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Ordinationszimmer des Professor Bernhardi. Rechts Haupteingang, links Tür ins Nebenzimmer. Ein Medikamentenschrank links, Bücherregale nehmen die ganze Hinterwand ein, zum Teil grün verhängt. Auf dem Ofen, in der rechten Ecke, eine Äskulapbüste. Schreibtisch mit Sessel. Ein kleines Tischchen neben dem Schreibtisch. An dem Schreibtisch gegen den Zuschauerraum ein Diwan. Stühle. Photographien an den Wänden, Gelehrte darstellend.
Dr. Oskar Bernhardi sitzt am Schreibtisch, notiert etwas in ein aufgeschlagenes Protokollbuch, dann klingelt er. Diener tritt ein.
Oskar. Es ist niemand mehr da?
Diener. Nein, Herr Doktor.
Oskar. So werde ich jetzt weggehen. Wenn der Papa nach Hause kommt – (Klingel draußen.) Oh, sehen Sie nach.
Diener ab.
Oskar schließt das Protokollbuch, bringt den Schreibtisch in Ordnung.
Diener tritt ein, bringt eine Karte.
Oskar. Will mich sprechen?
Diener. Der Herr fragte zuerst, ob der Herr Professor zu Hause sei. Aber –
Oskar. Aber begnügt sich auch mit mir – Na, – möchte hereinkommen.
Diener ab.
Oskar, Dr. Feuermann, junger, kleiner, schwarzbärtiger, aufgeregter Mensch mit Brille. Hut in der Hand, Gehrock, Handschuhe.
Oskar ihm entgegen.
Feuermann. Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern werden –
Oskar. Aber Feuermann, ob ich mich deiner noch erinnere! (Reicht ihm die Hand.)
Feuermann. Es sind immerhin acht Jahre, seit –
Oskar. Ja, wie die Zeit vergeht. Na, willst du nicht Platz nehmen? Du wolltest den Papa sprechen?
Feuermann. Allerdings –
Oskar. Ich ordiniere heute für ihn, er ist zum Prinzen Konstantin nach Baden berufen worden.
Feuermann. Ja, er hat eine schöne Praxis, dein Herr Papa. (Er setzt sich.)
Oskar. Na, und wie geht's denn dir? Als Patient kommst du wohl nicht – Wo praktizierst du denn eigentlich?
Feuermann. In Oberhollabrunn.
Oskar. Ja richtig. Also, was führt dich denn her? Machst du etwa ein Sanatorium auf, oder gehst du irgendwohin als Badearzt? Oder wollt ihr aus Oberhollabrunn einen Luftkurort machen?
Feuermann. Nichts von alledem. Es ist eine fürchterliche Geschichte. Du weißt noch nichts?
Oskar (verneinende Geste).
Feuermann. Ich habe deinem Herrn Papa schon geschrieben in meiner Angelegenheit.
Oskar. Er bekommt so viele Briefe.
Feuermann. Wenn du nun auch noch ein Wort für mich einlegen wolltest –
Oskar. Um was handelt es sich denn?
Feuermann. Du kennst mich, Bernhardi. Wir haben zusammen studiert, du weißt, ich habe es an Fleiß und Gewissenhaftigkeit nie fehlen lassen. So ein Unglück kann jedem passieren, der gleich von der Universität weg in die Praxis hinaus muß. Es hat's nicht jeder so gut wie du zum Beispiel.
Oskar. Na, der Sohn von einem berühmten Vater zu sein, das hat auch seine Schattenseiten.
Feuermann. Entschuldige, so hab ich's ja nicht gemeint. Aber es ist doch unschätzbar, sich im Spital weiter ausbilden zu können, an den Brüsten der alma mater Kurse zu hören –
Oskar (etwas ungeduldig). Also, was ist denn eigentlich passiert?
Feuermann. Ich bin unter Anklage wegen Vergehens gegen die Sicherheit des Lebens. Ich werde vielleicht mein Diplom verlieren. Ein Kunstfehler, ein sogenannter. Ich will ja nicht behaupten, daß ich ganz ohne Schuld bin. Wenn ich noch ein bis zwei Jahre hier an der geburtshilflichen Klinik praktiziert hätte, so wär' mir die Frau wahrscheinlich durchgekommen. Du mußt dir das nur vorstellen in so einem Nest. Keine Assistenz, keine ordentliche Antisepsis. Ach, was wißt ihr denn hier in der großen Stadt. Wie vielen ich das Leben gerettet habe, das rechnet mir keiner nach. Einmal hat man Malheur, und man kann sich eine Kugel durch den Kopf schießen.
Oskar. Aber Feuermann, du mußt doch nicht gleich das Schlimmste – du bist doch noch nicht verurteilt. Die Sachverständigen haben doch auch noch ein Wort zu reden.
Feuermann. Ja, die Sachverständigen. Also, das ist ja eigentlich der Grund, darum wollt ich deinen Herrn Papa – Er kennt mich ja auch, er wird sich vielleicht meiner noch erinnern, ich habe ja sogar einmal einen Kurs über Herzkrankheiten bei ihm genommen –
Oskar. Nun das –
Feuermann. Er ist gewiß sehr befreundet mit Professor Filitz, der die gynäkologische Abteilung am Elisabethinum leitet, und Filitz ist als Sachverständiger vorgeschlagen. Und da wollte ich deinen Papa bitten, ob er nicht bei Professor Filitz – Oh, ich will keine Protektion, aber –
Oskar. Ja, ja, mein lieber Feuermann, ob da die Fürsprache meines Vaters – Er steht nämlich gar nicht so besonders gut mit Filitz, wie du anzunehmen scheinst.
Feuermann. Dein Vater ist doch Direktor des Elisabethinums –
Oskar. Na ja, aber die Verhältnisse hier liegen nicht so einfach. Da müßt ich dir lange Geschichten erzählen. Von diesen Zuständen könnt wieder ihr in Oberhollabrunn euch wahrscheinlich keinen rechten Begriff machen. Da gibt es Strömungen und Unterströmungen und Gegenströmungen. – Also, ob eine Intervention meines Papa nicht geradezu die gegenteilige Wirkung –
Feuermann. Wenn er vielleicht in anderer Weise für mich eintreten könnte! Dein Vater schreibt ja so glänzend. Seine Artikel über ärztliche Standesfragen, die treffen immer den Nagel auf den Kopf. Es käme ja einfach darauf an, meiner Sache einen allgemeinen Gesichtspunkt abzugewinnen. Auf den Grund des Übels hinzuweisen. Auf die unglückseligen materiellen Verhältnisse der jungen Ärzte, auf die Schwierigkeiten in der Landpraxis, auf die Feindseligkeiten, die Rivalitäten und so weiter, und so weiter. – Oh, das wäre ein Thema für deinen Vater, – und ich könnte ihm ein Material zur Verfügung stellen.
(Diener tritt ein mit einer Karte.)
Oskar. Oh, Fil – (Er steht auf.) Du mußt so freundlich sein, Feuermann. – Ich lasse bitten.
Diener ab.
Feuermann. Sagtest du nicht Filitz?
Oskar. Ich –
Feuermann. Ja, du sagtest es.
Oskar. Du willst doch nicht jetzt – Ich möchte dich sogar bitten, vielleicht durch diese Tür –
Feuermann. O nein. Das kannst du nicht von mir verlangen. Das ist ein Fingerzeig des Himmels.
Filitz tritt ein. Vierzig Jahre, schöner blonder Mann, Zwicker. Oskar, Feuermann.
Filitz. Guten Morgen, Herr Kollega.
Feuermann. Möchtest du so freundlich sein, mich dem Herrn Professor vorzustellen, lieber Freund?
Oskar (in Verlegenheit lächelnd). Der Herr Professor wird wohl mit mir –
Feuermann (stellt sich vor). Doktor Feuermann. Ich sehe es nämlich als einen Fingerzeig des Himmels an, Herr Professor, daß Sie in dieser Stunde – daß ich das Glück habe – Ich bin praktischer Arzt in Oberhollabrunn – Doktor Feuermann. Es ist eine Anklage gegen mich erhoben.
Filitz. Feuermann. Ach ja. Ich weiß schon. (Liebenswürdig.) Sie haben eine hinüberspediert, – eine Lehrersgattin –
Feuermann (entsetzt). Herr Professor sind falsch berichtet. Wenn Sie den Fall erst – wenn Sie die große Güte haben werden, den Fall genau – Es war eine Reihe von unglückseligen Zufällen.
Filitz. Ja, das ist dann immer so. Aber solche Zufälle würden eben nicht eintreten, wenn die jungen Leute nicht so ohne alle Vorbildung hinaus in die Praxis drängten. Da macht man mit Ach und Krach seine paar Prüfungen und denkt, Gott wird schon weiterhelfen. Aber zuweilen hilft er eben nicht und hat seine triftigen Gründe.
Feuermann. Herr Professor, wenn Sie mir erlauben wollten – ich habe alle meine Prüfungen mit Auszeichnung bestanden, sogar in Geburtshilfe. Und in die Praxis mußt ich hinaus, weil ich sonst verhungert wäre. Und daß diese arme Frau nach der Geburt verblutet ist, ich wage es kühn zu behaupten, es hätte ihr auch bei einem Professor passieren können.
Filitz. Es gibt allerlei Professoren.
Feuermann. Aber wenn's ein Professor gewesen wäre, dann hätte man ihn nicht angeklagt, sondern – sondern es wäre Gottes unerforschlicher Ratschluß gewesen.
Filitz. Ah, meinen Sie. Na ja. (Stellt sich vor ihn hin und fixiert ihn.) Sind wohl auch einer von den jungen Herren, die es ihrer wissenschaftlichen Würde schuldig zu sein glauben, die Atheisten zu agieren? –
Feuermann. Oh, Herr Professor, es ist mir wahrhaftig –
Filitz. Ganz nach Ihrem Belieben, Herr Doktor. Aber ich versichere Sie, Glaube und Wissenschaft vertragen sich sehr gut. Ich möchte meine Ansicht sogar dahin formulieren, daß Wissenschaft ohne Glauben immer eine etwas unsichere Angelegenheit bleiben wird, schon weil in diesem Falle die sittliche Grundlage, das Ethos, fehlt.
Feuermann. Gewiß, Herr Professor. Ich bitte, meine frühere Äußerung –
Filitz. Wohin der nihilistische Hochmut führt, daran mangelt es ja nicht an Beispielen. Und ich hoffe, es wird nicht Ihr Ehrgeiz sein, Herr Doktor Feuerstein –
Feuermann (schüchtern). Feuermann –
Filitz – der staunenden Mitwelt ein neues Beispiel zu bieten. Übrigens habe ich Ihren Akt bei mir zu Hause. Kommen Sie vielleicht morgen früh um acht zu mir, wir wollen weiter über die Sache reden.
Feuermann (wie berauscht von dieser neuen Wendung). Herr Professor erlauben mir also? Oh, ich bin Ihnen unendlich dankbar. Ich werde so frei sein, an der Hand des Materials – Meine Existenz steht nämlich auf dem Spiel. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Es bliebe mir nichts übrig, als mich umzubringen.
Filitz. Es wäre mir erwünscht, Herr Doktor, wenn Sie derlei sentimentale Bemerkungen unterließen. Wenn Sie sich wirklich nichts vorzuwerfen haben, bedarf es derartiger Mätzchen, wenigstens mir gegenüber, nicht. Also, auf Wiedersehen, Herr Doktor.
Oskar. Du verzeihst, wenn ich dich nicht begleite, lieber Feuermann.
Feuermann. Oh. Ich danke dir sehr. (Ab.)
Oskar. Ich möchte Sie, Herr Professor, noch in seinem Namen um Entschuldigung bitten wegen seiner etwas taktlosen Bemerkungen. Er war begreiflicherweise in einiger Aufregung.
Filitz. Studienkollege?
Oskar. Jawohl, Herr Professor. Und wie ich gleich bemerken möchte, ein sehr fleißiger und gewissenhafter Student. Es ist mir bekannt, daß er in den ersten Jahren von fünfzehn oder zwanzig Gulden monatlich leben mußte, die er sich durch Lektionen verdiente.
Filitz. Das beweist noch nichts, lieber Kollega. Mein Vater war ein Millionär, und es ist auch etwas ganz Tüchtiges aus mir geworden. Na ja. Ihr Papa ist verreist?
Oskar. Nicht verreist, Herr Professor, er ist nur in Baden beim Prinzen Konstantin.
Filitz. Ah.
Oskar. Er wollte eigentlich schon zur Ordination zurück sein.
Filitz (auf die Uhr sehend). Na, warten kann ich leider nicht mehr lange. Vielleicht sind Sie so freundlich und bestellen Ihrem Herrn Papa, was ja auch für Sie einiges Interesse haben dürfte, daß meine Frau heute von der Fürstin Stixenstein nicht empfangen wurde.
Oskar (nicht ganz verstehend). So. Die Fürstin war vielleicht nicht zu Hause?
Filitz. Meine Frau war für ein Uhr hinbeschieden, lieber Kollega, in ihrer Eigenschaft als Präsidentin des Ehrenballkomitees zur Patronesse und Gattin des Kuratoriumspräsidenten, der Fürstin Stixenstein. Ich glaube, diese Tatsache spricht Bände.
(Er fixiert nach seiner Gewohnheit Oskar.)
Oskar etwas verlegen.
Diener mit Karte.
Oskar. Verzeihen Sie, Herr Professor. Es ist Professor Löwenstein.
Filitz. Lassen Sie sich nicht stören. Ich muß ja ohnedies –
Oskar (zum Diener). Ich lasse bitten.
Filitz macht sich anscheinend zum Fortgehen bereit.
Löwenstein kommt. Gegen vierzig, mittelgroß, etwas hastig, kleine Augen, die er manchmal weit aufreißt. Brille. Er bleibt gern mit abfallender linker Schulter und leicht gebogenen Knien seinem Gesprächspartner gegenüber stehen und fährt sich manchmal durch die Haare. Filitz, Oskar.
Löwenstein. Guten Tag. Oh, Professor Filitz. Sie wollen schon gehen? Bleiben Sie noch einen Moment. Die Sache wird Sie interessieren. Da, Oskar, lesen Sie. (Er gibt ihm einen Brief.) Entschuldigen Sie, Herr Professor Filitz, er muß ihn früher lesen als Mitglied des Ballkomitees. Die Fürstin Stixenstein hat das Protektorat über den Ball niedergelegt.
Oskar (hat den Brief rasch durchflogen, reicht ihn dem Professor Filitz). Ohne jede Angabe von Gründen?
Löwenstein. Das hielt sie nicht für nötig.
Filitz. Besonders, wenn die Gründe für jedermann so klar auf der Hand liegen.
Oskar. Ist denn – diese Geschichte schon so publik geworden? Innerhalb von acht Tagen?
Löwenstein. Lieber Oskar, daran hab ich keinen Augenblick gezweifelt. Wie man mir die Szene rapportiert hat, sagte ich sofort: das ist ein Fressen für gewisse Leute, das wird aufgebauscht werden.
Filitz. Entschuldigen Sie, lieber Doktor Löwenstein, hier ist nichts aufgebauscht worden, hier brauchte auch nichts aufgebauscht zu werden, der ganze Vorfall in seiner schlichten und faktiösen Deutlichkeit – Aber ich ziehe es vor, meine Ansicht hierüber meinem Freunde Bernhardi persönlich vorzutragen.
Oskar. Ich brauche wohl nicht erst zu bemerken, Herr Professor, daß ich in dieser ganzen Angelegenheit durchaus auf der Seite meines Vaters stehe.
Filitz. Natürlich, natürlich, das ist nur Ihre Pflicht.
Oskar. Es ist auch meine Überzeugung, Herr Professor.
Löwenstein. Ebenso wie die meine, Herr Professor. Und ich erkläre ausdrücklich, daß nur böser Wille versuchen kann, aus einem vollständig unschuldigen Vorfall so irgend etwas wie eine Affäre zu machen. Und um ganz deutlich zu sein, daß kein Mensch den Versuch machen würde, wenn Bernhardi nicht zufällig ein Jude wäre.
Filitz. Also, da seid ihr ja glücklich wieder bei eurer fixen Idee. Bin ich etwa auch ein Antisemit? Ich, der ich immer mindestens einen jüdischen Assistenten habe? Gegenüber anständigen Juden gibt es keinen Antisemitismus.
Löwenstein. So, so, ich behaupte gerade –
Filitz. Wenn ein Christ sich so benommen hätte wie Bernhardi, wäre gleichfalls eine Affäre daraus geworden. Das wissen Sie sehr gut, lieber Löwenstein.
Löwenstein. Gut. Möglich. Aber dann wären hinter diesem Christen Tausende oder Hunderttausende gestanden, die sich jetzt nicht rühren oder sich sogar gegen ihn stellen werden.
Filitz. Wer?
Löwenstein. Die Deutschnationalen und natürlich die Juden, – eine gewisse Sorte mein ich, die keine Gelegenheit vorübergehen läßt, sich in den Schutz der herrschenden Mächte zu begeben.
Filitz. Sie verzeihen, lieber Löwenstein, das grenzt an Verfolgungswahn. Und ich möchte es hier einmal aussprechen, daß gerade Leute wie Sie, lieber Löwenstein, in ihrer lächerlichen Antisemitenriecherei die Hauptschuld an der bedauerlichen Verschärfung der Gegensätze tragen. Und es stünde hundertmal besser –
Bernhardi tritt ein. Filitz, Löwenstein, Oskar.
Bernhardi (in offenbar guter Stimmung, mit seinem leicht ironischen Lächeln, begrüßend und handreichend). Oh, meine Herren. Was gibt es denn? Sind wir abgebrannt? Oder hat uns jemand eine Million geschenkt?
Oskar (ihm den Brief reichend). Die Fürstin hat das Protektorat über unsern Ball niedergelegt.
Bernhardi (den Brief durchfliegend). Na, so wird man sich eben eine andere Patronesse suchen. (Zu Oskar scherzend.) Oder legst du vielleicht auch deine Präsidentschaft nieder, mein Sohn?
Oskar (etwas beleidigt). Papa. –
Löwenstein. Lieber Bernhardi, dein Sohn hat eben feierlich erklärt, daß er vollkommen auf deiner Seite stehe.
Bernhardi (Oskar zärtlich über das Haar streichend). Na, selbstverständlich. Du nimmst es mir hoffentlich nicht übel, Oskar. Und du, Löwenstein, da brauch ich wohl nicht erst zu fragen. Aber was ist denn mit dir, Filitz? Du machst ja wirklich ein Gesicht, als wenn wir abgebrannt wären.
Oskar. Ich werde mich jetzt empfehlen. (Lächelnd.) Um sechs haben wir nämlich eine Sitzung des Ballkomitees. Guten Tag, Herr Professor, guten Tag, Herr Dozent. (Beide reichen ihm die Hand.) Ja, richtig, Papa, Herr Doktor Feuermann war hier. Er hätte dir geschrieben.
Bernhardi. Ach ja.
Filitz. Wegen dieses Feuerstein macht euch keine Sorgen. Wenn es irgend möglich ist, reiß ich ihn heraus, (mit triumphierendem Blick auf Löwenstein) trotzdem er Jude ist.
Oskar. Ich glaube wirklich, Herr Professor, daß Sie da keinem Unwürdigen –
Filitz. Gewiß, gewiß. Guten Tag, lieber Kollega.
Oskar ab.
Filitz, Löwenstein, Bernhardi.
Bernhardi. Bist du vielleicht wegen dieses Feuermann –
Filitz. O nein. Ich bin ihm nur zufällig hier begegnet. Ich kam her, um dir mitzuteilen, daß meine Frau heute mittag von der Fürstin Stixenstein nicht empfangen wurde.
Bernhardi. Nun?
Filitz. Nicht empfangen wurde! Die Fürstin hat nicht nur ihr Protektorat niedergelegt, sie hat auch meine Frau nicht vorgelassen.
Bernhardi. Wirklich, deswegen kommst du zu mir?
Filitz. Was spielst du denn den Unschuldigen, mein lieber Bernhardi! Du weißt doch sehr gut, daß all das, so bedeutungslos es an sich sein mag, sehr symptomatisch für die Auffassung ist, die eine dir nicht ganz unbekannte Angelegenheit in maßgebenden höheren Kreisen findet.
Bernhardi (sehr heiter). Ich für meinen Teil kann wieder mit ganz andern Symptomen aus vielleicht noch höheren Kreisen dienen. Soeben komme ich vom Prinzen Konstantin, der natürlich von der Geschichte auch schon gehört hat, und der ganz anders über sie zu denken scheint als Ihre Durchlaucht die Fürstin Stixenstein.
Filitz. Ich bitte dich, Bernhardi, komme mir doch nicht mit dem Prinzen Konstantin. Für den ist das Liberalsein ein Sport, wie für andere seiner Standesgenossen das Taubenschießen.
Bernhardi. Immerhin –
Filitz. Und was mich anbelangt, so ist mir die Ansicht des Prinzen Konstantin in dieser Angelegenheit vollkommen gleichgültig. Ich für meinen Teil gestatte mir über dein Vorgehen, respektive dein Benehmen, in der zur Rede stehenden Angelegenheit durchaus anders zu denken.
Bernhardi. Ach so. Hat dich deine Frau Gemahlin hergeschickt, um mir eine Zurechtweisung zu erteilen?
Filitz (sehr ärgerlich). Ich bin keineswegs berechtigt, und es liegt mir auch völlig fern. – Kurz und gut, ich bin da, um dich zu fragen, was du zu tun gedenkst, um meiner Frau Genugtuung für den ihr angetanen Affront zu verschaffen.
Bernhardi (wirklich erstaunt). Ah. Na! Du meinst wohl nicht im Ernst –
Cyprian kommt. Filitz, Löwenstein, Bernhardi.
Cyprian. Guten Abend, meine Herren. Bitte um Entschuldigung, daß ich so ohne weiteres . . . Aber ich kann mir ja denken – (reicht allen die Hände).
Bernhardi. Du kommst am Ende auch, weil die Fürstin Stixenstein das Protektorat über unsern Ball niedergelegt?
Cyprian. Die Ballsache steht in zweiter Linie.
Filitz (auf die Uhr sehend). Ich habe leider keine Zeit mehr. Du wirst mich entschuldigen, Cyprian. Ich wiederhole nur noch einmal meine Frage an dich, Bernhardi, in welcher Weise du meiner Frau Genugtuung dafür zu verschaffen gedenkst (mit einem Blick auf Cyprian), daß sie von der Fürstin Stixenstein nicht empfangen wurde.
Löwenstein blickt auf Cyprian.
Bernhardi (sehr ruhig). Sage deiner verehrten Gemahlin, lieber Filitz, ich hielte sie für zu klug, um annehmen zu dürfen, sie kränke sich nur eine Sekunde ernstlich darüber, daß ihr der Salon einer durchlauchtigsten Gans verschlossen blieb.
Filitz. Diese Art der Beantwortung überhebt mich ja allerdings alles weiteren. Ich habe die Ehre, meine Herren. (Rasch ab. Löwenstein, Bernhardi, Cyprian.)
Cyprian. Das hättest du nicht sagen sollen, Bernhardi.
Löwenstein. Warum hätte er nicht sollen?
Cyprian. Ganz abgesehen davon, daß man gewisse Leute nicht überflüssigerweise reizen soll, er ist im Unrecht. Die Fürstin ist alles eher als eine Gans. Sie ist sogar eine sehr kluge Person.
Bernhardi. Klug? Babette Stixenstein?
Löwenstein. Beschränkt, kleinlich, bigott ist sie.
Cyprian. Es gibt Dinge, über die die Fürstin nicht einmal nachdenken darf, sonst wäre sie gerade so eine Entartete wie du, wenn du nicht über diese Dinge nachdächtest. Wir müssen diese Leute verstehen, das gehört zu unserem Wesen, und sie dürfen uns gar nicht verstehen, das gehört wieder zu ihrem Wesen. Im übrigen ist das ja nur der Anfang. Selbstverständlich wird auch der Fürst seine Konsequenzen ziehen, – das heißt, das Kuratorium wird wahrscheinlich in corpore demissionieren.
Löwenstein. Das wäre ja eine Ungeheuerlichkeit.
Bernhardi (der hin und her gegangen, vor Cyprian stehen bleibend). Entschuldige, Cyprian. Das Kuratorium besteht aus dem Prinzen Konstantin, dem Bischof Liebenberg, dem Fürsten Stixenstein, dem Bankdirektor Veith und dem Hofrat Winkler. Und außer dem Fürsten, das garantiere ich dir –
Cyprian. Garantier lieber nichts.
Bernhardi. Vor einer Stunde habe ich den Prinzen gesprochen.
Cyprian. Er hat dir wohl seine Anerkennung ausgesprochen?
Bernhardi. Er war die Liebenswürdigkeit selbst. Und daß er mich gerade heute rufen ließ, sagt mehr als alles, denn es fehlt ihm nicht das Geringste, und es war offenbar nur, um über die Sache mit mir zu reden.
Cyprian. Er hat davon begonnen?
Bernhardi. Natürlich.
Löwenstein. Was hat er gesagt?
Bernhardi (etwas geschmeichelt lächelnd). Daß ich vor ein paar hundert Jahren wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen geendet hätte.
Cyprian. Und das hast du als Zustimmung aufgefaßt?
Bernhardi. Du weißt noch nicht, was er hinzugesetzt hat: »Ich wahrscheinlich auch.«
Löwenstein. Ha!
Cyprian. Was ihn nicht hindert, regelmäßig die Messe zu besuchen und im Herrenhaus gegen die Eherechtsreform zu stimmen.
Bernhardi. Ja, es gibt offizielle Verpflichtungen.
Cyprian. Na, und hast du dich vielleicht gleich beim Prinzen erkundigt, wie die andern Herren des Kuratoriums über die Sache denken?
Bernhardi. Der Prinz hat mir ungefragt eine Äußerung des Bischofs mitgeteilt.
Löwenstein. Nun?
Bernhardi. »Der Mann gefällt mir.«
Löwenstein. Der Bischof gefällt dir?
Bernhardi. Nein, ich gefalle ihm.
Cyprian. Ja, diese Äußerung ist mir auch schon mitgeteilt worden, nur hat man mir nicht die zweite Hälfte unterschlagen.
Bernhardi. Die zweite Hälfte?
Cyprian. Vollständig lautet die Äußerung des Bischofs nämlich: Dieser Bernhardi gefällt mir nicht übel, aber er wird's bereuen.
Bernhardi. Und von wem weißt du denn das so genau?
Cyprian. Vom Hofrat Winkler, aus dessen Bureau ich eben komme, und der mir auch angedeutet hat, daß das Kuratorium demissionieren wird.
Bernhardi. Aber ich bitte dich. Der Hofrat ist doch selber im Kuratorium, und der wird uns doch nicht im Stich lassen.
Cyprian. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben. Er kann nicht als einziger Kurator sitzenbleiben, wenn die andern alle gehen.
Bernhardi. Warum nicht? Wenn er der Mann ist, für den wir ihn immer gehalten haben. –
Löwenstein. Ich bitte dich, ein Hofrat –
Cyprian. Was wäre denn damit geholfen, wenn er als einziger deine Partei nähme? Kannst du von ihm verlangen, daß er deinetwegen –
Bernhardi. Es handelt sich nicht um mich, das weißt du sehr gut.
Cyprian. Sehr richtig, nicht um dich. Du sagst es selbst. Es handelt sich um das Institut. Um unser Institut. Und wenn das Kuratorium geht, so ist es aus mit uns.
Bernhardi. Aber, aber!
Löwenstein. Wieso denn? Dein Prinz Konstantin und auch Seine Eminenz haben sich nie durch besondere Noblesse ausgezeichnet.
Cyprian. Aber dafür nenn' ich euch ein Dutzend Juden, die uns überhaupt nur was geben, weil ein Prinz und ein Bischof im Kuratorium sitzen. Und wenn wir kein Geld mehr kriegen, so können wir einfach zusperren.
Bernhardi. Und alles das sollte passieren, weil ich meine Pflicht als Arzt erfüllt habe –
Löwenstein. Es ist ungeheuerlich, ungeheuerlich. So soll es zusammenbrechen, unser Institut. Wir gründen ein anderes, ein besseres, ohne die Filitze und Ebenwalds und Konsorten. Ah, Bernhardi, wie hab ich dich gewarnt vor diesen Leuten. Aber du mit deiner Vertrauensseligkeit. Nun wirst du hoffentlich gewitzigt sein.
Cyprian (der vergeblich versucht hat, ihn zu beschwichtigen). Möchtest du einen nicht endlich zu Worte kommen lassen. Vorläufig steht ja das Institut noch. Und vorläufig haben wir sogar noch das Kuratorium. Bisher hat es nicht demissioniert. Und es wird sich möglicherweise ein Modus finden lassen, um diese immerhin etwas peinliche Sache zu verhindern.
Bernhardi. Ein Modus?
Cyprian. Auch der Hofrat, wie du nicht leugnen wirst, ein sehr kluger, aufgeklärter und dir wahrhaft wohlgesinnter Mensch, ist der Ansicht –
Bernhardi. Welcher Ansicht? Drück dich doch etwas klarer aus, Cyprian.
Cyprian. Daß du dir nicht das Geringste damit vergäbest, Bernhardi, wenn du in einer angemessenen Form –
Löwenstein (dreinfahrend). Er soll sich entschuldigen?
Cyprian. Wer redet von Entschuldigen. Er soll ja nicht Buße tun im härenen Gewand an der Kirchentür. Er soll ja nichts widerrufen oder irgendein Dogma beschwören. (Zu Bernhardi.) Es wird vollkommen genügen, wenn du dein Bedauern aussprichst –
Bernhardi. Ich habe nichts zu bedauern.
Löwenstein. Im Gegenteil.
Cyprian. Also nicht dein Bedauern. Wir wollen uns nicht um Worte streiten. Aber du kannst doch erklären, ohne dir damit das Geringste zu vergeben, daß es dir ferne lag, irgendwelche religiösen Gefühle zu verletzen. Das hast du doch wirklich nicht tun wollen.
Bernhardi. Das wissen ja die Leute.
Cyprian. Als wenn es darauf ankäme. Du redest immer, als wenn du es ausschließlich mit ehrlichen Leuten zu tun hättest. Natürlich wissen es die Leute und die, die dir einen Strick aus der Sache drehen wollen, wissen es am allerbesten. Aber trotzdem sehe ich voraus, und es sind schon Anzeichen dafür vorhanden, daß man versuchen wird, dich als einen bewußten Religionsstörer hinzustellen, und dir aufbringen wird, du habest ein heiliges Sakrament verhöhnt.
Bernhardi. Aber!
Cyprian. Verlaß dich drauf. Und es wird niemand da sein, niemand, der für dich eintritt.
Bernhardi. Niemand –?
Cyprian. Und du wirst die ganze Affäre nicht nur unter dem böswilligen Geheul deiner geborenen und neuerworbenen Feinde, sondern überdies unter dem verlegenen Schweigen oder dem mißbilligenden Gemurmel der Gleichgültigen, und sogar deiner Freunde, durchzuführen haben. Und natürlich wird es auch an dem Vorwurf nicht fehlen, daß gerade du dich vor einer solchen Unvorsichtigkeit hättest hüten müssen, weil dir gewisse Vorbedingungen fehlen, die die Menschen erst fähig machen, das tiefste Wesen der katholischen Sakramente zu erfassen.
Bernhardi. Ja, sag mir nur –
Cyprian. Alles das hab ich schon gehört. Von Wohlwollenden, mein Lieber, von sogenannten Aufgeklärten. Und du magst dir darnach einen Begriff machen, was du von den andern zu erwarten hast.
Löwenstein. Und wegen dieses Gesindels –
Cyprian. So kommt mir doch nicht immer mit eurer moralethischen Entrüstung. Ja, die Menschen sind ein Gesindel – aber wir müssen damit rechnen. Und – (zu Bernhardi) da es doch weder deine Absicht, noch deine Sache ist, dich mit dem Gesindel einzulassen, und du an den Menschen und Dingen durch Halsstarrigkeit nicht das Geringste ändern wirst, so rate ich dir noch einmal auf das allerdringendste das Möglichste zu tun, um den drohenden Sturm zu beschwichtigen und vorläufig einmal eine Erklärung abzugeben, wie ich sie dir früher vorgeschlagen habe. Die Gelegenheit bietet sich von selbst. Morgen haben wir eine Sitzung wegen der Neubesetzung der Tugendvetterschen Abteilung.
Bernhardi. Richtig, richtig. Darüber wäre eigentlich wichtiger zu reden, als über diese ganze verdammte –
Cyprian. Das denk ich mir auch. Du sollst ja nicht deine Überzeugung verleugnen, Bernhardi. Wie ich schon sagte: Eine einfache Erklärung wäre ausreichend.
Bernhardi. Und du glaubst, daß damit –
Löwenstein. Du willst doch nicht wirklich, Bernhardi? Wenn du das tust, dann nehm ich's auf mich. Dann trete ich für die Sache ein. Als hätte ich selbst Seine Hochwürden –
Cyprian. Laß dich von diesem Menschen nicht aufhetzen, Bernhardi. Überlege doch nur! Würdest du nur einen Moment zögern, ein so kleines Opfer deiner Eitelkeit zu bringen, wenn es sich zum Beispiel um die Zukunft deines Oskar handelte? Und so ein Werk wie das Elisabethinum ist am Ende auch nichts viel Geringeres als ein Kind. Es ist ja doch hauptsächlich dein Werk, wenn ich auch an deiner Seite gestanden bin. Bedenke doch nur, gegen welche Anfechtungen du es verteidigt, wie du dafür gearbeitet, gekämpft hast.
Bernhardi (immer hin und her). Das hat allerdings seine Richtigkeit. Es waren wahrhaftig Kampfjahre, besonders die ersten. Es war keine Kleinigkeit, das muß ich schon sagen, was ich –
Cyprian. Und jetzt, wo wir das Institut so weit gebracht haben, soll es wegen einer solchen Bagatelle ernstlich gefährdet sein, gar am Ende zugrunde gehen? Nein, Bernhardi, das darf nicht geschehen. Du hast Besseres zu tun, als deine Kraft in einem unfruchtbaren und etwas lächerlichen Kampf aufzureiben. Du bist Arzt. Und ein gerettetes Menschenleben ist mehr wert als ein hochgehaltenes Banner.
Löwenstein. Sophisterei!
Cyprian. Wir stehen an einem Wendepunkt. Es hängt nur von dir ab, Bernhardi, und unser Institut geht einer glänzenden Zukunft entgegen.
Bernhardi bleibt erstaunt stehen.
Cyprian. Das Wichtigste weißt du nämlich noch gar nicht. Ich habe auch Gelegenheit gehabt, mit Flint zu sprechen.
Bernhardi. Du hast mit ihm über diese Angelegenheit –?
Cyprian. Nein, über die kein Wort. Ich habe es absichtlich vermieden, und er auch. Ich war bei ihm wegen der kriminalanthropologischen Ausstellung, die im Herbst stattfinden soll. Aber natürlich kamen wir auch auf das Elisabethinum zu reden, und ich kann dich versichern, Bernhardi, daß er seine Stellung zu uns wirklich ganz entschieden geändert hat.
Löwenstein. Flint ist ein Streber, ein Schwätzer.
Cyprian. Er hat seine Fehler, das wissen wir alle, aber er ist ein administratives Genie; er hat große Dinge vor, plant Reformen auf allen möglichen Gebieten, insbesondere auf dem des medizinischen Unterrichts und der Volkshygiene, und dazu, es sind seine eigenen Worte, braucht er Menschen, nicht Beamte. Menschen wie mich und dich –
Bernhardi. So? – Menschen braucht er – Er hat es vielleicht sogar geglaubt in dem Augenblick, da er mit dir darüber sprach.
Cyprian. Ja, er ist leicht entzündet, das wissen wir. Aber es kommt eben nur darauf an, ihn warm zu halten. Dann wird auch viel von ihm zu erreichen sein. Und dich schätzt er wirklich, Bernhardi. Er war geradezu gerührt, als er von eurer gemeinsamen Assistentenzeit bei Rappenweiler sprach. Es ist ihm aufrichtig leid, daß ihr auseinandergekommen seid, und er hofft, dies seine eigenen Worte, daß ihr euch auf der Höhe des Lebens wiederfinden werdet. Was für einen Anlaß hätte er, so etwas zu sagen, wenn er es nicht empfände?
Bernhardi. Empfände – Im Moment. Ich kenn ihn ja. Wärst du eine Viertelstunde länger bei ihm geblieben, so hätte er sich eingebildet, ich sei sein bester Freund gewesen. Und geradeso ist vor zehn Jahren das Elisabethinum, erinnere dich nur, ein Seuchenherd mitten in der Stadt gewesen, und wir – eine bedenkliche Clique allzu strebsamer junger Dozenten.
Cyprian. Er ist seither älter geworden und reifer. Er weiß heute, was das Elisabethinum bedeutet, und wir hätten einen Freund an ihm. Glaub mir, Bernhardi.
Bernhardi (nach einer kleinen Pause). Wir müssen ja heute jedenfalls noch einmal zusammenkommen, schon wegen der Besetzungssache.
Cyprian. Ja, natürlich. Ich werde auch an Tugendvetter telephonieren.
Löwenstein. Der kommt nicht.
Bernhardi. Also, wenn's euch recht ist, wollen wir uns um halb zehn im Riedhof treffen, und bei dieser Gelegenheit können wir ja noch ein Wort über die Form der sogenannten Erklärung –
Löwenstein. Bernhardi –
Bernhardi. Ich habe nämlich wirklich gar keine Lust, den Helden um jeden Preis zu spielen. Daß ich im Ernstfalle der Mann bin, durchzusetzen, was ich will, das habe ich ja schon etliche Male bewiesen. Und so wird sich vielleicht eine Form finden lassen –
Cyprian. Um die Form ist mir nicht bange. Du findest gewiß das Richtige so in deiner Art, leicht ironisch, wenn du willst, aber eben nur leicht. Am Ende würde wohl dein Lächeln genügen, das man ja der Fürstin nicht hinterbringen müßte.
Löwenstein. Ihr seid mir Männer.
Cyprian. Ruhig, Löwenstein, du bist ja doch nur der Kiebitz, dem kein Spiel zu hoch ist.
Löwenstein. Ich bin kein Kiebitz, ich bin ein Vogel auf eigene Faust.
Cyprian. Also auf Wiedersehen, Bernhardi, um halb zehn. Und du bringst ein Konzept mit.
Bernhardi. Ja, das auch deine religiösen Gefühle nicht beleidigen wird, Löwenstein.
Löwenstein. Das hab ich gar gern.
Bernhardi reicht beiden die Hände, und sie gehen.
Bernhardi allein geblieben, geht ein paarmal hin und her, dann sieht er auf die Uhr, schüttelt den Kopf, nimmt sein Notizbuch hervor, schaut nach, steckt es wieder ein, mit einer Geste, als wollte er sagen: Das kann warten, dann setzt er sich an den Schreibtisch, nimmt aus einer Mappe einen Bogen Papier, beginnt zu schreiben, anfangs ernst, bald geht ein ironisches Lächeln über seine Lippen, er schreibt weiter, der Diener tritt ein.
Diener eine Karte überreichend.
Bernhardi (befremdet, zögernd – dann). Ich lasse bitten.
Ebenwald tritt ein. Bernhardi.
Ebenwald. Guten Abend.
Bernhardi (ihm entgegengehend und die Hand reichend). Guten Abend, Herr Kollega, was verschafft mir das Vergnügen?
Ebenwald. Wenn es Ihnen recht ist, Herr Direktor, so möchte ich ohne weitere Einleitung gleich in medias res –
Bernhardi. Selbstverständlich, – bitte. (Lädt ihn zum Sitzen ein.)
Ebenwald setzt sich auf einen Sessel neben dem Schreibtisch.
Bernhardi setzt sich auf seinen Schreibtischstuhl.
Ebenwald. Ich halte es nämlich für meine Pflicht, Herr Direktor, Ihnen mitzuteilen, daß sich etwas gegen Sie, respektive gegen unser Institut, vorbereitet.
Bernhardi. So, ist es das? Da glaube ich, Sie beruhigen zu können, Herr Kollega, die Sache wird applaniert werden.
Ebenwald. Welche Sache, wenn ich fragen darf?
Bernhardi. Sie sprechen doch jedenfalls von der in der Luft schwebenden Demission des Kuratoriums?
Ebenwald. So, das Kuratorium will demissionieren? Na ja, das ist ja ziemlich – aber das erfahre ich eben von Ihnen, Herr Direktor. Ich komme wegen was ganz anderm. Wie ich aus parlamentarischen Kreisen erfahre, soll demnächst eine Interpellation in einer gewissen, Ihnen nicht unbekannten Angelegenheit eingebracht werden.
Bernhardi. Oh –! Nun, es ist anzunehmen, daß auch diese Interpellation unterbleiben wird.
Ebenwald. Also, Herr Direktor, ich bitte um Entschuldigung, ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben, um die unerwünschte, wenn auch nicht unbegreifliche Stellungnahme gewisser Persönlichkeiten in der leidigen Affäre in günstigem Sinn für uns alle zu beeinflussen; aber, ob die Gefahr dieser Interpellation so ohne weiteres von Ihrem, das heißt von unserm Haupte abzuwenden sein wird, darüber kann ich leider nicht so optimistisch denken wie Sie, Herr Direktor.
Bernhardi. Wir müssen es eben abwarten.
Ebenwald. Das ist auch ein Standpunkt. Aber es handelt sich ja da nicht um Sie allein, Herr Direktor, sondern um unser Institut.
Bernhardi. Ist mir bekannt.
Ebenwald. Und so wäre es immerhin empfehlenswert, über einen Modus nachzudenken, durch welchen diese Interpellation verhindert werden könnte.
Bernhardi. Das stelle ich mir allerdings nicht so einfach vor. Denn die betreffenden Herren werden doch jedenfalls aus Überzeugung interpellieren, – im Namen der von mir beleidigten Religion. Und was in aller Welt könnte gesinnungstüchtige Männer veranlassen, von einem als gerecht und notwendig empfundenen Vorsatz wieder abzustehen?
Ebenwald. Was diese Leute veranlassen könnte wieder abzustehen? Nun, wenn sie zur Einsicht gelangten, daß keine Schuld, daß sie wenigstens nicht in dem Ausmaße vorhanden ist, wie ursprünglich angenommen wurde, wenn sie die Überzeugung gewännen, daß nicht etwa eine gewisse Neigung vorhanden ist, à tout prix einen, wie soll ich sagen – antikatholischen Standpunkt zu betonen –
Bernhardi. Muß das diesen Leuten wirklich erst gesagt werden?
Ebenwald. Nein, gesagt nicht, denn gesagt ist ja leicht was. Man müßte es beweisen.
Bernhardi. Das fängt ja an interessant zu werden. Wie stellen Sie sich denn einen solchen Beweis vor, Herr Kollega?
Ebenwald. Wenn man sich etwa einem konkreten Fall gegenüberbefände, aus dem die von mir angedeutete Folgerung gewissermaßen unzweideutig resultieren würde.
Bernhardi (ungeduldig). So einen Fall müßte man ja direkt konstruieren.
Ebenwald. Gar nicht notwendig. Der Fall liegt schon vor.
Bernhardi. Wieso?
Ebenwald. Morgen, Herr Direktor, soll über die Neubesetzung der Tugendvetterschen Abteilung entschieden werden.
Bernhardi. Ah!
Ebenwald (kühl). Jawohl. Es stehen sich zwei Kandidaten gegenüber.
Bernhardi (sehr bestimmt). Einer, der die Stelle verdient und einer, der sie nicht verdient. Ich weiß keinen andern Unterschied, der in Betracht käme.
Ebenwald. Es wäre ja möglich, daß beide Kandidaten sie verdienen, und ich weiß nicht, Herr Direktor, ob Sie sich genügend mit Dermatologie befaßt haben, um in diesem Fall –
Bernhardi. Ich habe selbstverständlich im Laufe der letzten Wochen die Arbeiten von beiden Kandidaten durchstudiert. Es ist einfach lächerlich, – und Sie wissen das so gut wie ich, Herr Kollega –, die beiden Leute miteinander nur in einem Atem zu nennen. Ihr Doktor Hell hat ein paar Krankengeschichten geschrieben, in ziemlich fragwürdigem Deutsch nebstbei, die Arbeiten von Wenger sind außerordentlich, richtunggebend.
Ebenwald (sehr ruhig). Dagegen steht die Meinung anderer, daß die Hellschen Krankengeschichten vorzüglich und für den Praktiker von enormer Bedeutung sind, während die Wengerschen Arbeiten wohl geistreich, aber nach der Ansicht von Fachleuten nicht als besonders verläßlich gelten können. Und was seine Persönlichkeit anbelangt, so erfreut sich sein präponderantes und auch sonst nicht sehr angenehmes Wesen selbst bei seinen Freunden nur geringer Sympathie. Und meiner Ansicht nach sollte bei einem Arzt, insbesondere bei dem Leiter einer Abteilung –
Bernhardi (immer ungeduldiger). Diese Diskussion erscheint mir gegenstandslos. Nicht ich habe zu entscheiden, sondern das Plenum.
Ebenwald. Aber bei Stimmengleichheit, Herr Direktor, entscheiden Sie. Und Stimmengleichheit ist mit Sicherheit vorauszusehen.
Bernhardi Wieso?
Ebenwald. Also für Wenger werden sein: Cyprian, Löwenstein, Adler und natürlich der bewährte altliberale Pflugfelder.
Bernhardi. Und Tugendvetter.
Ebenwald. Das glauben Sie selbst nicht, Herr Direktor.
Bernhardi. Hat er Ihnen schon versprochen?
Ebenwald. Das wäre kein Beweis. Aber Sie wissen ja so gut wie ich, Herr Direktor, er wird nicht für Wenger sein. Und daß der eigene Lehrer ihm die Stimme verweigern dürfte, das sollte auch Sie, Herr Direktor, etwas bedenklich –
Bernhardi (nach seiner Gewohnheit hin und her). Sie wissen doch ganz gut, Herr Professor Ebenwald, warum Tugendvetter gegen seinen Schüler ist. Einfach, weil er Angst hat, durch ihn an seiner Praxis einzubüßen. Dabei ist Ihnen geradeso gut bekannt wie uns allen, daß die letzten Arbeiten Tugendvetters nicht von ihm sind, sondern von Wenger.
Ebenwald. Bitte, Herr Direktor, wollen Sie das nicht dem Herrn Professor Tugendvetter persönlich sagen?
Bernhardi. Das lassen Sie meine Sorge sein, Herr Professor, es ist immer meine Gewohnheit gewesen, den Leuten ins Gesicht zu sagen, was ich denke. Und so sage ich Ihnen, Herr Professor, daß Sie nur darum für Hell agitieren, weil er – kein Jude ist.
Ebenwald (sehr ruhig). Mit demselben Recht könnte ich Ihnen erwidern, Herr Direktor, daß Ihre Stellungnahme für Wenger –
Bernhardi. Sie vergessen, daß ich vor drei Jahren für Sie gestimmt habe, Herr Professor Ebenwald.
Ebenwald. Aber mit einiger Selbstüberwindung, nicht wahr? Und so ging's mir auch mit dem Wenger, Herr Direktor. Und darum tu ich's nicht. So was bereut man immer. Und selbst, wenn ich eine höhere Meinung von Wenger hätte, ich versichere Sie, Herr Direktor, in einer Korporation kommt es nicht allein auf das Talent des Einzelnen an –
Bernhardi. Sondern auf den Charakter.
Ebenwald. Auf die Atmosphäre, hab ich sagen wollen. Und hier sind wir wieder bei dem Ausgangspunkte unserer Unterhaltung angelangt. Es ist ja wirklich schrecklich, daß bei uns in Österreich alle Personalfragen auf politischem Gebiete endigen. Aber damit muß man sich schon einmal abfinden. Schaun Sie, Herr Direktor, wenn der Hell ein Idiot wär, so möcht ich natürlich nicht für ihn stimmen und es Ihnen nicht zumuten. Aber schließlich, er macht die Leute grad so gesund wie der Wenger. Und wenn Sie bedenken, Herr Direktor, daß durch eine Stellungnahme Ihrerseits möglicherweise auch alle die unbequemen Folgen vermieden würden, die durch jene andere Affäre – Eine Garantie kann ich natürlich nicht übernehmen. Denn es ist ja nur ein Einfall von mir.
Bernhardi. Ah!
Ebenwald. Selbstverständlich. Aber es wäre jedenfalls der Mühe wert, Herr Direktor, wenn Sie sich die Sache einmal sine ira et studio überlegten. Wir können ja morgen vor der Sitzung noch einmal darüber sprechen.
Bernhardi. Das dürfte überflüssig sein.
Ebenwald. Wie Sie meinen, Herr Direktor. Aber wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Sie sollten nicht durch einen falschen Stolz – es bleibt ja natürlich alles unter uns –
Bernhardi. Ich habe keinerlei Anlaß, Sie um Ihre Diskretion zu ersuchen, Herr Professor. Sagen Sie den Herren, die Sie hergeschickt haben, –
Ebenwald. Oho!
Bernhardi. Daß ich auf Geschäfte solcher Art nicht eingehe und –
Ebenwald. Pardon, es hat mich niemand hergeschickt; Bestellungen entgegenzunehmen, bin ich also nicht in der Lage. Mein Besuch bei Ihnen, Herr Direktor, war ein durchaus inoffizieller. Das bitte festzuhalten. Ich bin weder als Abgesandter gekommen noch in meinem Interesse, da ich mich ja keineswegs geneigt finde, die Verantwortung für Ihre Haltung gegenüber Seiner Hochwürden mitzutragen, – sondern in dem Interesse unseres Institutes und in dem Ihren, Herr Direktor. Sie haben die dargebotene Freundeshand verschmäht –
Bernhardi. Und Sie gehen als Feind. Mir lieber. Es ist die ehrlichere Rolle.
Ebenwald. Nach Belieben, Herr Direktor. – Ich habe die Ehre.
Bernhardi. Guten Abend.
(Begleitet ihn zur Türe, Ebenwald ab. Bernhardi allein, einige Male auf und ab, ergreift das Blatt, auf das er früher zu schreiben begonnen, liest es durch, dann nimmt er es und reißt es auseinander. Sieht wieder auf die Uhr, macht sich fertig. Der Diener tritt ein.)
Bernhardi. Was gibt's denn?
Diener überreicht ihm eine Karte.
Bernhardi. Wie? Persönlich? Ich meine, Seine Exzellenz selbst ist hier?
Diener. Jawohl, Herr Professor.
Bernhardi. Ich lasse bitten.
Diener ab. Gleich darauf tritt Flint ein.
Bernhardi. Flint, groß, schlank, fünfzig vorüber, kurzgeschnittenes Haar, kleine Bartkoteletten, eine nicht ganz unbeabsichtigte Diplomatenmaske, sehr liebenswürdig, oft mit echter Wärme.
Bernhardi (noch an der Türe). Exzellenz? (Mit seinem leicht ironischen Lächeln.)
Flint (ihm die Hand reichend). Wir haben uns lange nicht gesehen, Bernhardi.
Bernhardi. Doch erst neulich, – in der Gesellschaft der Ärzte.
Flint. Ich meine, so privat.
Bernhardi. Ja, das freilich. – Willst du nicht Platz nehmen?
Flint. Danke, danke. (Er setzt sich, Bernhardi bald nach ihm. Absichtlich leicht.) Es wundert dich, mich bei dir zu sehen?
Bernhardi. Ich bin – angenehm überrascht, und will die Gelegenheit nicht versäumen, dir zu deiner neuen Würde Glück zu wünschen.
Flint. Würde! Du weißt wohl, daß ich meine neue Stellung nicht so auffasse. Aber nichtsdestoweniger nehme ich deinen Glückwunsch mit ganz besonderer Befriedigung entgegen. Freilich bin ich nicht ausschließlich gekommen, um mir diesen Glückwunsch persönlich einzukassieren, wie du dir wohl denken kannst.
Bernhardi. Allerdings.
Flint (einsetzend). Also, mein lieber Bernhardi, ich brauche dir nicht erst zu sagen, daß ich nicht beabsichtige, mein Portefeuille als Ruhekissen zu benützen, sondern daß ich entschlossen bin, die möglicherweise nur karg bemessene Spanne Zeit, die mir auf meinem Posten gegönnt ist, zur Durchführung von allerlei Reformen zu benützen, die mir, wie du dich vielleicht erinnern kannst, von Jugend auf am Herzen liegen. Reformen auf dem Gebiete des medizinischen Unterrichtes, der sozialen Hygiene, der allgemeinen Volksbildung, na, und so weiter. Hierzu genügen selbstverständlich die braven, aber doch in ihrer Weltauffassung etwas schablonenhaften Leute nicht, die mir die Regierung zur Verfügung stellt. Hierzu brauche ich gewissermaßen einen Stab, einen freiwilligen Stab natürlich, von selbständig denkenden, vorurteilslosen Männern. An tüchtigen Beamten ist ja kein Mangel in Österreich und speziell bei uns im Unterrichtsministerium; aber was ich zur Durchführung meiner Pläne brauche, sind Menschen. Und ich komme dich fragen, lieber Bernhardi, ob ich auf dich rechnen kann.
Bernhardi (nach einem leichten Zögern). Du wirst vielleicht die Güte haben, dich etwas präziser zu fassen.
Flint. Noch präziser? – hm – Nun – ich war ja darauf vorbereitet, dich spröde zu finden.
Bernhardi. Nein, gewiß nicht. Ich wünsche nur, daß du dich näher erklärst. Früher kann doch ich nicht – ich muß doch wissen, auf welchem Gebiet du meine Mitwirkung brauchst. (Mit seinem ironischen Lächeln.) Auf dem des medizinischen Unterrichtes, der sozialen Hygiene, der Volksbildung. – Hab ich noch etwas vergessen?
Flint. Immer der Alte noch. Aber gerade darum gestatte ich mir, auf dich besondere Hoffnungen zu setzen. Es liegt ja vielleicht noch manches zwischen uns, obwohl ich wirklich nicht recht weiß –
Bernhardi (ernst). Ich will es dir sagen, Flint; die Freundschaft einer Jugend und – was dann daraus wurde.
Flint (herzlich). Aber was wurde denn daraus, Bernhardi? Man kam eben ein wenig auseinander mit der Zeit. Das lag in den Verhältnissen, vielleicht selbst ein wenig in den Gesetzen unserer inneren Entwicklung.
Bernhardi. Ganz meine Ansicht.
Flint. Solltest du nachträgerisch sein, Bernhardi?
Bernhardi. Ich habe nur ein gutes Gedächtnis.
Flint. Das kann auch ein Fehler sein, Bernhardi, wenn es die klare Auffassung gegenwärtiger Verhältnisse behindert. Ich dachte eigentlich, die Streitaxt zwischen uns wäre tief begraben, und die Jahre des Kampfes vergessen.
Bernhardi. Kampf? Das ist ein recht edles Wort für eine nicht sonderlich edle Sache.
Flint. Bernhardi!
Bernhardi. Nein, mein Lieber, es war nicht schön! Und es erschiene mir wie eine Treulosigkeit gegen meine eigene Vergangenheit, wenn ich so leicht darüber hinweggehen könnte. (Er ist aufgestanden.) Oh, mit welchen Waffen habt ihr uns damals bekämpft, du und die andern Ordinarii; mit welchen Mitteln habt ihr versucht, unser junges Unternehmen zu untergraben! Was habt ihr alles aufgebracht, um uns in der Meinung der Leute herabzusetzen, wie habt ihr uns verdächtigt und verfolgt! Wir gründen unser Institut, um den praktischen Ärzten das Geld abzujagen. Wir verseuchen die Stadt, wir wollen eine zweite medizinische Fakultät gründen –
Flint (ihn unterbrechend). Mein lieber Bernhardi, alle diese Vorwürfe wären in gewissem Sinn auch heute aufrecht zu erhalten, wenn nicht das Gute, das ihr auf wissenschaftlichem und humanitärem Gebiete leistet, die weniger positiven Seiten eures Unternehmens längst wettgemacht hätte. Das haben wir eingesehen, ich vor allen, lieber Bernhardi, und aus diesem Grund, nur aus diesem Grunde haben wir unsere Haltung gegen euch geändert. Und du darfst mir glauben, daß das Elisabethinum heute keinen wärmeren Freund besitzt als mich – wie es ja überhaupt niemals persönliche Motive waren, die mich in meiner Stellung gegenüber euch beeinflußt haben, und ich nur aus meiner Überzeugung heraus –
Bernhardi. Ja, das suggeriert man sich dann immer in der wachsenden Erbitterung des Kampfes. Die Überzeugung!
Flint. Entschuldige, Bernhardi. Unsere Fehler haben wir ja alle. Du wahrscheinlich so gut wie ich. Aber wenn ich irgend etwas behaupten kann, so ist es, daß ich niemals, auch nur im kleinsten, gegen meine Überzeugung gesprochen oder gehandelt habe.
Bernhardi. Du weißt das ganz bestimmt?
Flint. Bernhardi!
Bernhardi. Denke einmal genau nach.
Flint (etwas unsicher). Ich mag geirrt haben in meinem Leben wie wir alle, aber gegen meine Überzeugung – Nein! –
Bernhardi. Also, mir ist ein Fall bekannt, in dem du ganz erweislichermaßen gegen deine Überzeugung gehandelt hast.
Flint. Da muß ich aber doch –
Bernhardi. Und daß du so gehandelt hast, das hatte sogar damals den Tod eines Menschen zur Folge.
Flint. Das ist doch etwas stark. Nun muß ich aber darauf bestehen –
Bernhardi. Bitte, bitte. (Er geht einige Male im Zimmer hin und her, bleibt plötzlich stehen, sehr lebhaft.) Wir waren damals Assistenten bei Rappenweiler. Da lag ein junger Mensch auf der Klinik, ich sehe ihn noch vor mir, ich weiß sogar noch seinen Namen, Engelbert Wagner, Diurnist, bei dem unser Chef und übrigens wir alle eine falsche Diagnose gestellt hatten. Als es zur Sektion kam, da stellte sich heraus, daß der Kranke durch eine andere (antiluetische) Behandlung zu retten gewesen wäre. Und wie wir da unten standen und die Sache klar wurde, da hast du mir zugeflüstert: Ich hab's ja gewußt. Erinnerst du dich? Du hattest gewußt, was dem Kranken fehlt, du hattest die richtige Diagnose gestellt –
Flint. Als einziger.
Bernhardi. Ja, als einziger. Hast es aber sorgfältig vermieden, bei Lebzeiten des Kranken etwas davon verlauten zu lassen. Und warum du es vermieden hast, das ist eine Frage, die du dir selbst beantworten magst. Aus Überzeugung dürfte es wohl nicht gewesen sein.
Flint. Donnerwetter, du hast ein gutes Gedächtnis. Auch ich erinnere mich dieses Falles, und es stimmt, ich habe es tatsächlich für mich behalten, daß ich eine andere Behandlung für erfolgversprechend, sogar für geboten erachtete. Und es sei dir ohne weiteres zugestanden, ich hatte nur deshalb geschwiegen, um Rappenweilers Empfindlichkeit nicht zu verletzen, der, wie du weißt, es nicht gerne sah, wenn seine Assistenten klüger waren als er. Und so machst du mir vielleicht ganz mit Recht den Vorwurf, daß ich ein menschliches Leben hingeopfert habe. Nur in den Gründen, in den tieferen Gründen, die du mir unterschiebst, bist du im Irrtum. Dieses eine Opfer, Bernhardi, mußte fallen zugunsten von Hunderten anderer Menschenleben, die später sich meiner ärztlichen Kunst anvertrauen sollten. Ich konnte damals Rappenweilers Protektion noch nicht völlig entbehren, und die Professur in Prag stand in nächster Aussicht.
Bernhardi. Du glaubst, daß dich Rappenweiler fallen gelassen hätte, wenn du –
Flint. Es ist sehr wahrscheinlich. Du bist ein Überschätzer der Menschheit, Bernhardi. Du ahnst nicht, wie kleinlich die Leute sind. Meine Karriere hätte es mich natürlich nicht gekostet, aber einen Aufschub hätte es immerhin bedeuten können. Und mir lag daran, schnell vorwärtszukommen, um für meine Begabung, die auch du nicht leugnen wirst, den nötigen Spielraum zu gewinnen. Darum, mein lieber Bernhardi, habe ich den Diurnisten Engelbert Wagner sterben lassen, und ich fühle mich sogar außerstande, es zu bereuen. Denn es will nicht viel besagen, lieber Bernhardi, sich in irgendeinem unbeträchtlichen Einzelfall korrekt oder, wenn du willst, überzeugungstreu zu benehmen, es handelt sich darum, der immanenten Idee seines eigenen Lebens mit Treue zu dienen. Es ist mir in vieler Hinsicht interessant, daß du im Verlaufe unserer heutigen Unterredung den armen Engelbert Wagner aus seinem Grabe wieder emporzitierst, denn geradezu blitzhaft erkenne ich nun den tiefern inneren Unterschied zwischen dir und mir, und – du wirst vielleicht staunen, Bernhardi – unsere Fähigkeit einander zu ergänzen. Du bist vielleicht das, Bernhardi, und mehr als ich, was man einen anständigen Menschen nennt. Sentimentaler bist du in jedem Fall. Aber ob du imstande wärest, für das Wohl eines großen Ganzen mehr zu leisten als ich, das erscheint mir sehr fraglich. Was dir fehlt, Bernhardi, das ist der Blick fürs Wesentliche, ohne den alle Überzeugungstreue doch nur Rechthaberei bleibt. Denn es kommt nicht aufs Rechthaben an im Einzelnen, sondern aufs Wirken im Großen. Und solche Möglichkeit des Wirkens hinzugeben für das etwas ärmliche Bewußtsein, in irgendeinem gleichgültigen Fall das Rechte getan zu haben, erscheint mir nicht nur klein, sondern im höheren Sinne unmoralisch. Jawohl, mein lieber Bernhardi. Unmoralisch.
Bernhardi. (sich besinnend). Wenn ich den Ton deiner Worte recht deute, hast du jetzt offenbar etwas ganz Bestimmtes im Auge.
Flint. Es hat sich sozusagen, während ich sprach, in mein Gesichtsfeld geschoben.
Bernhardi. Und sollten wir nun nicht ganz unversehens dem eigentlichen Zwecke deines Besuches nähergeraten sein?
Flint. Nicht dem eigentlichen, aber immerhin einem nicht ganz nebensächlichen.
Bernhardi. Und deswegen bemühst du dich –
Flint. Auch deswegen. Denn die Angelegenheit, an die wir jetzt beide denken, dürfte, wie ich mit einiger Sicherheit voraussehe, weitere Kreise ziehen. Du hast das selbstverständlich nicht geahnt. Du hast, wie es deine liebenswürdige, aber manchmal unglückliche Eigenschaft ist, in der gewiß edlen Erregung des Augenblicks unterlassen weiterzublicken. Und so hast du in deinem Auftreten gegenüber Seiner Hochwürden eine Kleinigkeit vergessen, nämlich, daß wir in einem christlichen Staate leben. – Ich weiß nicht, was es da zu lächeln gibt.
Bernhardi. Du wirst dich wieder einmal über mein gutes Gedächtnis wundern. Ich erinnere mich eines Artikels, den du als junger Mensch schreiben wolltest. Er sollte den Titel führen: Gotteshäuser – Krankenhäuser.
Flint. Hm!
Bernhardi. Du wolltest dahin wirken, daß man statt der vielen Kirchen lieber mehr Spitäler baue.
Flint. Ach, einer von den vielen Artikeln, die ich schreiben wollte und nicht geschrieben habe.
Bernhardi. Und nie schreiben wirst.
Flint. Den gewiß nicht. Heute weiß ich, daß sie sehr gut nebeneinander bestehen können, die Gotteshäuser und die Krankenhäuser, und daß in den Gotteshäusern manches Leid geheilt wird, dem wir in den Spitälern, lieber Bernhardi, vorläufig machtlos gegenüberstehen. Aber wir wollen uns nicht in politische Diskussionen verlieren, nicht wahr?
Bernhardi. Um so weniger, als ich dir auf dieses Gebiet kaum folgen könnte.
Flint. Nun ja, das dürfte stimmen. Also, beschränken wir uns lieber auf den speziellen Fall.
Bernhardi. Ja, tun wir das. Ich bin sehr neugierig, was für einen Vorschlag mir Seine Exzellenz der Minister für Kultus und Unterricht zu überbringen hat.
Flint. Vorschlag? Ich habe keinen bestimmten. Ich kann dir nur nicht verhehlen, daß die Stimmung gegen dich überall, wo man hinhören kann, auch in Kreisen, wo du es gar nicht vermuten würdest, eine höchst ungünstige ist, und ich es um deinet- und um eures Institutes willen von Herzen wünschte, daß man die ganze Affäre, soweit es noch möglich ist, aus der Welt schaffen könnte.
Bernhardi. Das wünschte auch ich.
Flint. Wie?
Bernhardi. Ich hätte nämlich allerlei viel Wichtigeres zu tun, als mich mit dieser Sache noch lange zu beschäftigen.
Flint. Sprichst du im Ernst?
Bernhardi. Wie kannst du daran zweifeln. Ich kann dir sogar sagen, daß ich vor kaum einer Stunde mit Cyprian und Löwenstein über eine Erklärung beraten habe, mit der sich die angeblich beleidigten Faktoren sicher zufrieden geben würden.
Flint. Das wäre ja – das wäre ja ausgezeichnet. Aber ich fürchte, unter den gegenwärtigen Umständen kämen wir damit nicht ganz aus.
Bernhardi. Wieso? Was sollte ich denn?
Flint. Wenn du vielleicht – du würdest dir meiner Ansicht nach nicht das Geringste vergeben, um so weniger, als meines Wissens noch keinerlei offizielle Anzeige erstattet worden ist, wenn du durch einen persönlichen Besuch bei Seiner Hochwürden –
Bernhardi. Wie?
Flint. Es würde den vortrefflichsten Eindruck machen. Da du nun doch einmal, sagen wir, die Unvorsichtigkeit begangen hast, Seine Hochwürden gewissermaßen mit Gewalt zu verhindern –
Bernhardi. Mit Gewalt?
Flint. Das ist natürlich ein zu starkes Wort. Aber immerhin, du hast ihn doch von der Türe, so wird wenigstens erzählt, –
Bernhardi. Was wird erzählt?
Flint. – einigermaßen heftig weggedrängt.
Bernhardi. Das ist eine Lüge. Du wirst mir doch glauben –
Flint. Also du hast ihn nicht fortgestoßen?
Bernhardi. Ich habe ihn kaum berührt. Wer von Anwendung einer Gewalt spricht, ist ein bewußter Lügner. Oh, ich weiß ja, wer die Leute sind. Aber das soll ihnen nicht – Jetzt werde ich selbst –
Flint. Aber Ruhe, Bernhardi. Offiziell liegt ja nicht das Geringste vor. Wenn du nun doch schon entschlossen bist, eine Erklärung abzugeben, so wäre es doch das einfachste, bei dieser Gelegenheit ausdrücklich zu erwähnen, daß alle diese Gerüchte –
Bernhardi. Pardon, lieber Flint, du befindest dich in einem Irrtum. Ich habe allerdings eine Erklärung im Sinne gehabt, die ich vorerst in der morgigen Sitzung abgeben wollte, aber es sind indes Umstände eingetreten, die mir die Abgabe einer solchen Erklärung absolut unmöglich machen.
Flint. Was ist denn das wieder? Welche Umstände?
Bernhardi. Zwingende, du kannst es mir glauben.
Flint. Hm. Und du kannst mir nichts Näheres darüber verraten? Es würde mich in hohem Grade interessieren. –
Bernhardi (wieder lächelnd). Sage, mein lieber Flint, solltest du wirklich nur gekommen sein, um mir aus einer Verlegenheit zu helfen?
Flint. Wenn es mir gleichgültig wäre, wie die Sache für dich – und euer Institut ausgeht, so brauchte sie mich wahrhaftig nicht weiter zu kümmern. Du hast dich zum mindesten so unrichtig benommen, daß ich mir wenig Gewissen daraus machte, dich deine Suppe einfach selber auslöffeln zu lassen, wenn es mir nicht um dich und euer Institut leid täte.
Bernhardi. Also kurz und gut, du möchtest um meinetwillen, daß ich dir – eine Interpellation im Parlament erspare.
Flint. Allerdings. Es ist nicht viel in der Sache zu holen. Du hast dich nun einmal dem Pfarrer gegenüber nicht absolut korrekt benommen. Und als ehrlicher Mann wäre man verpflichtet, das wenigstens zuzugeben, wenn man auch im übrigen für die Reinheit deiner Intentionen, für deine Bedeutung als Mann der Wissenschaft –
Bernhardi. Mein lieber Flint, du ahnst wohl nicht, wie sehr du deine Macht überschätztest.
Flint. Hm –
Bernhardi. Du bildest dir offenbar ein, daß es überhaupt noch in deinem Belieben liegt, eine solche Interpellation zu verhindern.
Flint. Bei dir liegt es. Ich kann dich versichern.
Bernhardi. Bei mir, ja. Du weißt gar nicht, wie recht du hast. Bei mir allein. Vor einer halben Stunde hatte ich es in der Hand, die Gefahr dieser Interpellation von meinem und deinem Haupte abzuwenden.
Flint. Du hattest –
Bernhardi. Ja, auf die einfachste Art von der Welt. Die Abteilung Tugendvetter ist bei uns neu zu besetzen, wie du weißt. Morgen haben wir eine Sitzung. Wenn ich mich verpflichtet hätte, im Falle von Stimmengleichheit nicht für Wenger, sondern für Hell zu stimmen, wäre alles in Ordnung.
Flint. Verpflichtet? Wieso? Wem gegenüber?
Bernhardi. Ebenwald war eben bei mir. Er hat mir diesen Antrag überbracht.
Flint. Hm. Glaubst du wirklich? –
Bernhardi. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, als wenn Ebenwald zum Abschluß dieses Handels ausreichende Vollmacht besäße, wenn er es auch geleugnet hat. Vielleicht hätte ich auch nur hineinfallen sollen, und die Interpellation wäre jedenfalls erfolgt, auch wenn ich für Hell meine Stimme abgegeben hätte.
Flint (hin und her). Unser Kollege Ebenwald ist sehr befreundet mit seinem Vetter, dem Abgeordneten Ebenwald. Der ist ein Führer der Klerikalen, und wenn der nicht will, würde die Interpellation gewiß unterbleiben. Ich glaube schon, daß unser Kollege Ebenwald in diesem Fall sozusagen ehrlich vorgegangen ist. Nun, wie hast du dich seinem Antrag gegenüber verhalten?
Bernhardi. Flint!
Flint. Nun ja, du hältst Wenger wohl für den bedeutenderen Dermatologen.
Bernhardi. Du doch auch. Du weißt so gut wie ich, daß Hell eine Null ist. Und selbst wenn die beiden gleichberechtigt wären, so hätte es mir Ebenwald doch einfach durch sein Ansinnen unmöglich gemacht, für einen andern als für Wenger zu stimmen.
Flint. Ja, sehr schlau hat das Ebenwald allerdings nicht angestellt.
Bernhardi. Nicht schlau –?! und das ist alles, was du zu sagen hast? Ich finde dich etwas mild, mein lieber Flint.
Flint. Mein guter Bernhardi, die Politik –
Bernhardi. Was geht mich denn die Politik an?
Flint. Sie geht uns alle an.
Bernhardi. Und du meinst, weil derartige Infamien alle Tage vorkommen in eurer sogenannten Politik, soll ich diese neueste lächelnd als selbstverständlich hinnehmen und den schmählichen Handel überhaupt in Erwägung ziehen?
Flint. Es wäre ja möglich, daß die Frage gar nicht an dich herantritt, daß keine Stimmengleichheit vorliegt und Hell oder Wenger ohne dein Zutun gewählt würden.
Bernhardi. Oh, mein lieber Flint, so bequem wird dir die Sache nicht gemacht.
Flint. Mir? Ich denke –
Bernhardi. (warm). Flint, wenn du heut auch Minister bist, du bist doch am Ende auch Arzt, ein Mann der Wissenschaft, ein Mann der Wahrheit. Wie sagtest du doch früher selbst? Auf den Sinn für das Wesentliche käme es an. Nun, wo ist hier das Wesentliche? Siehst du es nicht? Daß der Fähigste die Abteilung bei uns bekommt, der, dem dann die Möglichkeit gegeben ist, für die kranken Menschen und für die Wissenschaft was Ordentliches zu leisten. Darauf kommt es an, nicht wahr? Das ist das Wesentliche. Nicht daß mir oder dir die Unbequemlichkeit einer Interpellation erspart bleibt, auf die sich ja nötigenfalls eine nicht üble Antwort finden ließe.
Flint. Hm. Um eine Antwort wäre mir freilich nicht bange.
Bernhardi. Das denke ich mir auch.
Flint. Sag einmal, Bernhardi, wärst du imstande, es schriftlich niederzulegen – ich meine, ob du mir einen Brief schreiben könntest, der diese ganze Angelegenheit kurz und schlagend darstellt, damit ich erforderlichenfalls –
Bernhardi. Erforderlichenfalls?
Flint. Jedenfalls will ich es schwarz auf weiß in der Hand haben. Vielleicht würde es nicht notwendig werden, diesen Brief zu verlesen. Man könnte anfangs ziemlich reserviert erwidern, wenn sie interpellieren, mein ich. Aber dann, wenn sie nicht Ruhe geben, dann käme man mit deinem Brief.
(Geste, wie wenn er den Brief aus der Brusttasche zöge.)
Bernhardi. Da wird dir deine parlamentarische Erfahrung wohl den richtigen Weg zeigen.
Flint. Erfahrung? Vorläufig wohl mehr Intuition. Aber ich glaube, es würde gar nicht bis dahin kommen, – bis zur Verlesung deines Briefes, meine ich. Schon aus meinen ersten Worten würden sie merken, aus meinem Tonfall, daß ich noch etwas im Hinterhalt habe. Alle würden es merken. Denn ich habe sie, Bernhardi, sobald ich zu reden anfange, habe ich sie alle. Geradeso wie ich meine Hörer auf der Klinik gehabt habe, geradeso habe ich die Herren im Parlament. Da war neulich eine kleine Debatte über die neue Schulgesetznovelle, ich habe nur ganz beiläufig eingegriffen, aber du kannst dir kaum eine Vorstellung machen von der atemlosen Stille im Haus, Bernhardi. Ehrlich gestanden, ich habe gar nichts Besonderes gesagt. Aber sofort hatte ich ihr Ohr. Und darauf kommt es an. Sie hören mir zu. Und wenn man einem nur wirklich zuhört, kann man ihm nicht mehr ganz unrecht geben.
Bernhardi. Gewiß.
Flint. Und auf die Gefahr hin, daß du es für Eitelkeit hältst, Bernhardi, ich fange beinahe an zu wünschen, daß die Kerle interpellieren.
Bernhardi. Flint!
Flint. Denn bei dieser Gelegenheit könnte man sehr ins Allgemeine gehen. Ich sehe nämlich in diesem Einzelfall ein Symbol für unsere ganzen politischen Zustände.
Bernhardi. Ist's wohl auch.
Flint. Das geht mir immer so, – auch scheinbar ganz bedeutungslosen Einzelfällen gegenüber. Jeder wird irgendwie für mich zum Symbol. Das ist's wohl, was mich für die politische Laufbahn prädestiniert.
Bernhardi. Allerdings.
Flint. Und darum meine ich, man könnte bei dieser Gelegenheit ins Allgemeine gehen.
Bernhardi. Aha, Gotteshäuser – Krankenhäuser.
Flint. Du lächelst. – Mir ist es leider nicht gegeben, solche Dinge leicht zu nehmen.
Bernhardi. Ja, mein lieber Flint, nach all dem, was du jetzt gesagt hast, müßte man ja beinahe den Eindruck haben, daß du geneigt wärst, in der Angelegenheit auf meiner Seite zu stehen.
Flint. Da gehört wohl nicht viel Scharfsinn dazu. Ich will es dir gestehen. Anfangs war ich nicht so vollkommen, – denn dein Vorgehen gegen den Pfarrer find ich nach wie vor nicht sonderlich korrekt. – Aber dieser Ebenwald-Handel, der rückt doch alles in eine ganz andere Beleuchtung. Wichtig ist natürlich nur, daß vorläufig all das ein Geheimnis zwischen uns beiden bleibt. Ich meine, daß du auch deinen Freunden von dieser Ebenwaldsache kein Wort mitteilst. Denn wenn die Leute Wind davon bekommen, was ich vorhabe, so könnten sie sich's am Ende überlegen und von der Interpellation abstehen. Also du behältst dir natürlich eine Abschrift von dem Brief zurück, aber der Inhalt bleibt geheim bis zu dem Augenblick, da ich ihn auf den Tisch des Hauses niederlege.
(Geste ohne Übertriebenheit.)
Bernhardi. Es ist mir ja höchst erfreulich, daß du so – aber – ich will dir doch noch etwas zu bedenken geben. Die Partei, gegen die du aufzutreten hättest, ist sehr stark, sehr rücksichtslos, – und es ist die Frage, ob du imstande sein wirst, ohne sie zu regieren.
Flint. Es käme auf die Probe an.
Bernhardi. Immerhin, wenn dir dein Amt lieber sein sollte –
Flint. Als du –
Bernhardi. Als die Wahrheit, – nur auf die kommt es an, dann rühre lieber nicht an die Sache, dann setz dich lieber nicht für mich ein.
Flint. Für dich? Tu ich ja gar nicht. Für die Wahrheit, für die gerechte Sache.
Bernhardi. Und bist du denn nun auch ganz überzeugt, Flint, daß diese unbeträchtliche Affäre den Einsatz wert ist?
Flint. Diese unbeträchtliche Affäre? Bernhardi! – Merkst du denn noch immer nicht, daß hier viel höhere Werte zur Diskussion stehen, als es auf den ersten Blick den Anschein hat? Daß es sich in gewissem Sinne hier um den ewigen Kampf zwischen Licht und Dunkel – Aber das klingt nach Phrase.
Bernhardi. Ein Kampf jedenfalls, mein lieber Flint, dessen Ausgang unter den heutigen Verhältnissen ziemlich unsicher ist, und in dem deine ganze Ministerherrlichkeit –
Flint. Laß das meine Sorge sein. Wie immer es kommt, ich kann mir keinen schöneren Tod denken als für eine gerechte Sache und – zugunsten von einem, der – gestehe es nur – noch vor einer Stunde mein Feind war.
Bernhardi. Dein Feind bin ich nicht gewesen. Und jedenfalls werde ich gerne bereit sein, dir abzubitten, wenn ich dir unrecht getan haben sollte. Aber das will ich dir gleich sagen, Flint, selbst für den Fall, daß die Sache für dich kein ganz gutes Ende nimmt, Gewissensbisse werde ich keine haben. Denn du weißt, wo das Recht ist in diesem Falle, und ich lehne es von vornherein ab, dich etwa zu bewundern dafür, daß du im Ernstfall deine Pflicht tun wirst.
Flint. Das sollst du auch nicht, Bernhardi. (Er reicht ihm die Hand.) Leb wohl. (Möglichst leicht.) Ich hatte einen Menschen gesucht, ich habe ihn gefunden. Auf Wiedersehen!
Bernhardi. Auf Wiedersehen, Flint! (Zögernd.) Ich danke dir.
Flint. Oh! Auch das darfst du niemals tun. Unsere Sympathie soll auf festerem Grunde ruhen. (Er geht.)
Bernhardi (bleibt eine Weile sinnend stehen). Nun, wir werden ja sehen.