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2. Kapitel

Nachdem Florian einen ganzen Tag durch steiniges, verbranntes Land geirrt war, kam er am Abend in ein armseliges Dorf, dessen Bewohner in Erdhöhlen und dürftigen Lehmhütten wohnten. Von dem dünnen Minareh der niedrigen Moschee aus hatte eben der Muezzin die Stunde zum Abendgebet ausgerufen. Vor den Höhlen und Türen sah man einzelne Männer knien und sich auf ausgebreiteten Teppichen gen Osten neigen. Hinter dem Dorf lag ein niedriger Lehmhügel, auf dem eine einsame Hütte stand. Vor ihr hockte ein Mann in der gelben Abendsonne. Als er Florians ansichtig wurde, winkte er ihn herauf. Dieser folgte dem Wink und erkannte den mohammedanischen Asketen, den er neulich in der Kirche in dem Büchlein lesen gesehen. Der Hockende erhob sich. Seine lange magere Gestalt umgab ein gelbes Leinengewand. »Ich habe dich erwartet,« sagte er. »Bleibe bei mir. Meine Lehre ist so, daß ein verständiger Mensch, nachdem er den Widersinn der Welt erfahren, sie erkennen und darin Meister werden kann.«

Was sollte Florian tun? Seine Füße waren müde, sein Geist verworren und seine Seele wund. So teilte er die Hütte des Scheichs, nährte sich wie er von dem harten Brot und den dürftigen Gewächsen, welche die Dorfbewohner in frommer Scheu brachten, schlief auf hartem Lager, ließ sich im Sommer von der Sonne dörren und wusch sich im Winter in einer eiskalten Quelle. Die Lehre des Scheichs aber war so: »Es gibt nur Eines, das ist Gott, und dieses Eine kann jeder erkennen und bekennen, der die Finger zur Faust zusammenschließt und nur den Zeigefinger emporhebt. Auf der flachen Hand liegen Wollust und Streitlust, diese müssen von den Fingern erdrückt werden. In den Fingern selbst aber liegt Sehnsucht und Berechnung, Schöpferlust und Vernichtungstrieb; darum muß sich auf sie die Handfläche pressen. Nur der eine Zeigefinger rage frei empor, denn in ihm ist die Einheit Gottes.«

Drei Jahre lang saß Florian mit zusammengekrampften Händen neben dem Scheich auf dem Gebetsteppich, und richtig, es gelang ihm alles dessen, was früher seinen Geist verwirrt und sein Herz gequält hatte, Meister zu werden, in der Erkenntnis, daß alles Vielfältige der Erscheinung eines ist im Sein Gottes. Aber im geheimen dachte er: Der Scheich kennt nicht die ganze Lehre. Eines Tages sagte er: »Durch mich selbst wird mir etwas offenbar, was ich nicht mit den Fingern und der Handfläche erdrücken kann, weil es göttlich ist, und was doch auch nicht in der Einheit des erhobenen Fingers ausgedrückt wird. Wie willst du das erklären?« »Es kann nur teuflisch sein,« erwiderte der Scheich schnell, »wenn es nicht begriffen ist im Zeichen des aufgehobenen Finger.« »Es ist nicht teuflisch,« erklärte Florian. »Deine Lehre führt nur zur Beherrschung der Gedanken und Begierden, nicht zur Seligkeit.« Und Florian verließ den Scheich und wanderte weiter nach dem Fuß des Gebirges, das bläulich am Rande des gelben Wüstenlandes hinzog.

*

Nach einigen Tagen vernahm Florian seit langer Zeit zum erstenmal wieder das Rauschen eines Hains und das Flüstern kleiner zwischen den Stämmen hinquellender Bäche. Langsam stieg er aufwärts über den lockeren Waldboden, während er dem Gezwitscher der Vögel und dem Summen der Insekten lauschte. »Wie habe ich doch alles dies bei dem Scheich vergessen können?« fragte er sich, und ihm wurde plötzlich wieder zu Mute wie in jener Dämmerstunde vor der alten Kreuzfahrerkirche. Jubelnde, brünstige Lust zum Dasein erfüllte ihn, und zugleich wußte er, daß es Gott war, den er vernahm, aber nicht der Gott des Scheichs, der nur im Zeigefinger lebte und alle anderen Finger in die Fläche der Hand zu pressen befahl. Während Florian verzückt und wie fragend in das Waldinnere schaute, war ihm plötzlich, als fügten sich die braunen Zweige und das Blätterwerk zu einem bärtigen Menschenantlitz, das ihn still betrachtete. Er erschrak heftig, aber schnell beruhigten ihn die freundlichen blauen Augen des fremdartigen Antlitzes und der breit lächelnde rote Mund. Er trat näher und sah hinter den Bäumen eine kleine Holzhütte und davor einen viereckigen gerodeten Platz, auf dem sorgfältig Gemüse und Blumen angebaut waren. An einem Stamm war eine Ziege gebunden, die jener bärtige Mann molk. Florian erkannte in ihm den russischen Mönch, der in der Kirche den betenden Scheich selig umschwebt hatte.

»Ich habe dich erwartet, Väterchen«, sagte jener, »das Mahl ist gerade bereit, setze dich dort vor die Hütte. Ich komme gleich zu dir.«

Florians anfängliches Erstaunen wich einem plötzlichen Erinnern, als habe er dies alles schon einmal vor Urzeiten erlebt, oder als sei es ihm längst so vorausgesagt worden. So folgte er dem Mönch, ohne ein Wort zu sagen, als spiele er eine ihm wohlbekannte Rolle in einem Bühnenspiel.

Der Mönch brachte ein zinnernes Becken, in dem sich Florian die Hände wusch. Dann aßen sie von den Erzeugnissen des Gartens, Brot und Käse und tranken einen leichten Wein. Der Mönch war lustig und pries seine Gaben mit kindischer Freude. Nach dem Essen schlug er Florian auf die Schenkel und sagte: »Während der heißen Nachmittagsstunden wollen wir ruhen, Väterchen. Später, wenn es kühl wird, legen wir uns unter die Bäume, und ich sage dir meine Lehre. Sie ist so, daß ein verständiger Mensch, nachdem er das unnütze Leid dieser Welt erfahren, sie erkennen und darin Meister werden kann.«

Florian legte sich auf ein einfaches Lager und schlummerte ein unter den heimlichen Geräuschen der Waldbäume. Er schlief traumlos und tief, wie niemals in der Hütte des Scheichs, wo sein Schlaf stets unruhig und von Träumen gequält gewesen war. Beim Erwachen aber war ihm zu Mute, als sei er während der zwei Stunden durch die kühle Tiefe der sommerlichen Erde gefahren und habe den Gott berührt, den der Scheich ihm verschwiegen hatte. Der Mönch brachte ihm schwellende Früchte an das Lager, bot sie ihm an, und biß selber mit seinen starken Zähnen in das kühle süße Fleisch, so daß der Saft ihm in den langen braunen Bart perlte.

Florian blieb bei dem Mönch, nährte sich mit ihm von den Gewächsen seines Gärtchens und der Milch der Ziege. Häufig brachten fromme Wallfahrer dem heiligen Mann ein Huhn, einen Fisch oder andere Leckerbissen, die der Mönch, lachend vor Lust über Gottes gute Gaben am Feuer des Herdes sorgsam zubereitete.

Solange der Sommer währte legten sich beide täglich entkleidet in die Sonne einer Waldblöße und kühlten sich dann in dem Bach; der etwas fette behaarte Mönch brüllte und stöhnte vor Wonne, wenn ihn das lebendige Wasser überrieselte, und die Vögel flatterten erschreckt auf. Im Winter verbrannte er Baumstämme in dem Ofen und bereitete Thee, den gläubige Verehrer auf langen Pilgerfahrten gebracht hatten. Oft setzte er sich abends an eine Orgel und sang dazu mit tiefem Baß, weltlich und geistlich, und Florian war, als schwebe er mit ihm über schründiges Felsenland und blumige Auen, so wie er ihn einst in der Kreuzfahrerkirche durch die Luft fahren gesehen hatte. Am Vorabend der Feste sperrte er sich mit Florian in eine überheizte Zelle, und wenn sie beide in Schweiß gebadet waren, dann schöpfte er aus einem dunklen Faß kaltes Wasser und übergoß Florian, der dann ihn übergießen mußte, und dabei sprang er wie im Sommer im Bad brüllend vor Lust umher, daß die ganze Holzhütte durch den winterlichen Wald dröhnte, als sei hier ein wilder Bär gefangen.

Die Lehre des Mönches aber war so: »Es gibt nur Eines, das ist Gott, und dieses Eine kann jeder erkennen und bekennen, dessen Seele rein ist wie die eines Kindes. Seine Seligkeit preist die Gaben Gottes, und die Streitenden überwindet er durch sein freundliches Auge. So hält er in sanft geschlossener Hand die bösen Geister der Wollust und der Streitsucht gefangen. Statt Sehnsucht und Berechnung hat er Vertrauen, und Gott gibt ihm stets gerade das, was er braucht, wie den Lilien auf dem Feld. Statt zu schaffen und zu vernichten, schaut er Gott an in seinen Werken, und alles was geschehen soll, geschieht von selbst; statt über Gottes Wesen zu grübeln, lobsinget er um die Wette mit den Vögeln.«

Drei Jahre blieb Florian bei dem Mönch und pries mit ihm Gott in täglicher Freudigkeit und genoß seine Gaben reichlich. Es gelang ihm der Zweifel Meister zu werden, die ihn bei dem Scheich gequält hatten. Nicht länger brauchte er die Hände zusammenzukrampfen, um über dem Vielfältigen der Welt nicht den Einen zu vergessen. Die Seligkeit des Mönchs teilend, lernte er vielmehr den Einen gerade im Schauen der von ihm geschaffenen Vielfalt zu erfassen, und nicht mehr bedurfte er seines Zeigefingers, um ihn zu bekennen. Aber im geheimen dachte er: »Der Mönch kennt nicht die ganze Lehre.« Eines Tages sagte er: »Durch mich selbst wird mir etwas offenbar, was nicht in der Vielfalt der Dinge liegt, weil es eines und göttlich ist, und was doch auch nicht jenseits der Dinge ist, weil ich es in mir selbst trage. Was kann das wohl sein?« »Hühnchen,« erwiderte der Mönch lachend, »du bist auch nur ein Ding, ein Gottesgeschöpf.« »Aber was ich fühle, ist nicht Geschöpf, sondern Schöpfer,« erklärte Florian, »deine Lehren führen nur zur Kindschaft, nicht zur Gottheit selbst.«

Und Florian verließ den Mönch und wanderte weiter in eine große Stadt, die jenseits des Waldgebirges lag.

*

Während Florian durch die Schluchten zog, sagte er sich: »Die Einsiedler haben nur die halbe Wahrheit, weil sie sich der Welt entziehen. Wahrlich zu früh habe ich mich von der Welt abgekehrt. Mag sie eitel sein, nun will ich auch den Mut zur Eitelkeit haben und sie ergründen, damit mir das Leben nicht Stückwerk bleibe, sondern rund werde.«

In der Stadt lebte ein Oheim Florians, den er nie gesehen hatte, ein Bruder seines toten Vaters, und wie einst jener, ein reicher Kaufherr. An dessen Palast klopfte Florian eines Abends an. Er trug ein bestaubtes Mönchsgewand. Der Diener, der ihm öffnete, sah ihn prüfend an. Florian hatte etwas auf ein Papier geschrieben, das er dem Hausherrn zu bringen befahl: der schnelle Tod der Eltern habe ihn einst so sehr verwirrt, daß er allein auf Reisen gegangen sei; nun aber gedenke er irgend etwas zu unternehmen und wie andere Männer seines Standes zu leben. Er bitte den Oheim um seine väterlichen Ratschläge.

Dieser empfing ihn in einem üppigen Teppichgemach mit Höflichkeit, doch nicht ohne ein kühles Mißtrauen. Florian erkannte in dem alten Mann sofort den weißbärtigen Herrn, den er in der kleinen Kreuzfahrerkirche gesehen hatte. Wie damals trug er einen schwarzen Frack und einen Ordensstern an der Seite. Er hatte für den Abend Gäste geladen, die bald kommen mußten. Etwas unschlüssig blickte er auf Florians Kleidung. Dieser lachte und sagte mit einer weltlichen Sicherheit, die er als Knabe, da er noch in der Welt lebte, nicht besessen und noch weniger beim Scheich oder beim Mönch erworben haben konnte: »Lieber Oheim, ich sehe, meine Kleidung setzt dich in Verlegenheit; aber vielleicht leiht mir einer meiner Vettern einen Anzug, und dann werde ich deinem Tisch keine Unehre machen.« Diese freie Art gefiel dem Alten. Er ließ Florian in ein Zimmer für Gäste bringen. Bald darauf kamen seine zwei ihm ziemlich gleichaltrigen Vettern mit Kleidern zu ihm, voll Neugier nach dem seltsamen Verwandten. Die beiden halfen in dem blühenden Geschäft ihres Vaters und wurden von ihm gut gehalten. Sie hofften bei Florian Gelegenheit für ihre Spottlust zu finden, aber der Vetter empfing sie mit überlegener Fröhlichkeit und versprach gleich, ihnen nächstens zu erklären, warum er in so seltsamem Aufzug reise, so daß sie vorsichtig schwiegen. Bald war er angekleidet wie sie selbst und sah genau aus wie ein anderer junger Mann seines Standes. Nur die ausgeprägten Linien seines Gesichtes und die hohe Stirn unterschieden sich von dem nichtssagenden Gesichtsausdruck der beiden hübschen Vettern.

Als sie den Speisesaal betraten, ging Florian zwischen ihnen und hielt sie beide untergefaßt. Während er sie bat, seine Unwissenheit aufzuklären über alle weltlichen Dinge, die ihm in den sechs Jahren seiner Einsamkeit entgangen sein mochten, und es schien, als habe er von sich selber die geringste Meinung, hatten sie sich ihm in ihren sonst hochmütigen Herzen bereits unterworfen. In der Gesellschaft gefiel der junge Verwandte ausnehmend. Er erzählte bescheiden einiges von seinen gelehrten Studien, die er auf seiner langen Reise, besonders in Klöstern, gemacht habe, und die ihn in gefährlichen Gegenden zwangen, um vor Räubern sicher zu sein, Mönchskleider zu tragen; aber dies alles sei er jetzt überdrüssig, er wolle sich nun irgendwie betätigen. Dies fand den größten Beifall der Anwesenden, die meist große Handelsgeschäfte betrieben; sie wußten wohl, daß Florian der alleinige Erbe seines Vaters war.

»Unsere Geschäfte sind so,« sagte der Oheim, »daß ein verständiger Mensch, der sich etwas in der Welt umgetan hat, sie leicht erlernt und durch sie Reichtum erwerben kann.«

Schon in den nächsten Tagen erklärte Florian sich bereit, sich mit Geld an den Geschäften des Oheims zu beteiligen, und von nun an lebte er wie ein Sohn im Hause.

Sieben Jahre blieb Florian bei den Kindern der Welt. Er freite Rosabella, seine schöne Base, die ihm zwei Kinder gebar, und führte für den alternden Oheim bald die wichtigsten Geschäfte.

Dessen Lehre aber war so: »Meistere die Natur, so bist du, der Mensch, der Erbe und Nachfolger des abgesetzten Gottes, den du nicht länger in der Verborgenheit zu suchen brauchst. Sei nützlich durch deine Arbeit, unterlasse Schädliches, so bedarfst du keines Gewissens, denn du förderst die Zeit und die kommenden Geschlechter.«

Es gelang Florian, die Untätigkeit zu überwinden, die ihn bei dem Mönch gelähmt hatte. Nicht länger brauchte er wie ein Kind zu warten, bis ihm der Zufall Früchte in den Mund wachsen ließ; vielmehr lernte er, selbst zu säen und das zu ernten, was er aus besonderer Ursache gesät hatte. Aber im geheimen dachte er: »Die Kinder der Welt kennen nicht die ganze Lehre.« Eines Tages sagte er zu seinem Oheim: »Durch mich selbst wird mir etwas offenbar, was nicht tätiges Handeln und doch Wirken ist. In eurer Arbeit ist es nicht. Wohl verändert euer Werk selbstherrlich das Antlitz der Erde, ohne nach dem Willen Gottes zu fragen. Wohl habt ihr mit Arbeit und Pflicht, Geld und Maschinen die Welt von der früheren Gottesknechtschaft befreit, aber ihr habt sie entgöttert. Ich indessen kann nicht ohne Gott leben. Ist der alte Gott tot, dann müssen wir selber Götter sein.« »Aber das sind wir ja,« rief der Oheim heiter. »Nein, das seid ihr nicht. Wohl seid ihr nicht mehr des Schöpfers Knechte, aber ihr seid Knechte eures eigenen Geschöpfs. Was kann da wohl die Ursache sein?« »Das weiß ich nicht,« erwiderte der Oheim erstaunt; »aber erkläre du mir, Neffe, wie es möglich ist, daß jemand, der so überflüssigen Fragen nachsinnt, dabei so ersprießliche Handelsgeschäfte macht, wie du. Man merkt doch wohl, daß du nicht wie wir mit Herz und Seele dabei bist.« Florian lächelte und sagte: »Ich habe, als hätte ich nicht; ich besitze, doch ich werde nicht besessen. Aber nun bin ich auch des äußeren Scheins überdrüssig, ich will wieder in die Verborgenheit gehen.«

Der Oheim erschrak. Um diese Zeit wollte die Regierung seines Heimatlandes eine große Eisenbahn quer durch die Länder des Ostens bauen. Er selbst gab den größten Geldanteil dazu, und Florian führte die Geschäfte mit der heimatlichen Regierung und den Behörden des Sultans. Er überwandt ebenso leicht den Übereifer seiner Landsleute, die taten, als hinge ihre Seligkeit von dem Bau der Bahn ab, wie die Trägheit der heimischen Behörden, die taten, als brächte die Bahn ihre Seligkeit in Gefahr. Wenn sich Florian jetzt von den Geschäften zurückzog, dann konnte wieder alles scheitern.

»Jetzt in dieser entscheidenden Stunde willst du uns verlassen?« sagte der Oheim. »Aber freilich, dir sind ja alle diese Dinge gleichgültig, darum versuche ich es gar nicht erst, dich zu erinnern, daß ich für dich ein zweiter Vater bin, daß von diesem Unternehmen das Schicksal meiner und deiner Kinder abhängt, daß die Dankbarkeit ... die Pietät ... die Pflichten gegen unser fernes Vaterland ...«

»Genug, genug, lieber Oheim,« rief Florian lachend, »gerade weil mir alle diese Worte gleichgültig sind, ist es mir auch gleichgültig, ob ich sie noch einige Zeit länger höre oder nicht. Keine Angst, ich werde dieses Geschäft zu Ende führen, eben weil es mir nichts wichtiges ist.«

»Nun, ich danke dir,« atmete der Oheim auf. »Aber was ist dir eigentlich wichtig? Ich fürchte, nur dein Ich.« »Gerade für mein Ich will ich nicht das Geringste,« schloß Florian das Gespräch.

Die Geschäfte machten eine große Reise Florians notwendig. In der Nacht vorher sprach er so zu seiner Gattin: »Dein Sinn weiß sich eins mit dem Schein dieser Welt. Du liebst Feste und Bewunderer, schönen Schmuck und Lustfahrten. Ich tadle dich darum nicht. Jeder ist was er sein will. Nur wünsche ich dir: wann das Leid zu dir kommt, daß es dich mutig zur Erkenntnis des Weges finde. Heute ist es zu früh, dir mehr zu sagen, du würdest nicht verstehen und darum streiten. Du bist nun frei, denn ich scheide mich von deinem Bett. Nichts bindet dich als die Gesetze dieses Hauses deines Vaters und deiner Kinder. Ich bin nicht dein Feind, nur bin ich dir hinfort fremd.« Die schöne Rosabella erschrak ein wenig ob des Ungewohnten solcher Sprache; als sie sich aber vergewissert hatte, daß sich nichts ändern sollte es sei denn dies: sie schlief künftig allein, daß sie keine der gewohnten Freuden zu opfern brauchte, ihnen eher freier nachgehen konnte, da sagte sie zu Florian: »Ich danke dir für deine Offenheit. Menschen von Vernunft verständigen sich leicht.« Florian lächelte über ihre kühle Ruhe und küßte ihr zum Abschied die Hand. Dann trat er an das Lager seiner schlummernden Kinder, betrachtete sie lange und flüsterte: »Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich euch begegnen und euch führen. Ihr werdet früh leiden« – er warf einen Blick auf Rosabella, die in einem Handspiegel ihre morgendliche Gesichtsfarbe prüfte – »und darum auch früh erkennen.«

Einige Tage darauf befand sich Florian in der Stadt seiner Kindheit, wo er die Geschäfte des Oheims bald zu Ende führte. Er sann, wenn er abends durch die wohlbekannten alten Gassen wanderte, viel nach über das letzte Gespräch mit dem Oheim. »Es ist wahr,« sagte er sich, »wenn man sich von allem befreit hat, was die Menschen für wichtig halten, dann steht man vor ihnen in seiner nackten Selbstsucht und wird ein Grausen für die Andern, deren Selbstsucht nicht geringer ist, nur besser bekleidet. Es gibt keine andern als selbstsüchtigen Gedanken und Taten. Jeder will das Beste für sich und kann es erringen, nämlich das, was er für das Beste hält. Es sind nichts als Irrtümer, das Beste im Reichtum, im Genuß, in der Pflicht, in der Liebe zu Geschöpfen zu sehen. Der Erkennende, der es in Gott sucht, muß der größte Selbstsüchtige sein. Seiner Seligkeit muß er alles opfern. Ich will in der Verborgenheit leben, nichts als mich selbst besitzen, aber nichts für mich haben, und scheine darum durch meine Selbstliebe und meinen Verzicht gleich unmenschlich.«

An einem andern Abend, als alle die lärmend, trinkend und lachend beisammen saßen, welche das große Geschäft abgeschlossen hatten, und nun glaubten bis auf weiteres ihre Seligkeit erreicht zu haben, schlich sich Florian hinaus in die holprigen mondbeschienenen Gassen und sagte sich: »Wirklich in mir ist etwas, was nicht von Menschenart ist. Was dieser Art das Gut des Lebens scheint, Eltern, Heimat, Liebe, Reichtum, Wissen, Glaube, erfolgreiches Tun, Genuß, Weib und Kind, habe ich ebenso schnell ergriffen wie von mir geworfen, aber nicht aus Lauheit, sondern weil etwas anderes in mir offenbar werden will, was nicht von Menschenart ist. Es hat mich vom Scheich und vom Mönch fortgetrieben, und nun auch wieder von den Kindern der Welt.«

Während er so sann, kreuzte die Gasse eine kleine Prozession mit einigen Fahnen und Kerzen. Florian folgte ihr. Bald befand er sich auf dem kleinen Platz vor der alten Kreuzfahrerkirche. Er folgte der Prozession unter die dunkle Wölbung. Während sie hinter dem düsteren Gestühl des Hochaltars verschwand, blieb Florian bei der Muttergottes am Eingang stehen. Vor ihr brannte ein einsames Licht. »Ob sie wieder wie damals aus dem Rahmen treten und mir mütterlich etwas offenbaren wird?« Er vertiefte sich in ihre Züge, die ihm immer einzigartiger lebendig wurden. War es Sinnestäuschung, daß sie sich bewegten oder war er nicht vielmehr plötzlich frei von aller bisherigen Täuschung seines Wesens durch die Schleier der Sinne? Was war wirklich, was nicht? Was war zeitlich, was ewig? Ein Schritt auf den Steinfließen der Kirche klang wie durch Äonen im Weltenraum, der Weihrauchduft stieg aus dem Abgrund lebendiger Vergangenheit auf, und in der flammenden, flackernden Kerze zerschmolz die Zeit. Die Muttergottes trat nicht aus dem Rahmen und blieb auch nicht wie ein Bild darin, denn es gab kein außerhalb und innerhalb mehr, nicht mehr im Bild gefesseltes Sein. Sie hielt das Kind in ihren Händen und ließ es gleichzeitig zerrinnen, und Florian war selbst dieses Kind und noch viel mehr und er fühlte: Es braucht mir nichts offenbart zu werden, denn alles ist nun offenbar. In der Goldkuppel unter dem Hochaltar leuchtete durch Kerzendämmerung das weiß bärtige Antlitz Gottes, des Schöpfers, und das Kind schaute aus den Armen der Mutter zu ihm, und er zu dem Kind. Da rollte sich unter dem Auge Gottes das Muttergottesbild nach innen zu einer Kugel zusammen und die äußere Wand der Kugel war das Bild des Schöpfers aus der Kuppel. So wurden Vater und Kind eins in der Kugel von außen und von innen und Florian schwebte mitten in der Kugel und die Kugel schwebte zugleich in ihm, und nicht länger war er leidendes Geschöpf sondern zugleich bewegender Schöpfer. Die Kugel leuchtete auf und strahlte nach allen Seiten und verschwebte durch die Kirchentür in die Stadt.

Als Florian heimkehrte, gab es keine Fragen mehr für ihn. Nachdem ihm erst das Leben Bild und ganz fremd geworden war, hatte er plötzlich die Zeichen erkannt, welche die Bilder, außer ihrem Inhalt, noch waren. Das aber, was diese Zeichen bedeuteten, war ihm eben so vertraut, wie unsagbar, das war er wiederum selbst in Nähe und Ferne, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er lebte wieder freundlich mit Weib und Kindern im Haus des Oheims und seiner Vettern, die er, wenn sie ihn fragten, weiter beriet. Ob er in der Welt weilte, er blieb in der Verborgenheit der Kugel, ob er in der Einsamkeit wohnte, überall und jeden Augenblick spiegelte ihm die Kugel die Welt. Der frühere Florian war nur der Punkt auf der Kugel, wo sich Gott auf eine seiner unzähligen Weisen im Endlichen bewußt wird, und der erlöste Florian ließ Gott still liebend gewähren, ohne sein Wirken wie die Kinder der Welt durch Handeln, oder durch erzwungenes oder träges Nichthandeln wie die Einsiedler zu stören.

Die Kinder der Welt aber mußten sich die Ehrfurcht und Liebe irgendwie erklären, die Florian allen einflößte, die ihm nahten. So priesen sie ihn den heranwachsenden Söhnen als Muster eines tüchtigen Bürgers und pflichttreuen Gatten und Vaters, der auf den bewährten Wegen seiner verdienten Vorfahren wandelte. Florian aber fühlte sich unter ihnen in dieser Maske, die sie ihm auflegten, noch verborgener vor der Welt, als er es je beim Scheich und beim Mönch gewesen war.


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