne. Das ist Entsagung, Abstinenz, Askese, eine noch viel schlimmere Lebensverneinung, als sie dein Onkel, der Rektor, predigt. Herrgott im Himmel, wie kann man nur so unduldsam sein! Ich weiß nicht, in euch Bögeholds muß irgendwie Puritanerblut fließen. Im Westen Amerikas habe ich einmal einen Geistlichen getroffen, der einer gewissen Sekte angehörte. Er gestattete seinen Gläubigen eine zweite Eheschließung nur dann, wenn die erste Ehe kinderlos geblieben war. Und seine frommen Schafe mußten überdies das Gelöbnis ablegen, daß jede Umarmung nur dem Zwecke dienen dürfte, ein neues Lebewesen in die Welt zu setzen. Alles andere wäre Sünde. Denkst du vielleicht auch so?«

Irma mußte lachen, obwohl ihr nicht danach zumute war. Sie ließ das Thema fallen. Immerhin hatte diese Unterredung das Gute gewirkt, daß bis zur Abreise ein leidliches Einvernehmen mit der Mutter wiederhergestellt war. Vielleicht, daß es ihr schließlich doch noch in Güte gelänge, die Frau von dem nach ihrer Meinung unseligen Entschluß abzubringen.

Einige Tage darauf fuhr Irma zu ihrem Gatten nach Stuttgart zurück.


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