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Wir haben früher das geräumige und alterthümliche Gemach beschrieben, welches der Castellan von Arnstein dem Grafen Valerian von Schlettendorf zum Nachtquartier angewiesen hatte. Da die Herbstzeit ungewöhnlich frühe mit stürmischen und feuchtkalten Tagen hereingebrochen war, so hatte man trockene Scheite in dem Kamine aufgehäuft, deren Flammen hoch emporschlugen, aber doch nur eine sehr mäßige Wärme in dem weiten Raume hervorbrachten. Zugleich erleuchteten sie es – denn draußen herrschte schon tiefste Dämmerung – und zwar mit einem grellen und doch unsichern Lichte, welches die Unheimlichkeit dieses unwohnlichen Aufenthaltsorts um nichts verminderte.
Von dem brocatnen Himmelbett am entgegengesetzten Ende bis zu dem Kamin war eine Reihe von geflochtenen Matten gelegt, welche einen Pfad über die kalten Fliese des Bodens bildeten. Am Feuer stand ein alter, mit Leder überzogener Armsessel und hier hatte Valerian Platz genommen, bleich, die linke, unbekleidete, aber sorglich verbundene Schulter in den Falten eines Mantels bergend und ausdrucklosen Auges die dunkeln Bilder Quernheimischer Ahnen überschauend. Neben ihm stand ein runder Tisch, auf dem ein paar zerlesene Bücher aus dem Besitze des Verwalters lagen; aber Valerian hatte sie unwillig von sich geschoben, um seinen trüben Gedanken nachzuhängen.
Sein Reitknecht trat ein und brachte Licht.
Ist noch immer der Bote aus Ostenwalde nicht zurück? fragte Valerian.
Nein, gnädiger Herr, und er wird schwerlich heut' Abend noch kommen, es hat sich ein fürchterlicher Sturm draußen erhoben, auf der andern Seite des Schlosses hört man ihn heulen und brausen, als sollte die Welt untergehen.
Es ist zum Verzweifeln, sagte Valerian halblaut, die Stirn in seine Rechte stützend.
Gnädiger Herr, der Jude Isaak Koppel läßt fragen, ob er nicht morgen in aller Frühe fort dürfe; er habe dringende Geschäfte.
Nein, antwortete Valerian, der Jude soll bleiben. Seine lumpigen Geschäfte werden dringend sein! Wenn er Verluste hat, will ich ihn entschädigen. Er soll bleiben und du, Stephan, bist verantwortlich dafür, daß er nicht entwischt.
Ja wohl, gnädiger Herr!
Ist der Amtsphysikus von dem Kranken unten aus dem Thal zurück?
Noch nicht.
Ich lasse ihn bitten, sogleich zu mir zu kommen, wenn er heimkehrt.
Ja wohl, gnädiger Herr.
Stephan, wenn der Bote von Ostenwalde heut' Abend oder im Laufe der Nacht nicht wieder kommt, mußt du morgen zu Pferde und hinreiten.
Ew. Gnaden vergessen, daß ich gestern die Pferde Herrn von Sackenrode habe wiederbringen müssen.
Ja so! Ist kein Pferd sonst hier oben?
Nichts als die kleinen Ackergäule, Thiere wie Katzen.
Es ist, als ob ein schadenfroher Geist hier Hemmniß auf Hemmniß für mich ersänne. O ich könnte um den Verstand kommen! flüsterte Valerian. Dann mußt du zu Fuß laufen, setzte er zum Reitknecht sich wendend hinzu; mach' dich gefaßt darauf, und jetzt geh'.
Der Reitknecht verließ das Zimmer und Valerian verfiel wieder in seine frühere von Unmuth und Bitterkeit erfüllte Stimmung. Er horchte auf den Sturm, der jetzt auch auf seiner Seite des alten Gebäudes laut wurde und, in einzelnen Stößen um die Thürme schnaubend, an den Ecken und Zinnen der Burg eine ganze Scala von heulenden, wehklagenden und ächzenden Tönen abspielte.
Da öffnete sich zum zweiten Male die Thüre und herein trat eine schmale, in dem halben Lichte, das den obern Theil des Zimmers erfüllte, doppelt bleich aussehende Frauengestalt. Sie kam mit leisen, raschen Schritten heran. Hinter ihr betrat ein Mann in reifem Alter, dessen Arm sie an der Thüre hatte fahren lassen, das Gemach.
Es waren die Frau von Sasseneck und der Gerichtsarzt Pauli.
Valerian versuchte sich zu erheben, aber Frau von Sasseneck legte ihre durchsichtige, weiße Hand auf seine Schulter und sagte:
O bleiben Sie, lieber Graf; unser Doctor schilt, wenn Sie nicht ruhig bleiben!
Der Arzt sah nach dem Verband, fühlte den Puls und schien mit dem Befinden seines Patienten ganz zufrieden. Valerian's Wunde war in der That nicht an und für sich gefährlich; sie war sehr schmerzlich gewesen, denn die Kugel hatte den Schulterknochen hart gestreift, aber richtige und schnelle ärztliche Hülfe würde sie bald auf den Weg der Heilung gebracht haben. Leider war der spät erst herbeigeschaffte Landwundarzt nicht im Stande gewesen, die Wunde richtig zu behandeln, und Pauli hatte jetzt genug zu thun, die schädlichen Folgen der ersten Behandlung zu entfernen, ehe er an eine rasche Heilung denken durfte. Er hatte vor allen Dingen dem Kranken die größte Ruhe empfohlen.
Es wird sich gut und auch bald machen, hoffe ich, sagte Pauli; nur Geduld müssen Sie haben, nur Geduld, Herr Graf!
Bis jetzt ist verzweifelt wenig davon in mir, Doctor! In der That, es wird mir unbeschreiblich schwer, länger auszuhalten. Ich kann, ich will nicht länger in diesen Mauern bleiben – bis morgen Abend gebe ich Ihnen Zeit, dann –
Still, still, sagte der Arzt; wenn Sie mir nicht grade so viel Zeit geben, wie ich haben will, wird der kalte Brand in ihre Wunde kommen.
Was macht Sie nur so leidenschaftlich, so unerklärlich heftig sich von hier wegsehnen? fragte mit einem Ausdruck sanfter Trauer Frau von Sasseneck.
Ich kann es Ihnen nicht erklären, nein, es ist nicht möglich, daß Sie es mit mir fühlen, weshalb es mich grade hier, in einem Quernheim'schen Hause, auf Quernheim'sche Gastfreundschaft angewiesen, doppelt gewaltig forttreibt!
Die Dame und der Arzt hatten sich unterdeß zu Valerian vor das Kamin gesetzt und der Arzt suchte nach Gegenständen andern Gesprächs, um seinen Patienten zu zerstreuen. Er nahm eines von den Büchern vom Tische auf und blätterte darin. Es war eine Reihe zusammengebundener lateinischer und französischer Streitschriften über theologische Gegenstände, meist aus der Zeit des Jansenistenkampfes herstammend.
Gott im Himmel, sagte Pauli, welche Fülle von Scharfsinn und von Unsinn, von Gelehrsamkeit und von Blindheit, von Leidenschaft und von Lebenskraft ist in einem solchen Buche vergeudet! Und das Alles um einer Weisheit willen, durch welche Niemand auf Erden auch nur um einen Schritt weiter gefördert werden kann!
Man sollte glauben, so etwas könne nur in Deutschland zusammengeschrieben werden, sagte Valerian.
Wovon handelt das Buch? fragte Frau von Sasseneck.
Von theologischen Gegenständen, die einst zu einem heftigen Streite führten; es traten nämlich Kirchenlehrer auf, welche die unerhörte Verwegenheit hatten, an der Unfehlbarkeit des römischen Stuhles und andern frommen Doctrinen Zweifel zu erheben und die theologische Debatte darauf hinzulenken.
Frau von Sasseneck sah den Arzt an, wie zweifelnd, ob er im Ernst oder ironisch spreche.
Mir kommen diese hitzigen, theologischen Salbadereien wie das ängstliche Schürzen eines gordischen Knotens vor, mit dem die menschliche Vernunft festgebunden werden soll, fuhr der Arzt fort.
Leider ist nur jeder Mensch, der gesunde Sinne hat, ein Alexander einem solchen Knoten gegenüber, meinte Valerian.
Pauli schüttelte den Kopf.
Die Alexander scheinen doch etwas selten zu sein in unsern Tagen, bemerkte er. Können Sie sonst erklären, Herr Graf, wie man es wagt, heute, im neunzehnten Jahrhundert es wagt, Absurditäten, wie z. B. diese Unfehlbarkeit Roms, lehren zu wollen?
Urtheilen Sie darüber nicht so rasch, lieber Pauli, versetzte lächelnd Valerian. Hinter dieser Lehre steckt mehr. In dem Gebäude der Hierarchie selbst hat sich ein beklagenswerther, ich möchte sagen politischer Umschwung seit der Reformation bewerkstelligt. Die schöne, zugleich demokratische und aristokratische Gliederung dieses ehrwürdigen Baues ist zerstört worden und einer unumschränkten Regierungsform gewichen. Man hat die Gewalt der Priester und Bischöfe unterdrückt und macht aus der Kirche einen Orden mit einem General an der Spitze, statt des obersten Bischofs. Was würde man sagen, wenn ein constitutioneller Fürst plötzlich eine beschworene und garantirte Verfassung aufhöbe, die Stände nach Hause schickte und dies Verfahren mit der Behauptung gesetzlich machen wollte: in seine eigne Person seien alle Attribute der Stände über Nacht eingekehrt und diese dadurch überflüssig geworden? Und ist es nicht grade Dasselbe, was innerhalb der Kirche geschehen? Das Kirchendogma lautet ursprünglich: bei dem Concil ist die Unfehlbarkeit. In autokratischer Tendenz hat aber der Papst die Concilien, seine Landstände, factisch aufgehoben; er beruft sie nicht mehr, seit vielen Jahrhunderten schon, und sagt mit der bewundernswürdigsten Unbefangenheit von der Welt: Ich selbst bin unfehlbar!
Die ganze Existenz eines Papstes stört überhaupt das geistige und politische Gleichgewicht der Welt, nahm Pauli das Wort. Einst waren »zwei Schwerter gegeben, zu herrschen auf Erden«, das geistliche und das weltliche, jenes dem Papste, dieses dem Kaiser. Die Entwickelung der Geschichte hat das Kaiserthum aufhören lassen, der Finger Gottes hat den Kaiser, »den Herrn aller Länder des Erdkreises«, von seinem Throne geschoben, als eine im Völkerleben der Zukunft überflüssige und hinderliche Gestalt. Was soll nun fürder der Papst, der ihm das Gleichgewicht zu halten bestimmt war, das andere Princip einer nicht mehr bestehenden Weltordnung? Was soll der Papst, nun kein Kaiser mehr da? Der lange Kampf ist aus; die großen Hohenstaufen sind wie Sonnen zu Rüste gegangen; kein Heinrich steht mehr drei Tage lang im Schnee, kein Friedrich hält einem Alexander den Steigbügel mehr. So mag auch der Papst zur Ruhe gehen; es ist würdiger, als in einer grotesken Maskerade das große, welterschütternde Drama des Ghibellinen- und Welfenkampfes enden zu lassen.
Nein, nein, sagte Valerian kopfschüttelnd, ich glaube, Sie urtheilen da zu heftig, zu unbesonnen. Lassen Sie uns diesen Schlußstein eines so erhabenen, so großartigen Baues, wie es die Kirche ist. Rufen Sie lieber den Kaiser wieder ins Leben, wenn es Ihnen um Wiederherstellung des Gleichgewichts zu thun. Das ist der größte politische Fehler unsers Jahrhunderts, die Nichtwiedererweckung des Kaisertums. Bildeten wir Deutsche noch das abendländische Kaiserreich, so ständen wir jetzt da als rechtmäßige Erben des morgenländischen; so aber wird Rußland Byzanz uns nehmen! Papst und Kaiser wären ein mächtiger Damm gewesen gegen die Wogen rasender Parteien, die Alles zu überschwemmen drohen und denen weder der Protestantismus noch unsere heutigen Regierungen gewachsen sind.
Ja, sagte der Arzt, das ist gewiß von großer Wahrheit. Aber Papst und Kaiser gehörten zusammen, denn sie waren die zwei Schalen einer Wage, worin Gott die Geschicke der Völker wog, zwei Atlasschultern, auf denen die moralische Welt ruhte, zwei Säulen, über denen der Geist des Mittelalters seinen Triumphbogen geschlagen hatte. Jetzt ist aber die eine Säule einmal zertrümmert, der Geist der Zeit hat andere Träger – mag die übrig gebliebene Säule als Denkmal und an Erinnerung reiche Trümmer stehen bleiben – andern Werth hat sie in der heutigen Welt, glaub' ich, nicht!
O doch, doch! Lassen sie dem religiösen Bedürfniß der Menschheit eine festgegründete Kirche mit einem persönlichen Vertreter ihrer Herrschaft, mit einer imponirenden Macht an der Spitze, die sie zusammenhält, unterbrach ihn Valerian. Meine heißesten Wünsche sind für die Erhaltung einer festgegliederten Kirche. Aber die Geschicke werden sich erfüllen. Der Gang der Geschichte ist ein stätiger und es kann nichts consequenteres geben als den Geist, in dem sie ihre Bahnen wandelt. Im Ganzen – und darum fürchte ich für den Papst – ist die Geschichte der Persönlichkeit feind. Es hat, so lange die Welt steht, der Kampf nicht aufgehört zwischen dem Geist der Geschichte, welcher den Menschen nur als Werkzeug für allgemeine Ideen will und dem Menschen, der seine Persönlichkeit oben halten möchte über der Flut einer mächtigen Zeitbewegung, dem kühnen Schwimmer in den Wogen der Ideen, den wir Helden und Genius nennen. In diesem Kampf siegt immer die Geschichte über die Persönlichkeit. Mögen die Zeitgenossen eines großen Mannes auch in schwärmerischer Verehrung noch so sehr überzeugt sein, daß ihr Held dem Jahrhunderte eine neue Richtung gegeben, daß er dem Fluß der Geschichte ein neues Bett angewiesen – die folgenden Geschlechter sehen es besser; sie sehen, daß der große Mann nichts war als ein gehorchendes Werkzeug in der Hand eines Mächtigern, daß die Idee nicht entstand, weil er sie aussprach, sondern daß er nur berufen wurde, die Idee auszusprechen, welche der Gang der Geschichte gezeitigt hatte. Ist dies von ihm geschehen, ist ausgesprochen worden, was laut werden sollte, ist die That vollbracht, die geschehen sollte – dann rauscht der Strom weiter über ihn und die Ansprüche seiner Persönlichkeit fort. Nur Einer ist ausgenommen, nur vor der Persönlichkeit einer Erscheinung ist die Flut der Geschichte wie in scheuer Ehrfurcht zurückgewichen und hat kaum gewagt, seinen Fuß zu netzen. Dieser Eine ist Christus.
Und wie beziehen Sie dies Alles auf das eine sichtbare Oberhaupt der Kirche und seine Zukunft? fragte der Arzt.
Hören Sie nur, versetzte Valerian. Die Feindschaft der Geschichte wider die Persönlichkeit läßt sich in allen Richtungen nachweisen. Alles, was im Beginn an eine Persönlichkeit geknüpft war, wird derselben nach und nach entrissen und an die Massen ausgetheilt. Das Licht jeder Idee, das in Einem Menschen aufflammt, vertheilt sich in Strahlen, die zu Allen strömen. Die Eigenschaften, die ehemals sich nur in Einzelnen zeigten, das Talent künstlerischer Hervorbringung, das Monopol der Entdecker wird nach und nach zu einem gemeinsamen Besitzthum der Gebildeten. Die Aristokratie der Künstler stirbt aus, die Demokratie der Dilettanten tritt an ihre Stelle. So ist es auch mit der Macht; das frühere, von der Person des einen Kaisers der Christenheit vertretene Princip des obersten europäischen Schiedsrichterthums ist übergegangen zum hohen Rathe der europäischen Großmächte. In den einzelnen Staaten drängt sich die Gesammtheit in demokratischer Verfassungsform zur Regierung, an die Stelle des frühern absoluten Fürsten, dessen Person der Staat und die Regierung war – »der Staat bin ich«. Selbst die einzelnen Beamten hat dieser der Persönlichkeit feindliche Geist unserer historischen Entwickelung nicht mehr geduldet und überall ist die Person durch die aus einer Mehrzahl Gleichberechtigter gebildete Behörde verdrängt worden. Von Einzelnen zu Mehreren, von diesen zu Allen – das ist das Ziel der Geschichte.
Und deshalb, nahm Pauli das Wort, wird auch in Beziehung auf das Papstthum die Geschichte durch demokratische Bildungen die aristokratischen verdrängen, wenn diese erst die monarchischen verdrängt haben? Das wollten Sie sagen? Ganz gewiß! Denn ist nicht der Papst die unumschränkteste, absoluteste, breiteste Persönlichkeit der civilisirten Welt? Steht er also nicht in Widerspruch mit der Entwickelung, die Sie eben andeuteten?
In der That, antwortete Valerian, und als treuem Sohn der Kirche und Feinde der reinen Demokratie flößt dies mir die größte Sorge ein. Durch ihren innern Umbau, von dem ich eben sprach, der die selbständige Macht der Bischöfe gebrochen, den Beirath gelehrter Laien entfernt, den Einfluß der Wissenschaft ausgeschlossen hat, der ferner alle Gewalt in die Person des sichtbaren Oberhauptes brachte, hat sich die Kirche in Widerspruch gesetzt mit dem Geiste der Geschichte. Sie wird deshalb in schwierige Lagen gerathen! Und muß es nicht schmerzen, den letzten Hort des bestehenden Gesellschaftsgesetzes, an den so viele irrsinnige Theorien, so viele gottverlassene Philosopheme rütteln, wankend werden zu sehen durch eigne Schuld? Die Zeit, als ein Mönch, wie Bernhard von Clairvaux, einem Eugen III. die Wahrheit sagen durfte, als die Concilien beriethen, was der Zeit Noth thue, war die Glanzzeit der Kirche. Sie ist dahin! Wie wird ihre Zukunft sich gestalten? Schlimm, sehr schlimm! Die chaotische Zeit der Völkerwanderung wird sich erneuen in verheerenden Zügen wilder, zerstörerischer, vandalenhafter Gedankenscharen!
Auch ich bin in hohem Grade bekümmert um unsere, besonders um Deutschlands Zukunft, fuhr der Arzt nach einer Weile fort. Der deutsche Michel, um diesen unsern schmeichelhaftesten Namen zu gebrauchen, ist wie zum Unglück geboren. Es waltet ein Misgeschick über ihm seit den ältesten Tagen seiner Existenz; und grade aus seinen besten Einfällen und gescheitesten Gedanken ist die Ruthe gebunden worden, die ihn züchtigt. Er hat, wie männiglich bekannt, das Pulver erfunden, auf daß Frankreich mit seinem Geschütz die schönsten Perlen in Deutschlands Krone nehmen, auf daß England mit seinen Schiffskanonen den Welthandel erobern, auf daß Rußland mit seinen Feuerschlünden uns von den Donaumündungen wegdrängen könne. Und was thut er selber mit dem Pulver? Er kanonirt bei hohen Namens- und Vermählungsfesten!
Er hat auch die Uhren erfunden – aber er kann sie nicht aufziehen und wenn ihm die Franzosen nicht von Zeit zu Zeit diesen Dienst leisteten, würde er nie wissen, was an der Zeit ist. Er hat auch die Buchdruckerkunst erfunden; es war in einem Augenblick, wo ihn am ärgsten der Hochmuth plagte; und es ließ sich voraussehen, daß diese Kühnheit Micheln übel bekommen werde. In der That, wozu war es? Um von allen Völkern am längsten sich der wohlthätigen Einrichtung der Censur erfreuen zu können!
So haben Michels kühnste Gedanken für ihn selbst nur traurige Folgen gehabt und die schönsten Rosen der Geschichte haben ihm nur den Dorn gezeigt. Er hat die Reformation gemacht – um bis auf diesen Augenblick Rom zu zinsen, um in der Hälfte seines Vaterlandes den traurigen Einfluß einer Doctrin walten zu sehen, die – das ist nun mal meine Ansicht, Herr Graf – die Deutschlands Freiheit, Einheit und politische Größe im Keime ersticken möchte. Soll ich noch sprechen von den vielen Vaterländern, in deren Besitze der glückliche Michel ist – nur damit die freiheitbegeistertsten seiner Söhne heimatlos ausrufen können: nicht einmal ein Vaterland mehr so groß wie Vaduz!
Wer hätte gedacht, daß Sie so boshaft sein könnten, Doctor Pauli, sagte lächelnd Frau von Sasseneck, die voll Theilnahme bald den einen, bald den andern der Sprechenden angeschaut hatte.
Es gibt Dinge, versetzte Pauli, bei denen einem Manne das Herz schwillt und er seinen zornigen Unmuth auszusprechen nicht unterlassen kann, selbst in Gegenwart einer Dame und auf die Gefahr hin, sie auf's äußerste zu langweilen.
Zu langweilen? Mich haben Sie nicht gelangweilt; denn obwol ich mein Leben zugebracht habe, ohne viel über diese Gegenstände nachdenken zu können, haben sich doch auch in mir Ueberzeugungen gebildet, welche ich gerne von so geistreichen Männern bestätigt höre. Doch weiß ich mich nicht wie Sie darüber auszusprechen.
Valerian war durch diese Gespräche sichtlich von den ungeduldigen Gedanken abgezogen worden, die ihn beherrscht hatten. In keines Menschen Brust konnte regere Theilnahme, leidenschaftlicheres Interesse an den Verhältnissen seines Vaterlandes wohnen, als in der seinen. Selbst die Sorge um seine Braut, seine Ungeduld, die Gastfreundschaft, die er unter dem Dache seiner Feindin genoß, abzukürzen, seine Angst vor den Intriguen, die Allgunde unterdeß gegen Theo spinnen werde – alles Dieses hatte aus Valerian's Herzen nicht jene Theilnahme verdrängen können; er wurde elektrisirt, wenn man seine Gedanken auf die kommenden Geschicke seines Vaterlandes richtete, oder von tiefer Wehmuth ergriffen, wenn man die Erinnerungen alter Schmerzen und Wunden desselben in ihm heraufrief.
So schwanden die Stunden des Abends hin, rasch und unbemerkt; der Sturm hatte sich allmälig gelegt und statt dessen ergoß sich draußen unaufhörlich heftiger Regen, der leise mit einschläfernder Gewalt an die kleinen, bleigefaßten Scheiben plätscherte.
Es ist spät, sagte Valerian, d. h. spät für einen Patienten, wie mich; wäre ich nicht Ihr Patient, ich versichere Sie, Doctor, ich würde diese Nacht und dieses Wetter draußen für treffliches Reisewetter halten, um auf der Stelle davonzureiten.
Immer diese Reisegedanken, Graf! Schlagen Sie sich das aus dem Sinn – unter fünf Tagen mindestens werden Sie nicht das Zimmer verlassen!
Valerian lächelte. Eine tröstliche Aussicht, Doctor! sagte er; wissen Sie denn nicht, welche Zeit ich Ihnen eingeräumt habe? Länger bleibe ich keine Stunde!
In diesem Augenblicke wurde die Thüre aufgerissen und mit größter Hast trat Valerian's Reitknecht herein.
Der Bote ist da, Ew. Gnaden – darf er eintreten?
Ha! rief Valerian und wollte aufspringen, um dem Boten entgegenzueilen. Aber Pauli drückte ihn wieder auf den Sessel nieder.
Ruhig, ruhig, Graf – um Gottes willen seien Sie ruhig!
Der Bote kam ins Zimmer; es war einer von des Verwalters Knechten, in einen dunkeln Mantel gehüllt, welcher aus jeder Falte einen kleinen Strom von Wasser niederrieseln ließ; der ganze Mensch triefte.
Endlich, endlich seid Ihr da! sagte Valerian; gebt, was habt Ihr? Einen Brief?
Nein, Herr, sagte der Knecht, ich habe nichts. Ich bin zuerst nach Ostenwalde gegangen; auf dem Bauerhofe hat man mir gesagt, daß das Fräulein von Blankenaar vor ein paar Tagen von einer alten Dame, einer Tante von ihr, abgeholt worden. Darauf bin ich zurückgegangen nach Haus Blankenaar; da hat es geheißen, sie sei zur Zeit in Quernheim. Ich bin nun nach Quernheim gewandert und hier ist mir die Antwort geworden, das Fräulein sei da, wolle aber Niemanden sehen; der Brief, den ich für sie hatte, solle jedoch an sie besorgt werden.
Gott im Himmel, was ist das! rief Valerian aus; sie ist in Quernheim – mit der Tante aus O.! Und Ihr habt sie nicht gesehen, habt keinen Brief für mich?
Nein, antwortete der Bote, man hat mir gesagt, ich solle nur gehen, Antwort werde ich nicht bekommen.
Wer hat das gesagt?
Einer der Bedienten.
Einer der Diener Allgundens! In ihre Hände wird mein Brief gefallen sein – und keine Zeile, kein Wort von Theo! O dies ist schrecklich! Pauli, Pauli, lassen Sie mich fort!
Nein, ich würde Sie im Nothfall mit Gewalt zurückhalten, Graf Schlettendorf.
Marie von Sasseneck legte die Hand auf Valerian's Schulter.
Es thut mir in der Seele wehe, Sie so leiden zu sehen, lieber Freund, sagte sie. Und da ich es bin, welche ursprünglich Sie in diese peinliche Lage gebracht hat, so können Sie ermessen, wie brennend mein Verlangen ist, auch etwas wieder für Sie thun zu können. Ich will morgen gehen; mir wird man nicht verwehren, Theo zu sehen.
Gehen? Sie, meine Gnädige, wollten – zu Fuße?
Weshalb nicht? Ich bin eine gute Fußgängerin, meine beiden Domestiken werden mich begleiten.
Aber bedenken Sie – es ist eine kleine Tagereise! – Ich kann es unmöglich gestatten –
Der Wagen, mit dem ich diesen Morgen gekommen bin, ist ja da und steht zu Diensten, fiel Pauli ein.
Dann, sagte Valerian, indem er die Hand Marie Sasseneck's an seine Lippen drückte, kann ich in Ihnen meine Lebensretterin verehren!
Frau von Sasseneck nahm nun sogleich Abschied von Valerian und, nachdem sie wenige Stunden geschlafen hatte, warf sie sich noch vor dem ersten Morgengrauen in den mit des Verwalters Ackerpferden bespannten Wagen des Gerichtsarztes.
Es war für Frau von Sasseneck eine Art Erleichterung, als sie das Schloß Arnstein hinter sich hatte. Denn obwol ihre Dankbarkeit für Valerian sie zurückgehalten, um ihn mit der weiblichen Sorge zu umgeben, welche Leidenden so wohlthuend ist, so war sie doch auch nicht gleichgültig gegen das qu'en dira-t-on? und fühlte wohl, daß sie nach ihrem ersten auffallenden Schritte ganz besondere Rücksichten zu nehmen habe. So war es ihr doppelt willkommen gewesen, als sich ihr eine Gelegenheit bot, Valerian verpflichten zu können, ohne länger mit ihm unter einem Dache, in einem von der Welt abgeschiedenen Gebirgswinkel leben zu müssen.