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»Es soll den Kindern an nichts fehlen!« – Eine Unterredung mit dem Lehrer, und warum der Großvater einen schwarzen Rock anzieht und in die Stadt geht. – Fröhliche Heimkehr. – Die kleinen Milchlieferanten. – Was die Vögel pfeifen, und warum Lenele die Moosbank streichelt. – Von Frau Noah, einem Zinnsoldaten und einer angebissenen Brezel. – Wie Fräulein Gottliebin dem Großvater durch das Zuflicken eines Loches den Kleinmut vertreibt.
Es sollte an nichts den Kindern fehlen! Ach ja, der Großvater hatte den besten Willen dazu, und er tat, was er konnte. In erster Linie ließ er sie seine ganze warme Liebe spüren, damit die Lücke nicht gar so groß sein sollte, aber fehlen tat's halt doch an gar vielem. Das zu ändern lag in keines Menschen Macht.
Zuerst galt es, das Leben anders einzuteilen, hauptsächlich mit der Arbeit, die bisher die Mutter getan. Das war gleich das Allerschwierigste, denn fremde Hilfe durfte man fürder nicht in Anspruch nehmen.
Der Großvater war so zerschlagen an Geist und Körper, daß er in den ersten Tagen am liebsten ganz stille gesessen und mit seinem Gott geredet hätte, der ihm so Unfaßbares auferlegte. Und mit den Kindern war gar nichts anzufangen, denn die weinten laut auf, wenn sie von der Schule heimkamen und den Platz der Mutter leer fanden. Da galt's für den Großvater, sich aufzuraffen.
Also so viel stand fest, er mußte nach wie vor im Handwerk fleißig schaffen, womöglich noch mehr als seither, und ins übrige mußten sich die Kinder so teilen, daß das Lernen nicht darunter not litt, das stand auch fest. Lene war nun elf und Schorsch zwölf Jahre alt.
Frau Wegmann und auch andere Leute im Dorf rieten dem alten Manne, die Kuh zu verkaufen, da würde sofort viel Geschäft wegfallen.
»Aber auch viel Einnahme, die wir nicht entbehren können, und statt der eigenen Milch müßten wir dann teure kaufen,« seufzte der Großvater.
»Aber die Milch läuft doch nicht von selber in die Stadt,« sagte der Ochsenwirt, der die Bleß gern um einen billigen Preis gehabt hätte.
»Nein, das nicht,« meinte der Großvater, »aber vielleicht findet sich doch ein anderer Ausweg.« Ihm war ein Gedanke gekommen. Einen Pfarrer gab es nicht in dem kleinen Ort, bei dem er sich hätte Rat holen können. Aber am andern Morgen, es war ein Sonntag, ging der Großvater ins Dorf direkt zu dem Schullehrer. Dieser hatte den klugen, braven, alten Mann gern und hörte voll Teilnahme, wenn auch anfangs mit Kopfschütteln an, was ihm dargelegt wurde.
»Ich versteh' Eure Not, Schuster-Martin, und mit dem Lernen ließe es sich schließlich einrichten, besonders im Sommer, wo die Großen von 7-9 ihre Stunden haben und dann erst wieder nachmittags. Aber ich glaube, solange das Dorf steht, ist es noch nicht dagewesen, daß so junge Kinder die Milch zur Stadt gefahren haben, und die Anstrengung ist doch auch sehr groß, und die Versuchung, unterwegs Allotria zu treiben, ebenfalls.«
Der Großvater wurde lebhaft: »Ich glaube nicht, daß die zwei Unfug verüben, dazu haben sie schon zu viel Schweres im Leben erfahren, und sie wissen auch, was ihnen anvertraut würde. Und was die Anstrengung anbetrifft, so meinte der Herr Doktor, den ich darum befragte, die beiden seien zusammen viel kräftiger als die Mutter, und er hätte nichts dagegen einzuwenden.«
Ja, dann könne er auch nichts mehr sagen, meinte der Lehrer, und nun bestand beim Großvater nur noch das Bedenken, ob die Kunden in der Stadt auch wohl zufrieden sein würden, wenn die Milch ein paar Stunden später käme.
Der Großvater machte sich deshalb noch an demselben Sonntag nach Tisch mit den Kindern auf den Weg in die Stadt. Unterwegs teilte er ihnen seinen Plan mit, und sie waren selig darüber. Sie hörten ernst und verständig zu, als der Großvater ihnen auseinandersetzte, was ihnen da Großes anvertraut würde, und daß sie so gesetzt und gewissenhaft wie Erwachsene sein müßten.
»O Großvater, ich weiß schon: Nicht zu schnell fahren und möglichst im Schatten bleiben, damit die Milch nicht verdirbt, und im Winter die Kannen fest mit Tüchern zudecken,« sagte Lenele eifrig, und Schorsch fügte hinzu: »Das Geld tun wir dann gleich in ein Blechbüchsle, und ich steck's vorne hinein in den Kittel, nicht in die Hosentasche, wo man's viel leichter verliert!«
Der alte Mann in dem ehrbaren langen, schwarzen Rock mit den zwei in Trauer gekleideten Kindern wurde in den Kundenhäusern aufs freundlichste aufgenommen, und der Erfüllung seiner Bitte wurde nirgends ein Hindernis entgegengestellt. Man hatte die brave Milchnerin überall gern gehabt und wollte es nun auch gern mit den Kindern versuchen. Ganz besonders herzlich wurden sie von der alten Babette empfangen, die sich sofort die Tränen wischte, als sie die drei sah. Die Herrschaft sei ausgegangen, sagte sie, aber sie wisse genau, daß die kleine Änderung nichts mache. Im Winter halte ja die Milch ohnedies, und im Sommer müsse man so wie so aufpassen, daß sie nicht sauer werde.
»Aber die Marie – nein auch, die Marie! Wer hätte so was gedacht, daß die so bald sterben müsse!« Und Babette ließ sich den ganzen Hergang, obgleich die Frau Wegmann das schon gründlich besorgt hatte, noch einmal vom Großvater erzählen, und dabei holte sie Wein, Brot und Käse und für die Kinder den Rest einer süßen Speise von heute mittag. Dabei versicherte sie immer wieder, daß sie den Kindern mit Rat und Tat beistehen werde.
Als sie nachher zusammen wieder heimwärts gingen, da war die große Trauer, für den Augenblick wenigstens, aus ihren Herzen gewichen, und auch der Großvater legte sich heute seit langer Zeit zum ersten Male mit etwas leichterem Herzen zu Bett.
Es war heller, strahlender Mai, und schon seit ein paar Wochen waren die Kinder täglich mit ihrem Milchwagen ausgezogen. Die Ordnung war nun die: Punkt fünf mußte aufgestanden werden, so wie's die Mutter immer getan. Auch der Großvater mußte das tun, sonst wären die Kinder nicht herausgekommen. Dann wurden zuerst die Tiere besorgt. Der Großvater reinigte den Stall und streute der Bleß ein frisches Lager. Schorsch holte das Heu und führte sie zur Tränke an den Brunnen. Dann bekamen die Hasen ihr Futter, – bis jetzt hatte man sie noch behalten, denn so früh im Jahre hätte sie auch niemand genommen. Lenele besorgte inzwischen die Hühner, machte rasch Feuer zur Morgensuppe, und dann trat sie mit dem sauber geschwenkten Melkkübel zu der Bleß. Das war alle Morgen ein gar wichtiger Augenblick, denn keine ihrer Schulkameradinnen durfte schon selbständig melken. – Frau Wegmann war stolz darauf, daß Lenele es durch sie gelernt hatte, aber sie war gekränkt und kam nicht mehr ins Haus, seit der Großvater aufs entschiedenste den Rat zurückgewiesen hatte, die Milch zum Verkauf am Brunnenrohr ein bißchen zu strecken.
Das sei Betrug, hatte der Großvater sehr ernsthaft gesagt, wogegen Frau Wegmann räsonierte, alle Milchweiber im Dorfe täten's von allen Zeiten her so machen, und sie wären doch samt und sonders wahrhaftig ehrbare Weiber. Sie verkündigte dann gekränkt überall, wie hochmütig und eingebildet der Schuster-Martin sei, und sie wolle nur sehen, wie's da noch einmal gehen werde, wenn man nicht einmal einen vernünftigen Rat von erfahrenen Leuten annehme.
Wenn gemolken und die Milch in die blanken Kannen gefüllt war, dann machte Lenele die Betten, und Schorsch mußte wischen und kehren, der Großvater säuberte die Werkstätte und versorgte den Vogel. Dann hielt er strenge darauf, daß alle noch einmal die Hände wuschen, ehe sie sich zur Morgensuppe setzten. Schorsch mußte vorher auch einen besseren Kittel und Lenele eine frische Schürze anziehen. Nachher sprach jeder sein Gebet, und der Großvater las einen Morgensegen, ehe die Kinder um halb sieben zur Schule gingen. Zum Heimweg abwärts brauchten sie nur eine halbe Stunde, und um halb zehn konnten sie auf dem Wege nach der Stadt sein, während der Großvater sich gleich, nachdem die Kinder in der Frühe fort waren, hinter seine Arbeit setzte, die er nur unterbrach, um ihnen ihr Brot zu schneiden, das sie dann unterwegs verzehrten. Eine Stunde später mußte er freilich seine Arbeit längere Zeit aussetzen, denn niemand war ja mehr da zum Kochen, das mußte er nun besorgen, so gut es eben ging, und so schwer es ihm fiel, denn es wurde oft ein Uhr, bis die Kinder nach Hause kamen, und um zwei mußten sie schon wieder in der Schule sein.
Schorsch und Lenele kamen sich unendlich wichtig vor als die einzigen Kinder vom Dorf, die gleich den Erwachsenen täglich in der Stadt zu tun hatten. Da waren die Milchfrauen, die meist alle zusammen auszogen, um unterwegs schwatzen zu können, dann die Maurer, Maler und Gipser, die drunten schafften, ferner die Mädchen, die in Fabriken gingen, und der Krämerin ihre Älteste, die Putzmacherin war, und des Ochsenwirts Christian, der eine Fortbildungsschule besuchte. Die meisten dieser Leute gingen eben zu andern Tageszeiten als die zwei Kinder, und das war dem Großvater ganz recht.
»Wenn man durch so was Herrliches wie einen Wald gehen darf, so ist's schade um jedes Wort, das man spricht, wenn man sich dabei nicht umschaut,« pflegte er zu sagen.
Und die Kinder schauten sich um, besonders jetzt im Frühling. Da waren gestern die Tannen an der Lichtung noch alle so dunkelgrün wie an Weihnachten. Heute hatten sie einen ganz hellen Schimmer an den Spitzen, und in ein paar Tagen war's, als hätten sich all die Zweiglein in einen lichtgrünen Farbtopf gesteckt, und als streckten sie sich nun aus, um an der Sonne wieder zu trocknen.
Der Boden im Birkenwald war mit Tausenden von weißen Anemonen bedeckt.
»Wie lauter Kinder beim Maienfest,« sagte Lenele.
»Die Schlüsselblumen aber sind mir lieber, sie verwelken nicht gleich beim Pflücken,« meinte Schorsch, und rasch sammelten die beiden einen Strauß, denn Isa hatte gestern gefragt: »Habt ihr keine Blumen?«
Nun aber weiter! Amselruf tönt aus dem Wald, rechts und links auf den Zweigen hüpfen Finken, Drosseln und Meisen. Die Kinder kennen genau die verschiedenen Arten und ahmen das Pfeifen und Zwitschern nach. Die Mutter hatte ihnen, als sie noch klein waren, Verschen dazu gesagt:
Die Blaumeise singt:
»D' Zeit ist da, d' Zeit ist da!«
Der Buchfink pfeift:
»Der Wein ist aus, hol' Bier, Bier, Bier!«
Der gelbe Pirol, der Dieb, hingegen ruft:
»Kirschen holen, Kirschen holen!
Weg, weg, weg den Stein!«
Die Kohlmeise, die im Herbst mahnt, für die Winterkleidung zu sorgen, mit den Tönen:
»Flick 'n Pelz, flick 'n Pelz!
Sieh dich für, sieh dich für!«
zwitschert im Frühling:
»'s ist zu früh, 's ist zu früh!«
Das Rotkehlchen neckt:
»Ich sitze da, da, da!
Siehst du mich?«
Die Lerche auf dem Feld aber schmettert beim Hinaufsteigen:
»Im Himmel, im Himmel,
Türrili, da möcht ich sein!«
während sie beim Abwärtsfliegen ruft:
»O Leid, o Leid, o Leid,
's ist gar zu weit, weit, weit!«
»Hörst du den Kuckuck?« rief Schorsch. Es war das erste Mal im Jahr, und rasch klopfte er daher an die Hosentasche, in der das Geldbüchslein sich befand, denn nach dem Volksglauben sollte dann das Geld nie ausgehen im Jahr. Aber leider war's auf dem Hinweg, und das Büchschen war noch leer.
Wenn's bergab ging, hielten beide Kinder die Deichsel, und da ließ sich's gut plaudern. Im Hinaufweg ging das schwer, da zog das eine vorn, während das andere hinten schob.
An dem alten Steinkreuz unten, wo der Wald aufhört und die Gärten anfangen, setzten sich die zwei gewöhnlich einen Augenblick hin und aßen den Rest ihres Brotes, wenn sie noch einen hatten.
»Da hat die Mutter auch immer gesessen,« sagte Lenele und streichelte ganz leise über den Stein und das grüne Moos, das sich daran angesetzt hatte.
Schorsch sagte nichts. Er hatte die Art der Mutter, da zu schweigen, wo ihn innerlich etwas bewegte.
»Siehst du die Maus? Hier gerade ist sie in ihr Loch hineingeschlüpft,« rief er plötzlich, warf sich platt auf den Boden und hielt sich die Hände neben die Augen, um womöglich irgend etwas von den Geheimnissen dieses unterirdischen Heims zu erspähen. Lenele aber sah unterdessen verträumt zwei Schmetterlingen zu, die sich suchten und haschten und schließlich in der blauen Luft verschwanden. Bei all dem versuchte sie gewissenhaft im stillen bis hundert zu zählen und dann noch einmal bis hundert, und dann sprang sie auf. So lange hatte der Großvater erlaubt zu ruhen, und dann ging's weiter.
Die Leute in der Stadt waren recht freundlich zu den beiden Kindern. Als sie zum ersten Male kamen, schenkte die Frau Baronin Schorsch ein schwarzes Halstuch und Lenele eine schwarz und weiß getüpfelte Schürze, und die Kinder waren alle hinausgekommen, um sich die zwei anzusehen. Man hatte ihnen erzählt, daß die Milchmarie gestorben sei, und Isa empfand schreckliches Mitleid. Sie hätte so gern etwas gesagt, aber es fiel ihr nichts ein. Heinz machte es praktischer. Er lief weg und kam dann mit zwei Gegenständen in seiner dicken Patschhand wieder zurück.
»Da!« sagte er, und jedes von den beiden bekam ein Geschenk, Lenele die rotbackige Frau Noah mit der schönen blauen Schürze aus der Arche, Schorsch einen feinen Ulanen zu Pferd.
»Er kann absitzen,« sagte Heinz mit Stolz und war sehr glücklich und eifrig, Schorsch zu zeigen, wie man das mache. Die kleine Therese, gewöhnlich nach der Mutter Reserl genannt, wollte nun auch etwas geben, und kurz entschlossen nahm sie den Rest ihrer Bretzel, von der sie eben ein Stück abgebissen, und brach ihn in zwei Teile. Die Enden waren zwar noch naß, aber das schadete nichts, die beiden Dorfkinder freuten sich doch darüber.
Als das Frühjahr vorbei und der Sommer gekommen war, verursachten die Fahrten den Kindern bedeutend mehr Anstrengung. Gerade um die Mittagszeit, wenn die Sonne über ihnen stand, den steilen Berg hinauf zu fahren, war nicht leicht. Aber in der Jugend empfindet man die Hitze nicht gar so sehr, und dann war ja der Wagen immerhin bedeutend leichter, als ihn die Mutter manchmal mit ihren Paketen und Kisten gehabt hatte. Den Botendienst versah jetzt selbstverständlich ein anderer, dazu waren die zwei noch zu unerfahren.
Nicht immer aber schien die Sonne so heiß, der Wald atmete auch herrliche kühlende Harzdüfte aus, und halbwegs gab es, mitten im Moos verborgen, eine Quelle mit köstlichem Wasser. Wenn die Kinder gleich wieder weiterfuhren, schadete ihnen ein Trunk nicht. An dieser Stelle fand Schorsch auch so manchen hübschen Salamander, Wasserkäfer oder Frosch, die er in eine Büchse tat und mit sich nach Hause nahm. Der Großvater hatte noch immer, soviel auch auf ihm lag, eine große Freude an dem Getier, und seit der Herr Lehrer Schorsch ein Buch mit Abbildungen von Tieren aller Art geliehen, studierten Großvater und Enkel manche Stunde des Abends darin, während Lenele mit einem so ernsthaften Gesicht strickte und nähte, als ob sie die Mutter wäre.
Aber die war sie nun eben nicht, und die Kenntnisse eines elfjährigen Mädchens, wenn auch eines sehr wackeren und fleißigen, reichten mit dem besten Willen nicht aus, die Löcher, die sie und Schorsch in die Kleider bekamen, zu flicken oder vollends gar die Wäsche in stand zu halten. An eine Näherin aber durfte man nicht denken, dazu hatte man kein Geld.
Da kam eines Tages Fräulein Gottliebin, die Arbeitslehrerin, dazu, als Lenele eben mit einem großen Riß in Großvaters Arbeitskittel, den einer der vielen Nägel gerissen hatte, nicht aus und ein wußte. Fräulein Gottliebin wollte Salat holen, – der Großvater suchte da und dort etwas Gemüse aus dem Gärtchen zu verkaufen, – und sah durch das offene Fensterlein das mit den Tränen kämpfende Mädchen.
»An was verkünstelst du dich denn da, Lene?« fragte sie freundlich. Und als sie nachher ins Zimmer getreten war, wo der Großvater so ratlos neben der Enkelin stand, und diese, plötzlich laut aufschluchzend, sagte: »Das hat immer mein Mammele getan!« da besah sich Fräulein Gottliebin genau den Schaden und sagte: »Dazu bist du doch noch zu unerfahren, Lenele, das ist zu schwer für Kinderhände. Flick du immerzu die kleinen Sachen, so viel hast du ja schon an deiner Dockanne gelernt, aber dies hier will ich mit nach Hause nehmen, und wenn's wieder so was Schwieriges gibt, bring mir's nur. Wie oft hat deine Mutter selig mir mit einem Töpflein Milch ausgeholfen oder mir ein frischgelegtes Ei gebracht, als ich damals im Winter krank gelegen!«
Das freundliche Fräulein ging kurz darauf mit einem Paket unter dem Arm und einigen Salatköpfen im Körbchen wieder dem Dorfe zu, während der Großvater aus tiefstem Herzen sagte: »Wieder einmal eine Hilfe, Lenele! Das vergiß nicht, wie auch ich es nicht vergessen werde.«
Der Großvater war im letzten Jahr recht gealtert, und man hätte in ihm eher einen Siebziger als einen Sechziger vermutet. Das war wohl auch kein Wunder, denn trotz der vielen Arbeit, die er zu bewältigen hatte, war sein Herz von stetem Heimweh nach der Tochter erfüllt. Wenn die Kinder daheim waren und er für sie zu sorgen hatte, da war's noch erträglich, aber wenn er auf seinem Schemel saß und schusterte, da kamen so mancherlei Gedanken und Sorgen über ihn. Und wenn er dann aufschaute und sein Blick auf den leeren Platz am Fenster fiel, wenn er unwillkürlich horchte und sich nichts mehr in der Küche rührte, wenn er an die Abzahlung der durch die Beerdigung noch vermehrten Schuldenlast dachte und mit niemand mehr über seine Sorgen sprechen konnte, da ward es dem Schuster-Martin oft unsäglich schwer zu Mute, und seiner Marie Ausspruch fiel ihm ein: »Sterben ist noch lange nicht das Schlimmste, leben zu müssen ist oft viel ärger!«
Leben müssen! Der Großvater schämte sich allemal gleich darauf gründlich vor sich selber, wenn ihn solche schwere Gedanken überkamen. Nein, nicht müssen, – leben dürfen, so mußte man denken! Hatte er denn nicht noch unsagbar viel Gutes auf dieser Welt: die Kinder, seine Gesundheit, seine Arbeit und zu all dem sein Heim, sein Häuslein mit allem drum und dran, eines, wie man in der weiten Welt nicht leicht ein zweites finden konnte?
Da fiel ihm immer wieder die alte Liese ein. Die war mit ihm zur Schule gegangen, hatte einen reichen Bauern geheiratet, der aber alles verlor, und nun wurde sie von der Gemeinde erhalten und mußte noch dankbar für die Stube im Spital sein, die sie mit andern zu teilen hatte, und nicht mit den besten, die es gab. Und trotzdem klagte sie nie, denn sie hatte im Leid ihren Gott gefunden, und mit ihm lasse es sich wohl überall aushalten, hatte sie neulich gemeint.
Tack, tack, tacktacktack!
Der Großvater hatte allemal wieder einen Boden unter den Füßen, wenn ihm dies einfiel, und so eine Erfahrung wie die mit Fräulein Gottliebin, die tat auch gut. Sein Klopfen klang dann zeitweise wieder fröhlicher. Er konnte der Sonne sich erfreuen, die des Nachmittags bis in seinen Arbeitswinkel kam, er hörte das Pfeifen des Kanarienvogels, hatte da und dort ein freundliches Wort für den Mohrle und die Mieze, und wenn erst gegen Abend die Arbeit bei der Bleß getan war und die drei beisammen saßen, da freute sein altes Herz sich an den Kindern, an ihrem Lernen und ihrem Erzählen. Nein, das Leben war doch noch schön, und das Schwere daran, das hatte die Mutter der Kleinen überwunden, das wollte er sich beharrlich vorhalten, wenn die trüben Gedanken sich vordrängten.