Maximilian Schmidt
Die Hopfenbrockerin
Maximilian Schmidt

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I.

»Vaterl, schau nur g'rad, die Pracht! Da is's ja wunderschön!«

Das war der Ausruf eines jungen Mädchens, das in Gesellschaft einer Truppe ärmlich aussehender Leute an einem schönen, aber sehr schwülen Augustabend das Sträßchen von Cham gegen Falkenstein dahergewandert kam. Bis jetzt hatte eine Waldung die Aussicht gehemmt, an deren Saum angelangt, aber eröffnete sich den Blicken der Wanderer die geradezu paradiesische Landschaft von Falkenstein. Rings umher prächtige Nadel- und Buchenwälder, im Thal saftiggrüne Wiesen, durch welche sich in sanften Windungen ein hellglitzernder Forellenbach hinzieht; inmitten des Thalkessels aber, auf einem mit mächtigen Tannen und Eschen bewachsenen kegelartigen Berg die kühn im Gevierte erbaute Warte des Schlosses Falkenstein, eine der schönsten Ruinen des Bayerlandes. Die über die westlichen Waldberge sinkende Sonne überflutete die Burgruine, sowie den Berg, an dessen Fuß sich die hübsche Ortschaft Falkenstein anschmiegt, mit rötlichem Duft. Die östlichen Wälder schienen mit purpurnen Schleiern überdeckt, und ein in allen Farbentönen prangender, sich allmählich in das Blau des Zeniths verlierender Himmel überwölbte dieses Eden, die Perle des oberen bayerischen Waldes.

8 Der ältliche, hagere und in gebückter Haltung dahinschreitende, sichtlich ermattete Mann, an welchen obiger Ausruf gerichtet war, warf wohl einen Blick auf das prächtige Landschaftsbild, aber er hatte an dessen Schönheit weniger Interesse als an der Weite der Entfernung, welche ihn noch von der Ortschaft trennte, wo Rast und Nachtherberge genommen werden sollte.

So antwortete er der Tochter nur:

»Hätt'n wir nur scho' a Nachtherberg! Mei', Traudl, i bin so viel müad!«

Müde und ermattet waren auch alle anderen, die sich in Gesellschaft der beiden befanden. Es waren durchwegs sehr arme Familien, zwei Männer abgerechnet, nur aus Weibern und Kindern bestehend, von denen die kleinsten von den Müttern auf dem Rücken, in Tüchern eingewickelt, getragen wurden. Wer kein Kind trug, war mit einem Pack belastet, in welchem sich die notwendigsten Kleidungsstücke befanden. Das war auch bei Traudl der Fall, während ihr Vater einen alten Lederranzen um die Schultern hatte. Mit Ausnahme dieser letzteren waren alle barfuß. Den Kopf hatten die Frauen durch ein dreieckiges, unter dem Kinn gebundenes, leichtes, buntfärbiges Tuch geschützt. Allen rann der Schweiß von der Stirne, einige Kinder weinten wegen Ermüdung, Hunger oder Durst, während die Eltern beschwichtigten und auf baldige Ruhe und Verpflegung in dem nun um ein gutes Teil näher gerückten Falkenstein vertrösteten.

»I muaß a bißl ausschnaufen, Traudl,« sagte der Alte. »Da lauft a Quellbach übers Straßl; a frischer Trunk wird mir wohlthun.«

Damit setzte er sich unter eine riesige, zunächst des 9 Weges stehende Eiche. Die übrigen Wanderer ließen sich dadurch in ihrem Weitermarsch nicht aufhalten.

»Kannst es nimmer damachen, Schleifer-Toni?« riefen ihm einige zu. »Gelt, gegen d' Franzosen is's halt leichter ganga als zum Hopfenfeldzug in d' Holledau?«

»Ja, ja,« entgegnete der Alte, »bin halt aa jünger gwen. Geht's nur zua, i kimm bald nachi.«

Sie gingen auch, sich nicht weiter um den Alten und seine Tochter bekümmernd, sondern nur für sich und die Ihrigen besorgt, der nahen Raststätte zu.

Es waren durchwegs Leute aus einer am Fuße des Osser gelegenen Spiegelschleife, welche infolge Uebereinkommens sämtlicher deutscher Spiegelwerke auf längere Zeit ihre Arbeit eingestellt hatte, um einer Ueberproduktion vorzubeugen. Um den Entgang des Verdienstes teilweise zu decken, wanderten nun die Leute zum Hopfenbrocken in die Holledau, wo ihrer auf etliche Wochen ein verhältnismäßig guter Verdienst wartete, zu dem selbst der leichten Arbeit wegen die Kinder beitragen konnten.

Traudl hatte sich zum Quellenbächlein begeben und füllte einen gläsernen Becher, welchen ihr der Vater aus seinem Ranzen gereicht, mit frischem Wasser.

Das Mädchen, welches die umgebende herrliche Natur betrachtet hatte, war von hoher Gestalt und einer geradezu auffallenden Schönheit, welche durch den ärmlichen, aber sauberen Anzug nicht beeinträchtigt wurde. Traudl hatte ein längliches Gesicht, mandelförmig geformte, dunkle Augen, von langen Wimpern beschattet, frische rote Lippen, welche beim Oeffnen zwei Reihen perlengleicher weißer Zähne zeigten. Um ihren mit schwarzen Zöpfen umflochtenen Kopf trug sie ein gelbes, unter dem Kinn gebundenes 10 Tuch, den Leib umschloß ein ausgewaschenes rötliches Perskleid und eine blaue Schürze.

Ihr Vater war in einen Zwilchanzug gekleidet, der zwar gewaschen, doch allenthalben die rötliche Farbe der in Glasschleifereien verwendeten roten Erde durchschimmern ließ. Als Kopfbedeckung trug er eine mit Fuchspelz verbrämte, alte schirmlose Mütze. An seinem Janker hingen die Kriegsdenkmünzen der beiden letzten Feldzüge an verblaßten Bändchen, deren Farbe kaum mehr zu erkennen war. Ein grauer Vollbart umrahmte sein blasses Gesicht, nach welchem jetzt das mit dem gefüllten Becher zurückkommende Mädchen besorgt blickte, da es bemerkte, wie schwer er atmete.

»So, Vaterl, iatz trink und wohl bekimm's dir!« sagte Traudl.

Der Alte trank den Becher leer und legte ihn dann neben sich. Auch Traudl ließ sich nun neben ihm nieder und band den Pack von ihrem Rücken los.

»Gelt, bist aa recht müd?« fragte der Alte.

»No', so passabl,« entgegnete die Tochter lächelnd. »Aber seit i den wunderschön Anblick da hab', moan i grad, i fühl mi wieder so frisch und munter, wie heut fruah, wo wir unser Roas antreten ham.« Und sie blickte wieder mit Vergnügen in die herrliche Landschaft.

»Unser Roas?« wiederholte spöttisch lächelnd der Alte, »sag, unsern Hopfenfeldzug. Hätt' freili nöt denkt, daß i's no' mal so weit bring. No', in Gottsnam, d' Füaß halten scho' no' aus, trotz die Feldzüg' – aber halt 's Herz, dös will nimmer pariern. A bißl halt no' ausschnaufen, daß's wieder in richtigen Gang kimmt.«

»Rast' di nur aus. Eh's Nacht wird, kömma ma 11 scho' no' auf Falkenstoa und i tracht' scho', daß wir a gscheite Nachtherberg kriegen.«

»In ara Streuschupfen, wenn's guat geht,« meinte der Alte. »A Bett giebt's nit für uns in dem Feldzug, wo's uns ja dennast – hat's ja am Herweg scho' g'sehgn – nur als a G'sindel betrachten. I wollt', wir wär'n scho' wieder dahoam. D' Muatta wird a Angst hab'n um uns; wenn's nur nöt wieder krank wird; und wir san so weit furt von ihr!«

»Sie is ja, gottlob, wieder guat beisamm', und d' Mändlnachbarin hat uns ja heili versichert, daß 's b'sorgt sei' will um sie, und ihra Sohn, der Fritz schreibt uns schon diemaln, wie's ihr geht.«

»Ja, der Fritz hat's uns g'hoaßen,« meinte der Alte. »Ueberhaupts hat er si brav ang'nomma um seine Landsleut, hat uns in Wolnzach beim besten Hopfenbauer eindingt, und is uns redli beig'standen mit sein' Rat.«

»Und 's G'leit hat er uns aa no' geb'n heut in aller Fruah. I glaub', er wär' am liebsten ganz mitganga.«

»Ins Hopfenbrocken moanst?« entgegnete mit bitterem Lächeln der Alte. »Wär'n ma scho' am Ziel! Der weite Weg in d' Holledau – der weite Weg!«

»Es is nöt gar so weit, Vaterl. Von Regensburg ab fahr'n ma mit der Bahn gen Ingolstadt zua, und so kömma ma leicht ans Ziel.«

»Wenn nur 's Geldei langt für d' Bahn!« meinte der Vater.

»Dös hab' i scho' auf der Seiten,« versicherte Traudl;»'s is mei' Erspart's von der Fabrik.«

»Aber halt sunst ham wir so viel wie nix!« warf der Alte ein.

12 »Wenn alle Strick reißen, verkauf i dös goldne Ringl da vom Bruada Franz,« versetzte das Mädchen, den schmalen goldenen Reif an ihrem linken Goldfinger betrachtend.

»Red nix von dem, durch den will i koa' Wohlthat erfahr'n – lieber betteln!« rief der Alte, schneller atmend.

»Vater, er is ja dei' oanziger Sohn!« beschwichtigte das Mädchen.

»Gottlob! daß i nöt mehr solche hab,« entgegnete der Vater. »Er kennt uns nimmer, seit er's zu was bracht hat. Er schaamt si, daß wir grad Schleifersleut san und hat's vergessen, daß i und 's Muaderl unser Herzbluat für eam geben hätten. Sei' Zahlung is Undank, dös schlechteste, was 's giebt auf der Welt: Undank gegen d' Eltern!«

»Aber Vater, woaßt denn nöt, daß sei' Frau an allem schuld is?«

»D' Frau? Der Mann, der an' Charakter hat, laßt si'n durch d' Frau nöt nehma. Wir ham unser Alles g'opfert, daß wir 'n was Rechtschaffens ham lerna lassen, ham 'n in d' Handelsschul g'schickt in d' Stadt, und als er firti is gwen, hat eam unser Fabrikherr an' guaten Posten z' Nürnberg verschafft. Nöt lang is's herganga, hat er si mit der Tochter von sein' Prinzipal in Verspruch geben und hat s' g'heirat. Er is a g'machter Mann worn, is Teilhaber im großen G'schäft von Kleinschwert, hat a schön's Haus, und i, sei' Vater, muaß in meine alten Tag ins Hopfabrocka wandern, auf daß wir uns Erdäpfel und a Kraut für'n Winter kaufa könna –«

»Vaterl,« beschwichtigte Traudl, »muaßt nöt so scharf 13 sei', er woaß's halt aa nöt, wie's mit uns steht, seit d' Fabrik aufg'lassen is.«

»So guat, wie wir, woaß er's. Moanst, i woaß nöt, daß eam d' Muatta verstohlns g'schrieben hat, wie i so krank gwen bin im Auswärts (Frühjahr) und d' Not am irgsten war? Um a bißl a Geld hat s' 'n bitt', daß wir die bös' Zeit überdauern kinna. I hab' sei' Antwort g'lesen, ganz zuafälli bin i dahinter kömma – woaßt, wie die g'laut' hat?«

»Vaterl, reg' di nöt auf!« bat Traudl.

»Sei' Frau erlaubt's nöt, daß er uns a Geld schickt und – wir soll'n uns halt besser einschränken und – pfui Teuf'l, i mag gar nöt dran denken!«

»Davon woaß i nix,« versetzte Traudl, über die Herzlosigkeit des von ihr geliebten Bruders errötend. »I kann's aa nöt begreifen. Aber Vaterl, wie moanst? Kannst scho' wieder marschier'n? Es möcht' spät wern, bis wir ins Quartier kömma.«

»Ja, ja, genga ma. Aber z'erst no' an frischen Trunk! Mi hat die G'schicht ganz damisch g'macht.«

Das Mädchen sah besorgt nach dem sichtlich mit Unwohlsein kämpfenden Vater, und eilte zur Quelle, um den Glasbecher zu füllen.

In diesem Augenblick kam ein offener Zweispänner die Straße von Cham hergefahren, in welchem ein in einem eleganten Sommeranzug gekleideter, etwa dreißigjähriger hübscher Mann, dessen Oberlippe ein kleines, dunkles Schnurrbärtchen zierte, saß. Er schien von der sich plötzlich eröffnenden, schönen, herrlich im Abendschein liegenden Landschaft ebenfalls überrascht zu sein und hatte sich, um 14 besser sehen zu können, im Wagen erhoben, als er des alten Schleifers und seiner Tochter ansichtig ward.

»Fehlt dem Mann dort etwas?« fragte er das Mädchen und befahl dem Kutscher, zu halten.

»Müad is mei' Vaterl vom weiten Marschieren,« erwiderte Traudl, »und übers Herz klagt er.«

»Da kann ich vielleicht helfen,« versetzte der junge Herr, sprang rasch aus dem Wagen, und eilte zu dem Schleifer hin.

»Da, nehmt einen Schluck von diesem Kognak,« sagte er, ein Fläschchen aus seiner Tasche ziehend; »das befördert die Herzthätigkeit besser als das leere Wasser hier. Trinkt nur und wohl bekomm's Euch!«

Der Alte that einen kräftigen Schluck.

»Vergelt's Gott!« sagte er dann. »Dös is an' echter, den kenn i von Frankreich her.«

»Ah, Ihr seid Veteran?« versetzte der fremde Herr, die Feldzugszeichen an des Schleifers Janker bemerkend. »Da ist es ja heilige Pflicht jedes Deutschen, Euch beizustehen in der Not. Behaltet das Fläschchen; Ihr braucht es nötiger, wie ich.«

Jetzt erst faßte er das nebenanstehende Mädchen näher ins Auge, das dankerfüllten Blickes zu ihm aufsah. Der Zauber der Unschuld, der aus diesen wunderbaren, dunklen Augen sprach, das auffallend schöne Gesicht im Verein mit der schlanken, ebenmäßigen Gestalt machten den jungen Mann im ersten Augenblick etwas verwirrt. Sein Auge war wie gebannt auf dieses Mädchen, über dessen Schönheit er die ärmliche Kleidung ganz übersah.

»Wohin geht euer Marsch?« fragte er endlich.

»Für heut auf Falkenstoa,« erwiderte Traudl, »dann weiter Regensburg und Ingolstadt zua in d' Holledau.«

15 »Da kann ich euch in meinem Wagen bis Falkenstein mitnehmen,« entgegnete der Fremde.

»Vaterl,« rief Traudl erfreut, »dös is ja a wunderbars Glück!«

Dem alten Schleifer entging es nicht, wie des Fremden Blick fortwährend mit einer Art Bewunderung auf seiner Tochter haftete. Auch er sah jetzt aufmerksam nach dem Mädchen, dessen schönes Gesicht von der untergehenden Sonne rosig angehaucht war, und in diesem Augenblick erkannte er es vielleicht zum erstenmal, wie schön seine Tochter sei, daß sie zur Jungfrau aufgeblüht, und es kam ihm der Gedanke, daß der Fremde weniger aus Barmherzigkeit gegen ihn, als aus Wohlgefallen an seiner Tochter ihm so gütig entgegenkam. Deshalb sagte er:

»I dank schön, Herr, für Enkern guaten Will'n, aber i kann's Fahr'n nöt vertragen; bald bin i wieder zamg'richt, und der kloane Weg strengt mi nimmer an.«

»Aber Eurer Tochter wär's doch lieber, wenn –«

»Mei' Edeltraud thuat dös lieber, was i will,« entgegnete der Alte bestimmt. »Also vergelt's Gott –«

Der Fremde merkte aus dem Ton des Alten wohl, daß derselbe Mißtrauen gegen ihn hatte.

»Ich hab Euch Beistand leisten wollen,« sagte er, »Ihr weist ihn zurück, also kann ich wieder gehen. Ich wünsche Euch recht gute Besserung, und Euch – Edeltraud nannte Euch der Vater? – so viel Glück, als Ihr begehrt. Lebt wohl – das Fläschchen aber behaltet: ich bitte!«

Dann begab er sich zu seinem Wagen, und nochmals seinen Florentinerhut lüftend, fuhr er grüßend von dannen. Noch einmal wandte er sich um und sah, daß Traudl ihm 16 nachblickte. Er grüßte zurück und erhielt von dem Mädchen den Gruß durch Erheben des Armes erwidert.

»Traudl!« rief der Vater, da das Mädchen wie traumverloren dastand. »Traudl, wo bist denn?«

»Bin schon da, Vaterl,« erwiderte diese rasch. »Aber moanst nöt, daß 's den braven Herrn kränkt hat, daß wir nöt mitg'fahr'n san?«

»Müaßt si guat ausnehma, wenn Hopfenbrockaleut in ara Herrenkutschen daherg'fahr'n kömmaten. Wir san auf unsere Füaß ang'wiesen. Traudl, hör, du bist iatz koa' Kind mehr. Lass' di nöt anfechten durch a schön's Wort von an' Fremden. Trau neamd und denk alleweil dran, daß die schönst Zier und der größt Reichtum von an' Deandl ihra Unschuld is. Und iatz probiern wir's wieder – d' Sunna is drunt, trachten wir aa awi ins Quartier.«

Traudl hing sich den Pack auf den Rücken, half dem Vater in die Höhe, und beide machten sich langsamen Schrittes auf den Weg. Die prachtvolle Färbung entschwand allmählich; immer mehr breiteten sich die Schatten über die Landschaft. Nur rosige Wölkchen schwebten noch auf dem goldgrünen Himmelshintergrund.

Traudl war ihrem sonst heiteren Temperament entgegen nachdenkend. War es die Rede des Vaters, war es der Blick des jungen Mannes, sie fragte sich immer wieder, was fand er an ihr?

Der Alte sprach fast nichts. Nur hin und wieder hing er sich fester an den Arm der Tochter, als fürchte er, daß sie ihm entrissen werden könnte. All seinen Gedanken gab er wohl in den Worten Ausdruck: »Liebe Traudl, i wollt, mir wären scho' wieder dahoam beim Muaderl.« 17


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