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Der Korpskommandeur Graf von Schaller-Breteuil lag seit Monaten mit mehreren Herren seines Stabes im Schloß Aiglefort in Quartier. Nach dem Nachtmahl pflegten die Herren in dem weißen, im Stil Ludwigs XV. gehaltenen Salon unter gelb verschleierten Lampen bei der Zigarre die Ankunft des Kreistelegramms zu erwarten, das allabendlich an der ganzen Front die Tagesereignisse der Kriegsschauplätze in Satztrümmern bekanntgibt.

Viel hatte man sich nicht mehr zu erzählen. Obwohl in dem Stab Männer fast aller Fakultäten und höheren Berufe, weitgereiste und witzbegabte, vertreten waren, hatten sich die Gespräche im Verlaufe des langen Stellungskrieges erschöpft. Nur ein Stoff kehrte naturgemäß von Zeit zu Zeit immer wieder: unser Verhältnis zu den Franzosen. Daß ihnen, die uns jahrhundertelang mit Raubkriegen überzogen haben, durch diesen Krieg der Vergeltungsgedanke mit Stumpf und Stil ausgetrieben werden müsse, darüber war man sich einig, sonst aber gingen die Meinungen weit auseinander. Der Generalstabsoffizier bewunderte Joffre und den französischen Soldaten im einzelnen. Oberst Schulz, ein alter Pionier, meinte, die ganze Bande »sei nischt wert«, und er, der Gutmütigste von allen, versuchte seinem runden, geröteten Gesicht vergeblich einen Ausdruck von Grausamkeit zu geben, als wollte er am liebsten das ganze Land von der Flanke Deutschlands wegsprengen.

»Wenn ich zu bestimmen hätte,« sagte er, »aber leider hört man ja nicht auf mich, dann müßte ganz Frankreich deutsches Reichsland werden, meinetwegen unter dem Namen Elsaß-Lothringen, und in Paris müßte ein deutscher Statthalter sitzen.«

Alle lachten. Der Verpflegungsoffizier, ein schmaler, sehniger Sportsmensch, im Privatleben Großkaufmann in Schanghai, erklärte die Franzosen für ein niedergehendes Volk. Er hatte in den meisten Häusern viel Unsauberkeit gefunden, aber überall große Vorräte an Wein und Schnaps, an Betäubungsmitteln und Gegenständen, die den Bevölkerungsrückgang des Landes verständlich machen.

Der Ortskommandant des nahen Städtchens, zu dem Schloß Aiglefort gehört, war dagegen des Lobes voll über die Umgänglichkeit der Bevölkerung. Er war Notar im Rheinland und hatte früher viele Vergnügungs- oder Studienreisen nach Frankreich unternommen.

»Ich sage Ihnen, wenn es ein Mittel gäbe, die französische Provinz von dem Einfluß der Pariser Schwätzer und Schwindler zu befreien – was uns ja im Augenblick hier gelungen ist –, dann wären die Franzosen die vernünftigsten, lenksamsten Leute. Kein dummer Trotz ist in ihnen und ebensowenig gesinnungslose Biegsamkeit. Die Leute haben die Lage völlig richtig erfaßt. ›Ihr seid im Augenblick die Stärkeren‹, hat mir neulich eine brave Gasthofbesitzerin gesagt, ›und da heißt's, sich mit euch vertragen, und es geht ganz gut, denn ihr seid ja keine Ungeheuer, wie uns die Zeitungen glauben machen wollten. Oh, überhaupt die Zeitungen, mein Herr, die sind an allem schuld.‹ Nun, ich finde, diese Frau hat den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Ich würde es bedauern,« sagte der Graf von Schaller-Breteuil, »wenn die Franzosen zugrunde gingen oder auch nur auf den Rang Spaniens hinabsänken. Europa braucht sie als Kulturvolk. Das hat schon unser Treitschke gesagt. Hat nicht Friedrich der Große auch gegen sie Krieg geführt, sie scharf beurteilt, und schließlich hätte er sie nicht missen mögen? So geht es mir auch. Wenn sie für uns unschädlich geworden sind, will ich sie wieder als Freunde haben, aber, meine Herren, Sie wissen, ich bin Partei, ich habe ja selbst Verwandte in diesem Land.«

Der Graf erhob sich. Trotz seinen 65 Jahren streckte sich unter dem feldgrauen Tuch die aufrechte Gestalt eines Dreißigers. Er strich sich den noch kaum ergrauten dunkeln Kinnbart, verbeugte sich und begab sich auf sein Zimmer.

Als er sich unter dem dunkelblauseidenen, goldverzierten Himmel in dem breiten französischen Bett ausgestreckt hatte, dachte er lächelnd:

»Merkwürdig, daß die Menschen in alles ihre persönlichen Gemütsbewegungen tragen müssen. Dieser gute Oberst Schulz glaubt gewiß, er würde schlechtere Sprengungen machen, wenn er sich nicht mit Haß gegen den Feind erfüllte; und vielleicht ist es auch so; am Ende braucht gerade er diesen Haß als Schutz gegen seine Gutmütigkeit, die ihm aus den Augen lacht.«

Noch vorigen Sommer war der Graf in einem ähnlichen Schloß wie Aiglefort, ganz in der Nähe, als Gast bei einer Base gewesen, und heute wohnte er hier nach dem Recht des Eroberers. Er ließ seine Gedanken schweifen, die langsam in Schläfrigkeit verdämmerten. Er bemerkte nicht, daß die Kerze niedergebrannt war und die letzten Male aufflackerte. Da öffnete sich plötzlich neben ihm eine Tapetentür. Der Graf überblickte ein trauliches, hellerleuchtetes Kabinett, von dessen Dasein er bisher nichts gewußt hatte. Dort saß eine alte Dame mit mehreren jüngeren Frauen und ganz jungen Mädchen um einen runden Tisch unter der Lampe. Die Mädchen, schwarzlockig und zum Teil sehr hübsch, waren mit Rahmenstickereien beschäftigt.

Der Graf befand sich, entzückt, plötzlich mitten unter den Damen.

»Also hierher haben Sie sich versteckt?« sagte er lächelnd.

»Ja, was sollten wir denn tun, lieber Graf?« fragte die alte Dame und warf ihm einen freundlichen Blick aus noch warmen, dunklen Augen zu, »wenn Sie alle Räume mit Ihren schrecklichen Leuten besetzen! ... Haben Sie es denn jetzt wenigstens bequem bei uns?«

Der Graf lobte das Schloß über die Maßen. Als er einen Gobelin im Speisesaal, einen Gaspard Poussin in seinem Arbeitszimmer und zwei reizende Bouletischchen in dem weißgelben Salon erwähnte, erkannte die Familie geschmeichelt den Kenner, und nun öffnete man Wandschränke, holte Kupferstiche, Miniaturen, Fächer, alte Tassen hervor, die der Graf in seine alten, schlanken Hände nahm und liebevoll betastete. Auch mehrere ledergebundene Erstausgaben von Balzac und Victor Hugo, auf Velin gedruckt, wurden gebracht. Dann führte man den Grafen über geheime Treppen, von denen mehrfach kleine Türen in ähnliche zierliche Kabinette führten, wie das, in dem er die Familie versammelt gefunden hatte. Es war klar, daß hier zwischen den ihm bekannten großen Räumen des Schlosses ein ganzes System verborgener Zimmer eingebaut war, wo die Familie des Besitzers sich versteckt hielt. Der Graf fand das alles reizend. Er hatte sich mit seinen liebenswürdigen Führerinnen schon recht angefreundet, als Georgette, die älteste der Töchter, eine junge Frau in voller Blüte, sagte:

»Nun, lieber Graf, zeigen Sie uns auch Ihre Welt!«

»Wenn Sie keine Angst vor Granaten und Schrapnells haben?«

»Französinnen haben niemals Angst.«

Sie gingen durch den Schloßpark. Der abnehmende Mond hing rötlich zwischen zerflatternden Wolken. Die Landstraße war verödet, rechts und links in den Feldern sah man fast hausgroße Granatlöcher. Man ging durch ein zerschossenes Dorf. Mauern mit geschwärzten Fensterrahmen standen um Schutthaufen. An den inneren Wänden hingen Fetzen von Tapeten. Der Mond beleuchtete diese Verwüstung. Gespenstische alte Leute irrten dazwischen umher und suchten nach ihren verschütteten Habseligkeiten. Hinter dem Dorf führte der Graf seine Damen von der Landstraße ab über das Feld und dann über eine Anhöhe, jenseits deren die Sappe begann; ein mannshoher in den Lehmboden geschnittener Gang, der zu den Schützengräben bis in die vordersten Reihen führte. Von Zeit zu Zeit hörte man Kanonendonner.

»Haben Sie keine Angst,« sagte der Graf lächelnd, »Ihre Landsleute sind ordentliche Menschen. So genau, wie sie ihre Essenszeiten einhalten, so pünktlich sind sie im Schießen. Um diese Stunde fällt es ihnen ebensowenig ein, eine richtige Beschießung vorzunehmen, wie zu Mittag zu essen!«

Seine Begleiterinnen lachten.

»O, Sie kennen die französischen Sitten!« sagte die alte Dame, die mit ungewöhnlicher Rüstigkeit vorwärts kam. Sie hatte ihren schwarzen Seidenrock etwas hochgenommen, und nun trippelten die noch zierlichen Füße durch die lehmige Sappe; ihre Töchter folgten ihr.

Man war gerade in eine Ausbuchtung des Ganges gekommen. Der Graf wollte eben der alten Dame die Hand reichen, um ihr auf eine kleine Bodenerhöhung zu helfen, von der aus man hinter einem Schutzschild einen Blick auf die französischen Stellungen werfen konnte. Da kam ihnen plötzlich jemand aus der Sappe entgegen.

»Was ist denn das? Hier wird ja Französisch gesprochen!« rief eine Stimme. Der Pionieroberst Schulz stand, von einem jungen Leutnant aus dem Schützengraben begleitet, plötzlich vor dem Kommandeur.

»Ah, Sie sind es, lieber Schulz? Das hier sind unsere liebenswürdigen Schloßdamen ...«

»Was?« rief der Oberst außer sich, »Exzellenz zeigen den Feinden unsere Gräben?«

»Keine Aufregung, Herr Oberst, liebenswürdige Damen, Verwandte von mir, die einmal sehen wollten ...«

»Da hören Rangunterschiede auf, Herr General, meine Pflicht ist, Sie sofort zu verhaften!«

Entschlossen griff nun die alte Dame ein und sagte:

»Herr Oberst, Ihr Eifer ist löblich, aber Sie befinden sich in einem Irrtum. Lassen Sie mich alles in zwei Worten erklären. Der Graf von Schaller-Breteuil ist –«

Hier unterbrach sie der Graf Schaller-Breteuil selbst und sagte:

»Genug, Madame. Wie? Sie bitten für einen Verräter seines Landes? Als Französin könnten Sie wissen, was Disziplin ist. Hat nicht Ihr Joffre selbst neulich zwei Generäle erschießen lassen? Ich bitte, kein Wort mehr. Geben Sie mir Ihren Arm!«

Die jungen Damen gingen voran, dann folgte Graf Schaller-Breteuil, am Arm die Schloßherrin, und hinter ihnen ging Oberst Schulz mit seinem jungen Leutnant. Man gelangte auf die Landstraße. Im Schloßpark wurden die Damen von dem Leutnant abgeführt. Der Graf ging in sein Schlafzimmer, das der Oberst Schulz bewachen ließ.

Als der Graf wieder in sein Bett steigen wollte, fand er sich bereits selbst darin liegend. Er warf sich in unruhigen Morgenträumen umher, manchmal redete er aufgeregte Worte, auf die er selbst antwortete.

»Erschießen muß man den Kerl!«

»Aber, ich bitte, was hat er denn getan, eine kleine Freundlichkeit gegen seine alte Base, ganz ungefährlich.«

»Ganz Frankreich muß von der Karte verschwinden – deutsches Reichsland werden –«

»Aber, ich bitte, selbst Treitschke ... Friedrich der Große ...«

Der Graf wollte den Verräter, der im Bett lag, aus dem Schlaf rütteln; der aber zog ihn an sich, immer dichter. Der eine rüttelte, der andere zog.

Während dieses Zweikampfes erwachte der Graf, Morgenlicht fiel ins Zimmer. Der Generalstabsoffizier stand an seinem Bett und meldete:

»Die französische Artillerie bereitet einen Sturmangriff vor.«


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