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Auf des Reiches Heerstraße, etwa eine Wegstunde östlich von Frankfurt am Main, bewegte sich langsam ein kleiner Wagenzug vorwärts. Die Fahrzeuge und Gespanne gehörten Eisenacher Kaufleuten, den Herren Schalbe und Cotta, die mit der großen Reichsstadt in Franken fleißig Handel trieben. Herr Kaspar Schalbe der Jüngere geleitete seines Hauses Wagen selbst, hoch zu Roß, in einen Panzer gehüllt, hatte auch einen bewaffneten Knecht aus seinem Heimat mitgenommen und in Friedberg drei Knechte gedungen, daß sie ihm bis Frankfurt das Geleit gaben. Denn die Gegend war unsicherer als die meisten anderen Teile des Reiches. Es gab viel Räubervolk in Franken und Schwaben, gemeines Gesindel, aber auch adelige Schnapphähne, die sich um den Landfrieden des Reichsregimentes nicht kümmerten. Sie überfielen bei Nacht oder auch am hellichten Tage mit Vorliebe die Warenzüge der Stadtherren, die sie »Ellenreiter« oder »Pfeffersäcke« nannten, raubten sie aus und führten die Kaufleute nach ihren Burgnestern und hielten sie dort gefangen, um ein Lösegeld für sie zu erpressen. Manche trieb nur ihr Haß gegen die Städter zu greulicher Gewalttat. Einer, das ritterliche Scheusal Thomas von Absberg, ließ denen, die er gefangen nahm, die Hände oder die Füße abhacken, worauf er sich mit seinen Gesellen davonmachte, so daß die Gefangenen am Wege elendig starben oder verdarben. Kein kaiserliches Mandat, kein abschreckendes Exempel hatte bisher gegen das Unwesen etwas Ernstliches auszurichten vermocht. So taten die Bürger der Städte, die reisen mußten, wohl daran, sich mit Wehr und Waffen zu versehen und zu mehreren zu reiten, um so die Gefahr zu verringern. Deshalb hatte sich Michael Meyenburg mit dem Bewaffneten, der ihn begleitete, dem Schalbe angeschlossen, der ihm bekannt war, und Herr Kaspar hatte ihn gern als Reisegenossen angenommen. Der Stadtschreiber von Nordhausen saß auf seinem starken Gaule wie ein Ritter. Nur die wallenden Federn fehlten auf seinem eisernen Sturmhute.
Die beiden ritten etwa fünfzig Schritte hinter dem letzten Wagen her. Als in der Ferne ein leise summender Ton hörbar ward, zügelte Schalbe sein Roß, und ein Seufzer der Erleichterung kam von seinen Lippen. Dann neigte er sein Haupt zu einem kurzen Gebete.
»Es sind die Glocken des Frankfurter Doms,« sagte er. »So nahe sind wir an der Stadt, daß wir sie hören, obgleich uns der Wind nicht günstig ist. Ich bin mit Sorge den Weg gefahren, das habt Ihr wohl gemerkt, Herr Michael. Nun aber dünkt mich, sind wir in Sicherheit. Hätten wir Martinum einholen können, der vor uns herzieht und nun wohl schon in Frankfurt ist, so hätten wir sicherer reisen können, denn des Reiches Herold geleitet ihn.«
»Meint Ihr?« erwiderte Meyenburg. »Ich acht', die Helden der Straße würden sich den Teufel um des Kaisers Herold scheren, wenn sie Geld und Gut bei ihm und seinen Begleitern vermuteten. Er ist vor ihnen sicher, weil sie wissen, daß er nichts bei sich trägt, was diese Vögel locken könnte.«
Schalbe nickte. »Ihr möget nicht Unrecht haben. Um so unsicherer waren wir, denn in den Wagen liegt nicht geringes Gut, und mich würde mein Vater, Euch Eure Stadt mit einem stattlichen Sümmchen lösen müssen.«
Meyenburg lächelte. »Wir sind sechs bewaffnete Männer. Die Schelme reiten zumeist nur mit dreien oder vieren aus. Mehr Pferde können sie nicht aufbringen. Ich denke, wenn einer auf uns lauert, wird er still beiseite reiten, denn er weiß nicht, ob er sich Beute holt oder blutige Hiebe. Die meisten von diesen Gesellen haben wenig Mut.«
»Den Absberger nehmt aus,« versetzte Schalbe. »Der ist stark wie ein Riese und weiß, daß er's mit dreien aufnimmt. Ich weiß zudem nicht, ob er es zu dieser Zeit auf die Nürnberger abgesehen hat oder auf die Frankfurter. Ich bin wahrhaftig froh, daß wir noch hineinkommen, ehe die Dämmerung zur Dunkelheit geworden ist. Auf der Rückreise, das sage ich Euch, nehme ich sechs Knechte aus Frankfurt mit, und der Sold soll mich nicht gereuen.« »Es ist ein Kreuz und Elend, daß hier im Süden des Reiches die Plage der Landschaden nicht auszurotten ist!« rief Meyenburg. »Die Fürsten zu Sachsen halten ihre Straßen rein, dort hört man selten von einem Bruche des Landfriedens. Geschieht einer, so wird er zumeist bald blutig gerochen. Auch der Brandenburger hat es vermocht, Ordnung und Sicherheit zu schaffen in seinem Lande. Hier aber ist man von einer Stadt zur anderen seines Lebens nicht sicher.«
»Das macht,« erwiderte Schalbe, »es sitzen hier zu viele kleine Herren nebeneinander. Von denen hat keiner die Macht, das Raubgesindel zu packen, und untereinander sind sie uneins, und niemand kann sie unter einen Hut bringen. Auch der Kaiser Max hat das nicht vermocht und war doch ein Herr von großen Gaben.«
»Vielleicht bringt es der junge Kaiser Karl dahin, daß endlich einmal ein echter Landfrieden wird in deutschen Landen,« sagte Meyenburg. »Seine Macht ist groß. Er herrscht über die halbe Welt. Aber zum Henker, was ist das?«
Der Wagenzug stockte. Einer der Knechte aus Friedberg kam eiligst nach hinten geritten. Furcht und Bestürzung spiegelten sich in seinen Mienen.
»Was ist?« schrie ihm Schalbe entgegen.
»Herr, wir können nicht weiter. Baumstämme liegen über dem Wege.«
Schalbe erbleichte. »Hast du Reiter gesehen?«
»Nein, Herr, gesehen habe ich keinen Menschen.«
»Dann ist's vielleicht ein Schabernack der Bauern,« sagte Schalbe, aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Hinter ihm brüllte es laut: »Hoiho, hoiho!« Ein Reiter auf einem gewaltigen braunen Roß hielt mitten auf der Landstraße. Er war vom Kopf bis zum Fuß in Eisen gehüllt. Aus dem Wäldchen, das sie eben durchfahren, brach ein zweiter heraus, mehrere folgten. In eines Schleuderwurfes Entfernung hielten sie hinter ihrem Führer.
Herr Kaspar Schalbe war sonst ein beherzter Mann, aber der Schrecken war ihm in die Glieder gefahren. Er fand nicht sogleich die Sprache wieder.
»Wer seid Ihr? Was wollt Ihr?« rief Meyenburg an seiner Statt.
»Das alles will ich Euch fragen,« antwortete der lange Reiter. »Da Ihr aber so neugierig seid. Ihr Stadthahn, so wisset: ich bin der Absberger.«
Kaum hörte der Knecht aus Friedberg den gefürchteten Namen, so riß er sein Roß zur Seite und jagte über Stock und Stein davon. Die Landräuber lachten hinter ihm drein, aber sie verfolgten ihn nicht, denn auf ihn und seinesgleichen hatten sie es nicht abgesehen.
»Steigt von euren Kleppern und werft die Waffen weg!« gebot der Absberger. »Dann können wir sehen, wie wir mit euch handeln.«
»Wollt Ihr uns ritterlich halten?« fragte Kaspar Schalbe mit zitternder Stimme.
Ein gellendes Hohngelächter war die Antwort. »Ritterliche Leute hält man ritterlich. Ihr habt mit allem zufrieden zu sein. Nun, wird's bald? Sputet euch! Wir haben nicht lange Zeit!«
»Ich gebe mich nicht in die Hand der Schelme!« raunte Meyenburg und griff nach seinem Speere. »Schlagen sie mich tot, so will ich mich doch wehren. Seid ein Mann! Tut wie ich! – Götz, reit' an!« rief er seinem Nordhäuser Knechte zu und gab seinem Pferde die Sporen. Aber dieses Tier war zwar groß und stark und stattlich anzuschauen, zum Streitrosse jedoch taugte es wenig. Es bockte und bäumte sich und wollte nicht vorwärts.
Als der Stegreifritter sah, daß der eine der beiden Stadtherren sich widersetzen wollte, war er wie der Blitz heran. Sein Lanzenstoß traf den Verwegenen, der mit ihm den Streit wagen wollte, so wuchtig, daß Meyenburg, mit seinem Gaule kämpfend, sich nicht im Sattel halten konnte. Er stürzte zur Erde, und ein Hufschlag seines eigenen rasend gewordenen Pferdes traf ihn so heftig an die Stirn, daß ihm das Bewußtsein schwand. Das letzte, was er hörte, war ein teuflisches Gelächter des Absbergers.
Als er nach einer kurzen Weile wieder zum Bewußtsein kam, hatte sich das Bild namhaft verändert. Die Wagen standen noch auf derselben Stelle, aber vom Absberger war nichts mehr zu sehen. Einer seiner Genossen lag tot mitten auf der Landstraße, ein anderer kniete mit gebundenen Händen an der Seite des Weges. Ein starker Reitertrupp, dessen Fähnlein das Wappen des Landgrafen von Hessen zeigte, hielt in der Nähe. Einer der Reiter hatte einen Birnbaum erklettert und befestigte dort einen Strick.
»Der Hund ist entwischt, aber den hier hänge ich auf der Stelle,« hörte Meyenburg eine Stimme sagen, die ihm aus weiter Ferne zu kommen schien. Jetzt erkannte er auch Herrn Kaspar Schalbe und hörte ihn laut rufen: »Gott und allen Helligen sei Dank! Er lebt!« Er richtete sich mühsam auf und blickte wirr um sich. »Habt Ihr ein Glied gebrochen?« erkundigte sich der Führer der Schar, indem er sein Roß näher herantrieb.
Meyenburg erhob sich langsam und reckte die Glieder. Sie schmerzten gewaltig, aber sie waren alle ganz und heil. Der hessische Ritter lachte. »Ihr könnt jeden Morgen Eurem Gott besonders danken, Freund,« sagte er, »für das Knochengerüst, das er Euch gegeben hat, vor allem für Euren Schädel. Euer Sturz sah sich aus der Ferne bedrohlich an. Meinte, Ihr hättet das Genick gebrochen. Um ein Haar hätten die Nordhäuser ihren hochgeehrten Stadtschreiber verloren.«
»Ihr kennt mich, Herr?« fragte Meyenburg erstaunt.
»Ich sah Euch voriges Jahr in Clettenberg beim Grafen.«
»Und wem habe ich mein Leben zu danken, Herr?«
»Ich bin der Junker von Riedesel,« erwiderte der Hesse. »Den Dank laßt unterwegs. Hätt' ich den Absberger erschlagen oder gefangen, so hätt' mir nichts Lieberes geschehen können. Er hat einem meiner Gesippten einen schweren Schimpf angetan. Ich hätt' ihn hängen lassen ohne Urteil, wie den dort.«
Er wies auf den gefangenen Räuber, dem die hessischen Knechte eben die Schlinge um den Hals legten. »Aber nun sollen Eure Knechte sich sputen, Herr Schalbe, daß sie die Baumstämme aus dem Wege schaffen. Ihr, Fritz und Eyselt, helft ihnen dabei!«
»Wo ist Götz, mein Mann?« fragte Meyenburg. »Er soll auch mit anfassen.«
Riedesel schüttelte bedauernd den Kopf. »Ja so, Ihr wißt's noch nicht. Der faßt nichts mehr an, denn er ist tot.«
»Wie?« rief Meyenburg tief erschrocken. »Er ist tot? Was ist ihm geschehen? Wo ist er?«
Riedesel sprang vom Pferde und trat an den letzten Wagen heran. Dort zog er eine Decke zur Seite und erwiderte: »Hier liegt er. Die vermaledeiten Bluthunde haben ihn erstochen, da er Euch zu Hilfe kam. Schade um ihn! Er war ein gerader, starker Gesell.«
Meyenburg war im Innersten erschüttert, und die Augen standen ihm voll Tränen, als er sich über den Toten niederbeugte. Der junge Mensch, dessen fahles Totenantlitz ihm aus der Dämmerung seltsam entgegenleuchtete, war der Tüchtigste und zugleich der Lustigste unter den reisigen Knechten der Stadt Nordhausen gewesen. Er kannte tausend Schwänke und Schnurren, und lachte er, so mußten alle Leute, die es hörten, mitlachen. Die braune Elsbeth, des Schmiedes in der Unterstadt blutjunge und bildschöne Tochter, war des fröhlichen Gesellen versprochene Braut. Zu Pfingsten wollten sie Hochzeit machen. Nun kehrte der Bräutigam nicht zur Braut zurück, und wenn er heimkam vom Reichstag, so mußte er die Trauerbotschaft in die Schmiede bringen. Er dachte dabei an seine blonde Liebste in Erfurt. Läge er hier stumm und kalt, wer würde ihr das künden? Die wenigen Freunde, die wußten, daß er sie liebte, kannten sie nicht näher und hatten keine Veranlassung, dem ihnen fremden Mädchen die Nachricht zu bringen. Solch ein Amt übernimmt ja niemand, wenn er nicht muß. Sie hätte es ja gewiß früher oder später erfahren, aber wahrscheinlich im zufälligen Gespräch mit einem gleichgültigen Menschen. Der Gedanke entsetzte ihn. Wie wenig hatte doch gefehlt, und er lag neben diesem da! Alle seine hochfliegenden Lebenshoffnungen, seine ehrgeizigen Pläne, die Liebe, die sein Herz erfüllte, das alles, alles wäre mit einem Male vorüber gewesen, und fremde Leute hätten ihm in einer fremden Stadt ein Grab geschaufelt, und fern weinte ein junges Weib um ihn und durfte seine Tränen nicht einmal dem eigenen Vater sehen lassen.
Gott hatte ihn wunderbar beschützt. Dieses Bewußtsein durchdrang ihn mit ungeheurer Gewalt. Es war ihm, als sei er in dieser Stunde dem Höchsten etwas Besonderes schuldig geworden. Er faltete die Hände zum Gebete, aber er fand keine Worte. Das lateinische Paternoster, das man ihn in seiner Kindheit hatte beten lehren, erschien ihm schal und nichtssagend, er konnte es nicht über die Lippen bringen.
»Kommt, sagte der hessische Ritter, der den einen Fuß schon wieder im Steigbügel hatte. »Grämt Euch nicht um Euren treuen Knecht, er ist gestorben wie ein redlicher Kriegsmann. Seinen Leib nehmen wir mit in die Stadt, dort mögen ihn morgen die frommen Brüder begraben.«
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und Riedesel war bald mit Schalbe in einer lebhaften Unterhaltung begriffen. Meyenburg ritt stumm hinter den beiden her und gab nur hin und wieder auf eine Frage des Ritters eine einsilbige Antwort. Das Herz war ihm voll, er konnte jetzt mit niemandem reden.
Als sie in Frankfurt einzogen, war die Dunkelheit schon völlig hereingebrochen. Mit ein paar herzlichen Worten nahm er von Riedesel noch unter dem Tore Abschied, denn ihre Wege trennten sich. Die Hessen wohnten in der nahe gelegenen Herberge zum weißen Schwan, die Eisenacher dagegen strebten dem Gasthause zum Strauß am Kornmarkt zu, wo Herr Kaspar Schalbe jedesmal einkehrte, wenn er die große Reichsstadt am Main besuchte, und Meyenburg schloß sich ihm an.
In der hohen Vorhalle des Hauses, die durch eine riesige Ampel erhellt war, begrüßte der Wirt Parente die Ankömmlinge mit vielen Bücklingen und geleitete sie dann selbst hinauf in den Oberstock des Hauses. Auf der Treppe begegneten sie einem großen, grobknochigen Manne mit eigenwilligen, derben Zügen, der in ein buntes Gewand gekleidet war. Auf der Brust war in sein Wams der Reichsadler eingestickt.
Kaspar Schalbe blieb überrascht stehen und blickte ihm nach. »Das war doch der Ehrenhold des Kaisers? Wie, Herr Wolf, ist er bei Euch im Quartier? Potz Türken! Dann beherbergt Ihr wohl gar auch den Doktor Martinus?«
Der Wirt nickte eifrig. »Doktor Luther wohnt bei mir, und sein Gemach liegt gerade neben dem Euren, Herr. Jetzt sitzt er unten in der Wirtsstube und verzehrt sein Abendbrot. Viele Herren aus der Stadt sind bei ihm. In meinem Hause geht es zu, seit er eingezogen ist, wie in einem Bienenstocke.«
»Ei, das trifft sich prächtig!« rief Schalbe erfreut. »Wir waren zusammen auf der Schule in Eisenach, er wohnte damals bei meinen Gefreundeten, den Cottas. Ich hab' ihn jetzt in Eisenach nicht gesehen, als ich abreiste, er lag dort krank zwei Tage lang an einem schlimmen Fieber. Dann hat er mich in Hersfeld überholt, weil meine Wagen so langsam fahren, und ich habe ihn auch dort nicht gesehen. Nun treff ich ihn hier. Das freut mich herzlich!«
Sie waren unterdessen einen kurzen Korridor entlang geschritten, und der Wirt wies ihnen ihre Gemächer an. Der Eisenacher Handelsherr erhielt ein großes Zimmer zur Rechten des Ganges, Meyenburg ein kleines, das ihm gegenüberlag. Es war wohnlich und bequem eingerichtet, und da eine kalte Nacht zu erwarten war, brannte im Kamin ein leichtes Feuer. An ihm entzündete der Wirt mit einem Span eine Kerze, die auf dem Tische stand, und sagte dann: »Gott und seine Heiligen mögen Euren Eintritt in mein Haus segnen, Herr! Lasset Euch belieben, hernach zum Essen herunter zu kommen. Dort ist der Tisch gedeckt.« Dann zog er sich, mit einer Verneigung sein Käppchen abnehmend, zurück.
Meyenburg wartete eine Weile, bis ein Schalbescher Knecht seinen Reisekoffer brachte. Dann entkleidete er sich des Panzers und legte ein bequemes Gewand an, wusch sich sein Antlitz und kühlte die gewaltige rote Beule auf der Stirn, die von dem überstandenen Abenteuer zeugte. Am liebsten wäre er gar nicht wieder unter Menschen gegangen, sondern hätte sich still auf sein Lager hingestreckt, um seinen ernsten Gedanken nachzuhängen. Aber ein gewaltiger Hunger hatte sich bei ihm eingestellt und heischte Befriedigung. Auch war er begierig, Luther wiederzusehen, wenngleich ihn bei dem Gedanken an eine erneute Begegnung mit ihm ein wunderliches Bangen überfiel.
Nach langem Zögern ging er endlich hinunter und trat in die Wirtsstube ein. Der große Raum war voll von Menschen. Aber alle sprachen nur leise und gedämpft miteinander oder blickten schweigend hinüber nach dem Tische, an dem unter Frankfurter Ratsherren und Gelehrten, umgeben von seinen Freunden, der Mann saß, von dem jetzt ganz Deutschland redete. Er hatte seinen alten Schulfreund Schalbe neben sich gesetzt und sprach eifrig auf ihn ein. Sein sonst so bleiches Antlitz war gerötet, seine Augen leuchteten fröhlich, und mehrmals lachte er während der Unterhaltung herzhaft auf.
Meyenburg verwunderte sich dieses Anblickes über die Maßen, denn er hatte erwartet, ihn schweigsam und düster zu finden. Während er noch in der Tür stand und ihn betrachtete, hatte ihn Schalbe bemerkt und winkte ihn heran. Auch Luther blickte nun nach ihm und winkte ihm freundlich mit der Hand zu.
Befangen trat Meyenburg an den Tisch heran und verneigte sich tief. Luther aber erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Gott zum Gruße, Herr Stadtschreiber aus Nordhausen!« rief er. »Wie mir Freund Kaspar sagt, seid Ihr heute einer großen Gefahr entgangen. Wahrlich, Ihr könnt unserm Vater im Himmel Dank sagen!«
»Das tue ich von Herzen, Herr!«
»Hätte der Riedesel doch wenigstens dabei den Leuteschinder gefangen!« rief Luther mit blitzenden Augen. »Es ist eine Schande für die deutsche Nation, daß solches, wie Ihr erfahren, alle paar Wochen einmal auf deutschen Landstraßen geschieht! Gott bessere es! Ich hoffe, der Kaiser Karl, das edle junge Blut, wird da tüchtig Wandel schaffen. Morgen früh, Herr, schließt Euch mir an. Wir wollten ja ohnehin miteinander reden. Das können wir da am besten. Oder wollt Ihr nicht?« »Ich möchte Euch manches fragen, Herr Doktor, und mich von Euch berichten lassen. Aber urteilt selber: kann ich meinen Knecht verlassen, wenn er hier begraben wird in der fremden Stadt? Ich muß dem treuen Manne doch die drei Hände voll Erde ins Grab nachwerfen und vor seinem Sarge ein Gebet sprechen. So werde ich wohl erst am übernächsten Tage nach Worms aufbrechen.«
Ein warmer Strahl aus Luthers Augen traf ihn. »Das ist recht gedacht!« rief er mit kräftiger Stimme. »Aber nun erst recht will ich mit Euch reden. Ich gehe bald hinauf, wollt Ihr, so besuche ich Euch noch ein halbes Stündlein auf Eurer Stube.«
Überrascht, fast verwirrt blickte ihn Meyenburg an. »Ihr tut mir eine große Ehre an, Herr Doktor. Womit habe ich das verdient?«
»Mein und Euer Freund Justus hat mir viel von Euch erzählt. Ihr werdet Euch wohl wundern, ihn hier nicht zu sehen. Er ist mir vorausgefahren.«
In diesem Augenblicke wurde das Gespräch unterbrochen, denn einer der Bürgermeister Frankfurts war in das Zimmer getreten. Luther mußte sich ihm zuwenden, und Meyenburg trat zur Seite. An einem Tische, der weit von dem Luthers und seiner Freunde entfernt war, fand er noch einen Platz und ließ sich sein Essen und einen Krug fränkischen Weines bringen. Aber wie alle Gäste, so blickte und horchte er unverwandt nach dem Tische Luthers hin. Es war ein lautes, fröhliches Reden unter den Herren, die dort versammelt waren, und der Fröhlichsten einer war Luther selbst. Nach einiger Zeit kam ihr Gespräch auf die Musik, ein junger Frankfurter Ratsherr hieß den Wirt eine Laute herbeibringen und sang einige Strophen eines scherzhaften Liedes in fränkischer Mundart. Dann ergriff Luther selbst die Laute und brachte mit einer angenehmen Tenorstimme ein thüringisches Volkslied zum Vortrag.
Meyenburgs Erstaunen war auf dem Gipfel angelangt, als er das sah und hörte, und in das Erstaunen mischte sich immer höher anschwellende Bewunderung. Der größten Gefahr, die einem Menschen drohen konnte, ging der Mann dort entgegen und vermochte es doch, mit seinen Freunden beim Becher und der Laute fröhlich zu sein. Er ist vom Teufel besessen, hatte sein Feind Emmser von ihm gesagt. Ja, entweder hatte er einen Dämon in sich, oder er trug Gott im Herzen. Aber der böse Feind, so hieß es irgendwo in der Schrift, ist kein Gott des Frohsinns, sondern der Traurigkeit. Meyenburg entsann sich, solch ein Wort aus dem Munde des Bischofs von Meißen einmal vor einigen Jahren gehört zu haben. So mochte doch wohl Gottes Kraft in ihm sein und ihn so beherzt und fröhlich machen.
Er trank langsam seinen Wein aus, denn nach einer Unterhaltung mit den Frankfurter Bürgern um ihn her lüstete ihn nicht. Dann begab er sich in sein Gemach, um den Besuch des wunderbaren Mannes dort zu erwarten.