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Der allzustrenge Wunsch der Frau Schirmer sollte nicht in Erfüllung gehen. Bergwald konnte seine Identität nachweisen, zudem trat auch der Bürgermeister von Falkenstein für den Künstler ein. Es ward ein Platzprotokoll über den Vorfall von seiten des Gendarmerie-Kommandanten aufgenommen, wobei mehrere Augenzeugen ihre Erklärungen zu gunsten Bergwalds abgaben und aussagten, daß er nur aus Notwehr gehandelt habe. Dieser ward vorerst auf freien Fuß gesetzt, doch riet ihm der Bürgermeister, den Marktplatz zu verlassen, da recht wohl einige Partei für den Jäger nehmen und ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnten.
Bergwald war ohnedem willens, wegzugehen, und, nachdem er noch Nachricht über das Befinden seines Gegners eingezogen und zu seiner Freude erfahren hatte, daß die Wunde ganz ungefährlich sei, schickte er sich an, Traudl nochmals aufzusuchen, welche die unschuldige Veranlassung des Streites war, und unter dieser Thatsache gewiß zu leiden haben würde. Aber sie war nirgends zu sehen. Endlich erfuhr er, daß sie flüchtigen Schrittes und weinend den Weg nach Falkenstein eingeschlagen habe. Dorthin kehrte auch er kurz darauf in Begleitung des Bürgermeisters zurück.
Aber auch hier traf er Edeltraud nicht mehr an. Das Mädchen war in sehr aufgeregtem Zustand von der 72 »Quer« zurückgekommen und alsbald in Begleitung ihres Vaters mit dem Regensburger Boten abgereist.
Bergwald hatte sich schon früher vorgenommen, eine Fußtour über den Brennberg nach Walhalla zu machen; jetzt wurde er in diesem Vorsatz nur bestärkt. Das schöne Mädchen zog ihn förmlich nach. Schon in der nächsten Viertelstunde ging er rüstigen Schrittes Brennberg zu. Er wählte bei Postfelden den Weg durch die »Hölle«, eine wildromantische Felsen- und Waldpartie, eine der großartigsten Naturszenerien ihrer Art. Das furchtbare Getöse unterirdischer Wasserfälle, die kolossalen, auf rätselhafte Weise hergekommenen, hier liegenden Granitblöcke und Baumstrunke, das Dämmerlicht, durch riesige Fichten und Tannen hervorgerufen, die eisige Kälte, welche selbst an den heißesten Tagen hier herrscht, erklärt es wohl, daß man dieses Felsenlabyrinth, durch welches sich die Wiesent zwingt, mit der »Wolfsschlucht« vergleicht, wie man sich dieselbe im »Freischütz« vorstellt.
Der junge Künstler hatte für jetzt nur ein paar Striche in sein Buch skizziert, er nahm sich vor, morgen von dem nahen Brennberg wieder hieher zu gehen, um eingehendere Studien an dieser Stelle zu machen. Die Sonne war dem Untergang nahe, er hoffte den Botenwagen noch einzuholen. Und so eilte er den Hang des sogenannten Staufenwaldes hinauf, wie der nordwestliche Teil des vorderen Gebirgsstockes des bayerischen Waldes oder des Donaugebirges genannt wird, auf dessen erhabenstem Punkt die mächtige Feste Brennberg, ein Hochhaus in vollem Sinne des Wortes emporragt. Hier hoffte er die Gesuchte wieder zu finden.
Edeltraud hatte auf den Vorfall hin ihre ganze Fassung 73 verloren. Als sie den Sohn ihrer freundlichen Wirtsleute, wenn auch, wie sie sofort vernahm, nicht gefährlich verwundet, am Boden liegen und ihren Beschützer, den jungen Künstler, von den Gendarmen ergriffen sah, als sie die verletzenden Aeußerungen vernahm, welche über sie laut wurden, wußte sie nichts Besseres zu thun, als sich eiligst von dem Platz zu entfernen und zu ihrem Vater zurückzukehren. Dieser war ihr schon eine Strecke Weges entgegengegangen, da der Fuhrmann mit der Abfahrt drängte, weil er in Brennberg noch eine Ladung erhalten sollte.
Der alte Schleifer war aufs unangenehmste überrascht, als er erfuhr, was in St. Quer vorgefallen. Aus dem Eifer, mit welchem Edeltraud für den Künstler eintrat, erkannte er, wie dieser eine gewisse Macht über das Mädchen hatte. Was er gestern abend gleichsam ahnte, war zur Gewißheit geworden und konnte für das unerfahrene junge Mädchen verhängnisvoll werden. Doch kannte er zu seiner Beruhigung Herz und Charakter seiner Tochter genau, um hoffen zu dürfen, daß ein ernstes Wort von ihm genüge, sie gegen die Anfechtungen des jungen Mannes zu wappnen. Allerdings fiel dieses ernste Wort sehr barsch aus, worüber Traudl heftig zu weinen begann.
Werner, der Fuhrmann, suchte nach Möglichkeit zu vermitteln und drängte zur Abfahrt. Ihm that das arme Kind leid. Was konnte Traudl dafür, daß sie schön war und gefiel. In ähnlichem Sinn besänftigte er den alten Kriegskameraden.
Werners Frau versprach, den Dank der Schleifersleute für genossene Gastfreundschaft dem Schirmerschen Ehepaar nochmals zu übermitteln und Traudl zu entschuldigen, daß sie ohne Abschied von ihnen gegangen. Der Lederranzen 74 des alten Schleifers war von der wohlthätigen Frau mit Lebensmitteln gefüllt worden, denen sie ein Fläschchen Wein beigegeben, da sie schon durch Schirmer erfahren, daß der Schleifer sich durch Geschenke von Bargeld verletzt fühlen würde. Der Fuhrmann hatte die mit Decken belegten Plätze so eingerichtet, daß Traudl vorne neben ihm, deren Vater aber mehr rückwärts im Wagen zu sitzen kam. Nachdem alle ihre Plätze eingenommen, setzte sich das Gefährt langsam in Bewegung.
Werner sprach jetzt von dem und jenem, um Vater und Tochter auf andere Gedanken zu bringen.
»Daß i nöt vergiß,« sagte er unter anderm, »in der Holledau is a Kamerad von uns ansäßi, woaßt, der Michel Herrnhauser von Mainburg.«
»Der Michl Herrnhauser?« rief der Schleifer. »Ja, der war a guater Freund von mir. Den möcht i schon wieder sehgn.«
»So suach'n halt auf. I woaß, er hat große Hopfengärten, bei dem kannst glei a Arbet krieg'n.«
»Arbet hat uns unser Schullehrer scho' b'sorgt,« entgegnete Lechner. »Alle von der Schleif könna ma dort einsteh'n.«
»Dernthalben kannst ja unsern Kameraden dennast aufsuachen,« meinte der Fuhrmann.
»Wenn er si halt nöt schaamt mit mir, an' Hopfenbrocka, an' arma Teufel –«
»Ah was! Die Arma und die Reichen ham zamg'holfen im Frankreich zum großen Sieg, und – es is ja hart, daß ma' im Alter so gern vergessen wird. Aber a Schand is d' Armut nöt. Geh nur auf Mainburg und 75 richt' an' Gruaß von mir aus. Er laßt 's dir an nix feihl'n.«
Und da der Fuhrmann sah, daß Traudl noch immer sehr traurig war, richtete er seine Rede mehr an sie und zeigte ihr einige Merkwürdigkeiten, die man von der Straße aus sehen konnte. So deutete er mit der Geißel nach einer kleinen, am Hang des Berges stehenden Kapelle und erzählte, daß dort ein ganz merkwürdiges Bild aus Holz gemalt zu sehen sei, welchem eine sogenannte wahre Begebenheit zu Grunde liegen solle. Ein Mädchen aus der Umgegend habe sieben Jahre hintereinander unehelich geboren und jedesmal das Kind in die unterirdischen Gewässer der »Hölle« versenkt. Da sei dieser unnatürlichen Mutter endlich die Reue gekommen und sie habe in der Klosterkirche des nahen Frauenzell dem Priester ihre Verbrechen gebeichtet. Dieser wollte sie lange nicht absolvieren, auf ihre sichtlich wahrhafte Reue hin aber erteilte er ihr die Absolution unter der Bedingung, daß sie das erste Tier, welches ihr auf dem Heimwege begegne, küsse und dann sieben Jahre lang mehrere Stunden des Tages Bußgebete verrichte. Das Weib trat den Heimweg an. Da lag auf der Straße eine große Natter, welche sich in der Sonne wärmte. Dem Spruch des Priesters gemäß, suchte die Sünderin das Tier zu küssen. Kaum war dies geschehen, ringelte sich die Natter auf und biß sich blitzschnell im Nacken der Aermsten fest. Diese, von heftigem Schmerz gequält, war nicht imstande, das Reptil zu entfernen; auch niemand anderer vermochte es. Die giftige Natter saugte dem Weibe alles Blut aus; sieben Jahre lang mußte sie dies unter heftigen Schmerzen dulden, und erst, als ihr die letzte Lebenskraft ausgesogen war, sank das 76 Tier herab, zugleich war aber auch die Büßerin von ihren Schmerzen und ihrem Leben erlöst.
»Was an der G'schicht wahr is, woaß i nöt,« schloß der Fuhrmann seine Erzählung. »I für mein' Teil glaub's amal nöt. Aber so oft i dös Bild sehg, geht's mir lang nachi.«
»I glaub's aa nöt,« sagte Traudl, die trotz ihres Jammers aufmerksam zugehört hatte; »so grausam is unser Herrgott nöt, an' reuigen Sünder ge'nüber.«
»Recht hast,« meinte der Fuhrmann. »Grausam san grad d' Menschen. Was ham die in der guaten alten Zeit für Martern ausg'sunna! Anemal muaß i dran denken, wenn i so an' alte Burg siehg, von dene jede ihr Burgverließ hat, und oft an die Marterwerkzeug, wo aufg'hoben san von dera Zeit her, wo's Herrn und elende Knecht geben hat. Da is unterhalb Frauenzell dös alte Gschloß am Hailsberg, wo a Raubritter ganz greuliche Missethaten ausg'führt hat. Da geht d' Sag', daß er als Geist umirrt und auf Erlösung warten muaß, bis a Tanna, die aus'n Wartturm 'rauswachst, so hoch is, daß ma aus ihrem Stamm Bretter zu ara Wiegen sägen kann. Der Bua, der in dera Wiegen liegen wird, muaß zum Priester g'weiht sei', und dem sei' fromm's Gebet erst kann dem Geist Erlösung bringa.«
»Dös san alles Sagen,« meinte der Fuhrmann dann. »Aber in Brennberg – dort schaugt's scho' awa – da is a wirkliche Thatsach' denkwürdi'. Oana von die ersten Brennberger Grafen (Reimar II.) hat a wunderschöne Tochter g'habt und die is a Hoffräul'n g'wesen bei der Frau von an' bayrischen Herzog, i moan, Ludwig den Strengen ham's 'n g'hoaßen.«
77 »Die G'schicht kenn' i,« fiel Traudl ein; »i woaß's no' von der Schul her. Von da is's dahoam gwen, die unglückli Helika?« Mit größtem Interesse blickte sie zu der Burg empor.
»So erzähl's,« forderte sie ihr Vater auf.
»Ja, erzähl's,« fügte auch der Fuhrmann. »Du woaßt es leicht besser, wie r i.«
Und Edeltraud erzählte angesichts der heimatlichen Burg das tragische Schicksal dieses Edelfräuleins.
Marie von Brabant war die junge Gemahlin Herzog Ludwigs II. von Bayern, sie war ihm erst vor kurzem angetraut worden, und der Herzog liebte sie sehr. Doch mußte er sie verlassen, um gegen die adeligen Raubritter ins Feld zu ziehen, deren Burgen er brach. Während dieses Feldzuges begleitete ihn als Feldhauptmann ein Graf von Hirschau, welchem die junge Herzogin die Sorge um ihren Gemahl angelegentlich empfohlen hatte, denn der Herzog war jähzornig und ließ sich leicht zu einem unüberlegten Schritt hinreißen. Deshalb hoffte sie von dem ruhigeren Feldhauptmann, daß er über ihren Gemahl wachen werde.
Die junge Fürstin lebte während dieses Feldzuges auf dem Schlosse Donauwörth nur in Gesellschaft ihres Hoffräuleins, eben dieser Helika von Brennberg, beschützt von dem Burgvogt und nur wenigen Dienern. Als sich die Abwesenheit des Herzogs weit über die bestimmte Zeit verlängerte, beschloß sie, ihn zur Heimkehr zu bewegen. Sie schrieb an ihren Gemahl einen Brief mit den Versicherungen ihrer heißesten Liebe und Sehnsucht und beschwor ihn, bald zu ihr zurückzukehren. Zugleich mit diesem Briefe sandte sie einen solchen an den Feldhauptmann, in welchem sie den Grafen bat, seinen ganzen Einfluß aufzuwenden und 78 den Herzog zur Heimkehr zu veranlassen. Die beiden Briefe siegelte sie, da der Ueberbringer des Lesens unkundig war, auf verschiedene Weise. Der an den Herzog trug ein rotes, jener an den Grafen, der ihm aber insgeheim übergeben werden sollte, ein schwarzes Siegel. Der Bote verstand unglücklicherweise falsch. Der Herzog erblickte, als der Ueberbringer den Brief überreichte, in dessen Tasche das zweite Schreiben. Auf die Frage, für wen es bestimmt, wollte der Bote nicht gleich mit der Antwort heraus, gestand aber dann, daß es für den Feldhauptmann bestimmt sei. Der Herzog riß das Siegel entzwei und las mit steigender Verwunderung den zärtlichen Brief seiner Gemahlin, welcher für ihn selbst bestimmt, den aber der irregeführte Herzog an den Grafen gerichtet glaubte. Sofort erfaßte ihn heftiger Argwohn, und in unbändiger Wut streckte er den Boten tot nieder, so daß dieser seinen Irrtum nicht mehr eingestehen konnte. Dann warf er sich, ohne das andere Schreiben gelesen zu haben, in blinder Leidenschaft aufs Pferd und raste gegen Donauwörth. Den Schloßvogt durchbohrte er mit seinem Schwert. Helika von Brennberg, welche ihm von der Herzogin zur Begrüßung entgegengeschickt worden, ließ er von der Zinne des Turmes hinabstürzen. Dann kam die Reihe an die Herzogin selbst, welche er, ohne sie zu hören und von ihr Rechenschaft zu fordern, noch in derselben Stunde im Burghof enthaupten ließ. (18. Januar 1256.)
Bald sollte der Herzog sein Unrecht einsehen, der zweite Brief, den ihm der Feldhauptmann sofort nachgesendet, überzeugte den Herzog von der Unschuld seiner Gemahlin, leider zu spät. Seine Reue über den an ihr verübten Mord war so groß, daß ihm binnen wenigen 79 Tagen das Haar weiß geworden war. Durch schwere Bußübungen und eine Pilgerfahrt nach Rom suchte er die wilde That zu sühnen und das Kloster Fürstenfeld bei München verdankt dieser Sühne sein Entstehen. Im Volke aber nannte man ihn von dieser Zeit an den »Strengen«.
Edeltraud hatte ihre Erzählung beendet; die Männer machten ihre Bemerkungen über jenes Vorkommnis, während die Pferde langsamen Schrittes den Wagen den Berg hinaufzogen, auf dessen oberstem Teil chaotisch übereinander gestürzte Blöcke porphyrartigen Gesteins aufgetürmt sind, welche auch den Untergrund der stolzen Burg bilden, während sich unterhalb derselben ein zweites, jetzt ruinenhaftes Schloß auf einem ungeheuren Granitblock erhebt, an welchen sich dann die etwa 380 Einwohner zählende Ortschaft mit dem weit bekannten Brau- und Gasthaus »Zum Rabel« schmiegt.
Hier machte der Fuhrmann Halt, um neue Ladung aufzunehmen. Der Schleifer-Toni begab sich inzwischen mit seiner Tochter in die Gaststube, um eine Erfrischung einzunehmen. Traudl aber erinnerte sich daran, daß ihr der Maler gesagt, sie könnte von der Hochburg Ausschau halten nach ihren heimatlichen Bergen. Es war höchste Zeit hiezu, denn schon war die Sonne im Untergehen begriffen. Der alte Schleifer hatte nichts dagegen, als ihm die Tochter ihren Wunsch mitteilte und er sagte nur:
»Grüß mir d' Waldlerberg und 's Muatterl!«
Das Mädchen eilte den Burgberg hinan, von dem man südwärts die große Donauebene bis an die Alpen hin, im Osten und Norden das Bergrelief des Bayerwaldes und der Oberpfalz überschaut. Traudls Augen hafteten sofort auf den wie mit Purpur übergossenen 80 Waldbergen, dem Osser, Arber, Rachel und dem langgestreckten Hohenbogen, vor dem sich der runde Turm der Ruine Lichtenegg wie ein Vorposten ausnahm, der den historisch berühmten Paß von Neumark bewacht.
Traudl warf Kußhände nach den Bergen hin und ihre 81 Augen füllten sich mit Thränen. Ein mächtiges Heimweh ergriff sie nach der Mutter, nach diesen Bergen.
Das Bild des Mändelfritz, des jungen Lehrers, stand ebenfalls vor ihr. Seit Frau Schirmer heute morgen jene Herzensfrage an sie gestellt, erschien ihr vieles erklärlicher und dennoch unklar.
Ueber dem Ossergebirge stieg die hellgelbe Vollscheibe des Mondes empor, es dünkte ihr wahrlich, wie ihr der Künstler gesagt, wie ein Gruß aus der Heimat – aber froh, wie Bergwald meinte, froh machte sie das alles nicht. Sie mußte jetzt wieder an den jungen Mann denken, der ihretwegen ins Unglück geraten, ihretwegen, eines so unbedeutenden Mädchens halber, einer Bettlerin, die nichts für ihn sein konnte und durfte.
Derjenige, dessen sie in diesem Augenblick mit Rührung gedachte, rief sie jetzt mit den Worten an:
»Nun, Edeltraud, gefällt es Ihnen hier oben nicht?«
Traudl stieß einen Ruf freudigen Schreckens aus und sie wußte kaum, was sie that, als sie dem jungen Mann die Hand hinreichte, und rief:
»Gott sei's gedankt, daß Sie frei san! Wie mi dös freut! Ja, jetzt g'fallt's mir da, jetzt scho'!« Dabei wischte sie sich mit der freien Hand die Thränen von den Wangen, die unaufhaltsam über dieselben herabperlten.
»Warum weinen Sie?« fragte Bergwald, sie glücklich anblickend.
»Warum? I woaß's selm nöt. An Ihna hon i denken müassen und es hat mi g'schmerzt, daß i die Ursach war von dem Unglück. Gelt, Sie san mir nöt bös deswegen – i kann nix dafür. No', daß S' nur wieder frei san! Jetzt bin i schon wieder tröst', jetzt wird mir wieder leichter 82 ums Herz. Jetzt g'fallt's mir da. Sehen S' dort, wo der Mond aufsteigt, grad über die zwei Osserspitzen, dort am Fuaß vom Berg is unser Hoamat, dort is's so friedli, so schö'! Und d' Muatta schaugt leicht in dem Augenblick aa auffi zum Herr Ma' (Mond), wie 's bei uns drin sagen und schwant's (ahnt) vielleicht, daß i dessell thua. I freu' mi scho' recht wieder auf hoam.«
»Ich verstehe das,« meinte der Maler. »Nun, Ihre Abwesenheit währt ja nur kurz. Ich aber möchte Sie um etwas bitten. Singen Sie angesichts Ihrer herrlichen Waldberge das Lied, das Sie gestern abend sangen. Wollen Sie mir die Freude machen?«
»Dös Lied von Mändlfritz? Gern, recht gern! Jetzt sing i und lach i wieder, weil nur – Aber was is's denn mit'n Muckl?« unterbrach sie sich dann. »Die Schirmer Leut war'n so guat mit uns. 's wird eam do nöt ans Leben ganga sein?«
»Gott sei Dank! Nein. Er ist nur leicht verwundet und kann vielleicht schon morgen wieder Dienst machen. Ohne gerichtliche Verhandlung wird es freilich nicht abgehen, aber es wird gnädig ausfallen. Seien Sie ganz unbesorgt und singen Sie.«
»Aber i bin halt dran schuld!« meinte Traudl in sie selbst vorwurfsvoll treffendem Ton.
»Lassen Sie das! Es wird alles wieder gut; glauben Sie mir!«
»Ja, Ihna glaub i,« versicherte Traudl. Und mit wieder freudigerem Blick die Heimatsberge betrachtend, fing sie leise zu singen an:
»Beim Burgstall, Arber und beim Ossaspitz
Dort is mei' allerliebster Heimatsitz usw.
83 Der Künstler sang die ihm nun schon bekannte einfache Melodie mit. Als die schönen Klänge verhallt, blickten beide schweigend nach der Pracht am Himmel und auf Erden – ihre Hände hatten sich unwillkürlich gefaßt. Kein Wort unterbrach die Weihe der folgenden Minute.
Jetzt wurde nach Traudl gerufen. Es war die Stimme ihres Vaters.
»I muaß geh'n,« sagte sie mit dem Ausdruck herzlichen Bedauerns. »Die Fahrt geht weiter.«
»Leben Sie wohl, Edeltraud,« versetzte Bergwald. »Gott geleite Sie und erhalte Sie, so wie jetzt, für immerdar.«
Traudl sah ihn mit ihren frommen Augen an. Ein ganzer Himmel sprach für Bergwald aus diesem Blick
»B'hüt Gott!« sagte sie. »I werd' an Sie denken, so lang i leb.«
»Wir sehen uns wieder! Bald, bald!« entgegnete Otto bewegt.
Sie eilte den Burgberg hinab. Der Fuhrmann war zur Abfahrt bereit. Der Vater saß bereits auf dem Wagen. Sobald auch sie Platz genommen, ging es von dannen, in die helle Mondnacht hinein. Außerhalb des Ortes vernahmen die Reisenden vom Burghügel herab deutlich einen Gesang, das Lied vom Bayerwald. Mit angehaltenem Atem lauschte Traudl. Als der Sänger geendet, schickte sie einen hellen Juhschrei hinauf zu der Stätte, wo dieser sich befand.
»Dös laß i mir g'falln,« meinte der leutselige Fuhrmann. »Juchezen schickt si scho' ehnder für so a jungs Bluat als wie's Flenna. Jetzt g'fallst mir wieder, Deandl!«
84 »Was hat di denn so schnell g'wend't?« fragte freundlich der Vater.
Das Mädchen erwiderte: »I woaß 's nöt z' sag'n, Vater.«
»Der G'sang is's halt,« meinte dieser. »Ma' sollt's nöt glauben – kennt ma' dös Lied vom Mändl-Fritz so weit heraußen! Dös wird 'n gfreun, wenn er's hört!«
Traudl schwieg. Sie dachte des Sängers, sie wußte, der Gesang hatte ihr gegolten. Wie sie das freute.
Bald nahm der Staufer Forst das Fuhrwerk auf. Das Mondlicht flirrte um die Wipfel der riesigen Fichten und Tannen und spielte in den Blättern der mächtigen Buchen längs der Straße. Am Himmel erglänzten die Sterne. Sie dünkten Traudl noch nie so schön wie heute, und mit glücklichen Gefühlen blickte sie zu ihnen hinauf.
Infolge öfteren längeren Aufenthalts und Aufnahme von Frachtstücken in den am Wege gelegenen Ortschaften ging es schon stark dem neuen Tag entgegen, als das Fuhrwerk die letzte Strecke des bewaldeten Vorgebirges längs des fürstlich Taxisschen Tiergartens hinabfuhr zur Donauebene. Die Sonne stieg über die östliche Gebirgskette herauf, die mit hellgrünem, gleichsam bengalischem Licht überflutet war, der breite Strom, von großen Frachtschiffen belebt, schien flüssiges Gold zu sein, und rosige Wolken zogen am lichtblauen Himmel dahin, als hätten sie sich geschmückt zum festlichen Empfang der herannahenden Königin des Tages. Jetzt ertönte es wie ein feierlicher Choral. Von nah und fern hörte man Geläute zum Ave Maria. Es klang so wunderbar durch die klare Morgenluft. Von diesseits und jenseits der Donau, selbst bis vom Regensburger Dom her tragen die Tonwellen die 85 mächtigen metallenen Klänge und vereinigten sie mit den übrigen zur Andacht erregenden Gottesfeier.
»'s kimmt mir vor, als wär's an' andere Welt!« sagte Traudl, nachdem sie ihre Morgenandacht vollendet und staunenden Blickes den breiten Strom und die endlose Ebene jenseits desselben betrachtet.
»Ja,« meinte der Fuhrmann, »so über Nacht da ändert si gar viel.«
Traudl nickte beistimmend mit dem Kopf. Viel hatte sich über Nacht nicht nur in der äußerlichen, sondern auch in ihrer inneren Welt geändert, viel, seit Otto Bergwald sie so innig angeblickt und ihr die letzten Worte zugerufen: »Bald! bald!«
Sie konnte sich diesen süßen Gedanken nicht lange hingeben. Der Vater machte sie auf den zur Rechten der Straße auf der Höhe prangenden Prachtbau der Walhalla aufmerksam, deren weiße Marmorwände jetzt rosig angehaucht waren. Mit Bewunderung blickte sie zu dem Tempel mit der breiten Marmortreppe auf, sie hatte ihn schon im Bild gesehen und konnte sich jetzt kaum satt schauen an der Großartigkeit und Pracht dieses Baues, dessen Schöpfer König Ludwig I. war.
»Wennst erst eini kämst, da würest schauen,« meinte der Vater. »I bin etlimal oben g'wen, wie i z' Regensburg in Garnison war. Es san die Büsten drin von die berühmten Leut, so lang ma 's Deutschland denkt.«
»Und der letzte, der z'nachst eini komma is, dös is der Kaiser Wilhelm g'wen,« fuhr der andere Veteran fort. »Ma ham 'n gar oft g'sehg'n drin in Frankreich. Hellseiten! Dös war a Mann, und der Moltke dazu und 86 nacha der Bismarck, so a Kleeblattl giebt's alle hundert Jahr nur oamal, wenn's g'wiß is.«
»Und dennast wern's diermal g'schänd't, daß 's a Graus is,« meinte der Schleifer.
»Von wem denn?« fragte der andere. »Nur von solche, die während 'n Krieg hinter'm Ofen g'sessen san und hintnach gar no' lieber g'sehgn hätten, daß wir d' Schläg' kriegt hätten. No', die wereten g'schaut haben, wenn dös afrikanische G'sindel ins Land kömma wär und alles ausg'sogen hätt', alles plündert, Weib und Kind nöt g'schont, und wir 's sobald aa nimmer weiterbracht hätten. Da, Bruader, wereten's anders g'sunga hab'n! Gottlob! daß 's nöt so kömma is. Und so oft i da vorbeifahr und die Walhalla dort oben seh', bild i mir ein, sie stellt 's deutsche Reich vor, an dem die Boarischen – wir, d' Elfer san aa dabei g'wen – mitbaut ham, daß 's der Prachtbau wor'n is, wie'n die ganz Welt jetzt anstaunt – an' ewig's Werk!«
Und sofort begann er sein Lieblingslied zu singen: »Deutschland, Deutschland über alles,« in welches sein Kriegskamerad und dann auch Traudl kräftig einstimmten und erst zu singen aufhörten, als sie die ersten Häuser von Donaustauf erreicht hatten, in welchem Ort sich die Sommerresidenz des Fürsten von Thurn und Taxis befindet.
Am Fuß des Schloßberges vorüber, auf dem sich die schöne Staufer Ruine zeigt, ging es nun dem altehrwürdigen Regensburg zu, das mit seinen herrlichen, weißschimmernden gotischen Türmen die Nahenden begrüßt. Noch war es die Fahrt über die steinerne Brücke und der Blick von dort nach der zur Linken von den Vorgebirgen 87 des bayerischen Waldes begleiteten Donau, welche Traudl einen Ausruf des Entzückens entlockte, dann ging es hinein in die uralte Stadt mit ihren engen Gassen, zum Einkehrhaus des Boten.
Nach einem ergiebigen Frühstück, mit welchem der Falkensteiner Veteran seine Fahrgäste traktierte, und nach herzlichem Dank und Abschied von dem treuen Kameraden machten sich Vater und Tochter sofort auf dem Weg zum Bahnhof, um mit dem nächsten nach Ingolstadt abgehenden Zug ihrem Bestimmungsort zufahren zu können. Dank der in den letzten Tagen freien Bewirtung hatte das Bargeld bis Wolnzach ausgereicht, und da durch die Fürsorge der Botenfrau auch noch der Lederranzen des Schleifer-Toni mit Lebensmitteln gefüllt war, fuhren sie, frei aller Sorgen und in heitersten Stimmung, dem gesegneten Hopfenland zu, der Holledau. 88