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Schwatzliesel

»Also, Mütterchen – einen Tintenwischer für Vater, ein Perlhütchen auf die Lampe für Großvater, warme Pulswärmer für Großmutter und für dich ein Ser…,« zählte voll Entzücken die zehnjährige Liese, das einzige Töchterchen des Doktor Bergen, auf. Es war vor Weihnachten, und sie und Mutter saßen, arbeitend, beisammen.

»Halt!« hatte diese schleunigst unterbrochen, »du wirst mir doch nicht vorher sagen wollen, was ich bekomme!«

Liese schrak zusammen. Nein, gewiß, das wollte sie nicht. – hatte sie denn am Ende in der Aufregung schon etwas ausgeplaudert? Dann wäre es ja gar keine Überraschung gewesen, das mit dem schönen Servi … Serviettenband wäre ihr schon wieder beinahe herausgefahren, aber Mutter hob noch einmal zur richtigen Zeit warnend den Finger.

»Mein liebes Liesel muß sich wirklich mehr in acht nehmen mit ihrem raschen Plaudern. Gestern hast du Vater beständig gefragt, ob er sich denn keine tintigen Finger an dem alten Wischer mache, er sei doch sehr, sehr alt, der Wischer, und Großmutters Hände untersuchtest du so oft auf Kälte, daß sie recht harmlos sein müßte, wenn sie nichts gemerkt hatte!«

»Mutter, sie wird doch nicht? … und Vater auch nicht? Das wäre ja schrecklich, und nichts mehr würde mich freuen!« rief Liese ganz entsetzt und hielt mitten im Einfassen der glitzernden Perlen inne, die um das schöne grüne Tuch des Tintenwischers herumgenäht werden mußten.

Beruhigend schüttelte Mutter mit dem Kopf und Liesels Gedanken flogen nun zu etwas anderem: »Ach, Mutter, ich weiß etwas so wunderbar Schönes, so schön, daß du dir keinen Begriff davon machst, denn verraten werde ich davon ganz, ganz gewiß nichts!«

Liesel ließ die Arbeit sinken und sah ordentlich begeistert in der Runde herum.

»Dann schweig und mach auch keine Andeutungen.«

»Aber man darf doch sagen, daß etwas schön ist, und daß es dich ganz entsetzlich freuen wird, wie gar nichts anderes auf der ganzen Welt. Das ist doch keine Andeutung?«

»Liesel, schweig, ich bitte dich, und nähe weiter, ich will durchaus nichts wissen!« Die Mutter sagte es sehr bestimmt und fast verstimmt, denn ihre Augen waren vorhin unwillkürlich den Blicken ihres Kindes gefolgt, das immer wieder auf die leere Wandfläche über dem Klavier sah, und ohne daß sie es wollte, kamen ihr allerlei Gedanken, hatte ihr Mann nicht schon öfter gesagt, hier an diesen Platz müßte einmal ein hübsches Bild kommen? Und neulich, als der geschickte Maler in die Stadt kam, fing Vater wieder davon an: »wenn ich übriges Geld hätte, würde ich unsere Einzige bei ihm malen lassen und das Bild hierher hängen!« Der Vater hatte große Ausgaben gehabt – Mutter wußte dies. Nun aber wollte sie ihn überraschen, und nachdem sie selber ihr Geld berechnet, hatte sie sich keinen neuen Mantel und kein Kleid gekauft, und diese Woche noch wollte sie mit Liesel zu dem Maler gehen und ihn bitten, ein Bild von der Kleinen zu machen.

Aber nun? Sollte ihr Mann am Ende denselben Gedanken gehabt und ihn schon ausgeführt haben? …

Schweigend arbeiteten ihre Gedanken weiter, während Liesels ganzes Herz von all ihren Geheimnissen erfüllt war. Nicht nur von den eigenen, sondern sie war ja sogar die vertraute des Vaters geworden, vor einigen Tagen, als sie etwas früher als sonst aus der Schule kam und die Mutter ausgegangen war, stand Vater auf einer Leiter im Wohnzimmer, ein Mann bot ihm schöne Bilderrahmen zur Probe hinauf, und eben, als Liesel eintrat, hielten die beiden ein Bild der heiligen Familie über einen prächtigen goldenen Rahmen.

»Der paßt am besten zu der Sixtina,« sagte Vater, er erschrak aber sehr, als er, sich umdrehend, Liesel erblickte.

»Was tust denn du da?« fragte er, und drehte rasch das Bild auf die andere Seite. Aber Liesels scharfe Augen hatten es schon erkannt.

»O Vater, Vater, das ist ja Mutters Lieblingsbild – soll sie es bekommen?«

Schleunigst war Liesel bis zum Klavier vorgeeilt und sie konnte gerade noch einen Blick auf die zwei Engel werfen, die unten mit aufgestützten Armen aus den Welten sahen. Vater hatte Bild und Rahmen dem Manne übergeben und nur kurz noch gesagt: »Also! Daß es aber gewiß zur richtigen Zeit fertig wird!«

Der Mann ging, Liesel hüpfte vor Wonne von einem Fuß auf den anderen: »Was wird Mutter sich freuen, was wird sie sich freuen!«

Der Vater lächelte. Aber dann ward ihm die Mitwisserschaft seines kleinen Mädels doch recht unbehaglich, und sehr ernsthaft stellte er ihr hierauf vor, wie sie nun seine vertraute geworden, wie das eine große Ehrensache sei, und wie er sich felsenfest auf sie verlasse, daß sie nicht plaudere, oder auch nur sich etwas anmerken lasse.

»Aber Vater, wo werde ich denn?« erwiderte Liesel fast gekränkt, sie hatte sogar zur Bekräftigung ihm mit einem Handschlag Stillschweigen gelobt und bis heute es auch gehalten.

Daran dachte Liesel, als sie Perle an Perle nähte, immer zwei grüne, drei goldene. Nicht ein einzigesmal hatte sie sich verschnappt, sogar nicht, als Mutter etliche Engelein an den Christbaum kaufte und sagte: »Die sehen genau so aus wie die auf meinem Lieblingsbild!« Aber das mit der großen Freude vorhin, das durfte man doch sagen, das war doch kein Verrat? …

Ein klein bißchen regte sich doch das Gewissen; aber Liesel mochte nichts hören.

Nach kurzer Zeit begann das Stillschweigen schon wieder ihr drückend zu werden, und, wohl angeregt durch das Gold ihrer Perlen, äußerte sie plötzlich und ganz unvermittelt: »Nicht wahr, Mutter, Goldrahmen sind doch immer die allerschönsten?« Dabei wanderten die lebhaften Augen sofort wieder an die leere Stelle der Tapete. Der Mutter wurde die Sache nun aber ganz klar. Vater hatte es doch möglich gemacht, Liesa von dem großen Künstler malen zu lassen, Und wie gerne ließ sie sich nun damit überraschen. Niemand auf der Welt konnte sich nun mehr auf den Heiligen Abend freuen als sie, und sie konnte ihrem Schwatzlieselchen nicht einmal sehr böse sein, weil solche tägliche Vorfreude doch gar so herrlich war. Nur nicht noch weiter sollte Liesel verraten – das wäre ihr um des Kindes und ihres Mannes willen unlieb gewesen, und wenn je in den folgenden Wochen eine Gefahr dafür drohte, so wußte sie schnell das Gespräch zu wenden. Aber oft und oft blickte nun auch sie zu der schönen hellen Wandfläche hinauf und dachte sich das Liesel in allerlei Stellungen – ob der Künstler sie wohl im Grünen oder mit ihren Puppen aufgenommen – ob er wohl das weiße oder das rosa Kleid gewählt, und ihre einzige Sorge war, ob man auch wohl die Haare gelöst und schön gelockt hatte.

Heiliger Abend! Die Mutter hatte den ganzen Tag über eingeschlossen im Wohnzimmer gearbeitet und nun übersah sie befriedigt ihr Werk. Schön geschmückt stand der Baum in der Fensternische, Lieses sämtliche Puppen, neu gekleidet, saßen unter ihm, an den Wänden waren Küche, Kaufladen und eine neue Puppenstube aufgestellt. Die Wand in der Nähe des Klaviers war aber mit Bedacht ganz freigelassen. Das mit dem Bild war ihr nun ganz sicher, denn gestern abend in der Dämmerung, als eine große Kiste für Vater gebracht wurde, entfuhr dem unvorsichtigen Mädel der Ruf: »Vater, Vater, das Bil…,« worauf dieser sie sehr böse, verweisend angesehen und dann rasch hinausgeeilt war. Nachher hörte sie ihn im Nebenzimmer mit gedämpfter Stimme tüchtig schelten, was ihr leid tat. Liesel war mit vermeinten Augen herausgekommen.

Aber noch mehr weinende Augen sollte es heute geben, obgleich Liesels Glück über all ihre erfüllten Wünsche ein vollkommenes hätte sein können.

Mutter, die sonst so Ruhige, sich Beherrschende, der man nie anmerkte, wenn ihr etwas unangenehm war, auf deren freudige Überraschung Vater sich am meisten gefreut hatte, konnte einfach heute ihre große Enttäuschung nicht verbergen. An der Wand über dem Klavier hing wohl, in wirklich prachtvollem goldenem Rahmen, ein Bild. Aber kein Weiß und kein Rosa, kein braunes Lockenhaar und kein lustiges Schelmengesicht war zu sehen! Schön und groß, grau in grau war die Photographie der von Mutter sonst so sehr geliebten Sixtinischen Madonna mit dem Jesuskind und den Engeln. Doch gar nicht freundlich erschienen heute alle diese holden Gestalten der Empfängerin, denn sie hatte so sicher durch Liesels Gerede das andere erwartet, das nun nie mehr hereinzuholen war. Weil der berühmte Maler fort und die Gelegenheit, ihre Einzige von ihm malen zu lassen, für immer verpaßt war.

»Freut's dich denn nicht – das Bild?« fragte der Vater, ganz traurig ob Mutters Stillschweigen, und Liesels Herz wurde auf einmal sehr schwer, als Vater eben nicht liebreich losbrach: »Natürlich ist dir die Überraschung durch Liesels unbedachtes Reden verdorben!«

Die Mutter faßte sich nun gewaltsam, als sie sah, wie ihres Kindes Augen sich mit Tränen füllten, und, um wahr zu sein, mußte sie nun die ganze Sache erzählen.

»Warum ich so enttäuscht bin, ist ja bloß deshalb, weil, wenn ich nichts von einem Bilde gehört, ich die Liesel für dich hätte malen lassen – das Geld dazu hatte ich mir in den letzten Monaten zurückgelegt.« Fast ein bißchen schluchzend klangen diese Worte.

Aber schnell fügte sie hinzu: »Bin ja eigentlich doch selber am meisten schuld, daß ich mir so was einbildete.«

Vaters Ärger hatte sich in einem sehr energischen: »Schwatzliese – dumme!« Luft gemacht.

Wohl bezeugte Mutter nachher doch noch eine sehr große Freude an dem nun vorhandenen Bild, wohl überwand Vater sich und bewunderte den Tintenwischer mit Perlen. Auch die Puppenstube mit dem so sehnlich gewünschten Erker und den Schiebtüren wurde noch sehr gewürdigt. Aber ein so recht fröhlicher, glückseliger Weihnachtsabend wie sonst war's doch für keines, und beim Gutnachtsagen gelobte Liesel feierlich und leidenschaftlich mit von neuem hervorbrechenden Tränen: »Ich werde ganz, ganz gewiß nächste Weihnachten und alle Weihnachten, die noch kommen, nichts verraten – überhaupt kein einziges Wörtchen vorher mehr sprechen!«

Fast lachen mußte man über solch weitumfassendes Versprechen. Der Vater aber meinte: »Nicht nur vor Weihnachten, sondern auch sonst dürfte unser Plappermäulchen wohl ein bißchen mehr aufpassen und nicht alles herausreden, was ihm gerade auf die Zunge kommt!«

»Aber was wahr ist, darf man doch alles sagen, nicht wahr?« Und im Bett stellte Liese noch dieselbe Frage an ihr Kindermädchen, dem sie alles anvertraute, und das auch treulich nach allen Seiten hin Teilnahme bewies. Es war noch nicht sehr lange da, aber alle im Haus hatten es lieb ob seines stillen, anständigen Wesens.

»Ich weiß das selber nicht so recht – jedenfalls muß man wahr sein, wenn man gefragt wird,« antwortete Berta zögernd und räumte dann rasch Liesels Kleider zusammen. Reden von allem, was wahr ist? Ach nein, das wäre entsetzlich – das war ja gerade das, unter dem Berta schon so sehr gelitten hatte. Von Grund aus brav, in der Schule gewissenhaft, hatte sie, als Älteste einer sehr armen, kinderreichen Familie, sich einst hinreißen lassen, beim Bäcker ein Brot und für ihre kleine Schwester eine Brezel zu entwenden. Die Geschwister hungerten damals, sie tat's in der Not, aber dieses Vergehen ging ihr doch während der ganzen Schulzeit nach und später noch dachten die Menschen daran, was sie getan, obwohl sie sich tadellos hielt. Vater war gestorben, ihre Mutter arbeitete im Taglohn, um für ihre Kinder das Nötigste zu beschaffen. Berta war von Frau Doktor Bergen in eine Mägdeanstalt geschickt worden, durfte nun hier im Hause noch allerlei lernen, und ihr höchster Wunsch, eine gute Stelle zu bekommen und Mutter helfen verdienen zu dürfen, rückte dadurch der Erfüllung nahe, wie wollte sie sich Mühe geben und treu sein, wenn nur nicht auch hier wieder jemand von der alten Sache erfuhr und redete, und man ihr dann wieder nicht traute! …

Das war's, an was Berta dachte, als Liesel fragte: »Aber was wahr ist, das darf man doch alles sagen?« Wie dankbar wären Berta und ihre Mutter gewesen, wenn die Menschen mehr liebreich geschwiegen und nicht immer von dem, was allerdings leider Wahrheit war, gesprochen hätten.

Liesels Mutter, an welche diese in den nächsten Tagen noch einmal die Frage richtete, antwortete: »Sagen muß man alles, was wahr ist, wenn man darob gefragt wird. Vieles geht aber die Leute gar nichts an, und über Verhältnisse und Erlebnisse anderer schweigt man meist besser, weil unnötiges plaudern da oft Schaden bringen und weh tun kann, gerade wenn etwas wahr ist!«

Liesel nickte. Sie war eine gescheite kleine Person und hatte es verstanden. Von Bertas Verhältnissen wußte sie ja nichts. Aber auch sonst wollte sie gewiß keinem Menschen irgendwie schaden, wollte gewiß in nichts eine Schwatzliese sein. Nur für gewöhnlich so recht lustig darauf losplaudern war halt doch etwas zu Schönes, und das vorher sich Besinnen, ob man nicht besser täte, zu schweigen, war so mühselig und langweilig! Wenn nur dann nicht so oft hintendrein die Reue über das Unbedachte gekommen wäre. Wie viel solcher Geschichten passierten Liesel!

»Wißt ihr was Funkelnagelneues?« hatte sie einst in der Schule voll Eifer verkündet. »Ein Mädchen kommt in die Klasse, deren Eltern Grafen oder irgend so etwas sind. Die Base meines Vetters hat es mir im Herweg geschwind erzählt, sie weiß es von ihrer Schwester. Denkt euch – lauter Sonntagskleider trage sie am Werktag, aber wir sollten uns nur vor ihr in acht nehmen, sie trage den Kopf sehr hoch und spreche mit fast niemand!«

»Dann soll sie's bleiben lassen,« riefen sofort ein paar der Lebhaftesten aus der Klasse, »wenn sich eine besser dünkt, als wir, können wir auch hochmütig sein!«

»Ja, das können wir und das wollen wir – die Neue soll's nur probieren,« scholl es sofort durcheinander, und im Handumdrehen hatten die Mädels einen Bund gebildet, daß sie diese hochmütige durchaus nicht aufkommen lassen und daß alle deshalb ihr gegenüber für den Anfang vollständig stumm sein würden.

Die kleine Gräfin war eingetreten. Ihr Kleid war wohl einfach, aber fein und zierlich. Den Kopf trug sie ziemlich hoch, weil ihr eine sehr aufrechte Haltung anerzogen war, und sehr stille und einsilbig war sie auch. Sie sprach nichts von selber und antwortete nur leise. Es geschah aber nicht aus Hochmut, sondern weil sie auf dem Lande aufgewachsen und nur namenlos schüchtern unter so vielen war.

»Also – nicht mit ihr sprechen, bis sie mit uns spricht!«

Diese Losung wurde pünktlichst mindestens vier Tage lang durchgeführt, unerbittlich streng, bis in der Pause Liesel die ›Neue‹ bitterlich weinend im hintersten Ende des Schulhofs, auf einer alten Kiste sitzend, fand, weinen konnte aber Liesel unbedingt nicht sehen, selbst nicht bei einem Feinde, und ratlos stand sie einen Augenblick vor der Schluchzenden. Endlich sagte sie fast heftig: »So rede doch, was du hast!« Liesel kam sich als Abtrünnige vor, daß sie das Schweigen brach.

»Heimweh!« war die einzige Erwiderung, aber sie wurde in solch tiefbetrübtem Tone gegeben, daß Liesels Herz von Mitleid sofort überquoll, und sie, den Bund und alles vergessend, vor die verfemte kniete, ihren Arm um sie schlang und sagte: »Wir wären gewiß alle viel netter mit dir, wenn du nicht so hochmütig wärest und auch mit uns sprächest!«

»Ach, ich bin nicht hochmütig, ich habe doch so schrecklich Angst vor euch, und keine noch hat mit mir geredet!« … Stoßweise, in großem Jammer kamen diese Worte heraus. Liesels Gewissen aber schlug gewaltig, war sie doch diejenige, welche zuerst Schlimmes über eine ganz Unbekannte verbreitet hatte. Schleunigst sprang sie in die Höhe, dicke Tränen standen auch ihr in den Augen. Und in den Hof zu den Gefährtinnen zurücklaufend, rief sie, so laut sie nur rufen konnte: »Kommt doch … kommt doch alle einmal her! Die Neue ist ganz gewiß gar nicht hochmütig, es ist mir schrecklich, daß ich's gesagt habe! Bloß furchtbar traurig ist sie, und Heimweh hat sie, und sprechen tut sie deshalb nicht, weil sie Angst vor uns hat und weil sie noch nie in einer Schule war!« … Eine nach der anderen von den Mädchen richtete nun ein paar Worte an die zwar sehr schüchtern, doch ganz beglückt antwortende neue Schulgenossin. Liesel aber konnte sich nicht genug tun, im Gefühl, daß sie hauptsächlich an solcher Betrübnis und Heimweh schuld gewesen, und nachdem sie dies rasch und leise gestanden, war sie um so beschämter, als die kleine Gräfin ihr die Hand bot und fragte: »Willst du meine Freundin sein – ich wäre so glücklich darüber!« –

»Das hast du wahrlich nicht verdient,« sagte die Mutter, als Liesel ihr die ganze Geschichte daheim gestand und erzählte. Daß sie Mutter immer alles beichtete, das war gut. Aber wieder erhielt sie dabei den ernsten Rat: »Plaudere nicht darauf los, ohne dich vorher zu besinnen, ob du niemanden damit schadest! Nicht immer nimmt's solch ein gutes Ende wie diesmal!«

Die Freundschaft von Liesel mit Serena Waldberg, wie die junge Gräfin hieß, wurde nun bald eine innige. Auch die Eltern lernten sich kennen, und Berta kam ins Waldbergsche Haus als Stubenmädchen. Frau Doktor Bergen hatte der Gräfin vorher die Familienverhältnisse des jungen Mädchens anvertraut. Das gehörte sich. Die beiden Frauen waren aber übereingekommen, daß niemand sonst, besonders aber die Waldbergschen Dienstleute diese Sache etwas angehe und man deshalb darüber schweigen wolle.

Berta war glückselig, in solch gutem Hause zu sein. Man hatte sie auch sehr gerne. Das, was sie bei Frau Doktor noch gelernt, kam ihr in den vornehmen Verhältnissen zugute, der Lohn war so, daß sie die Ihrigen daheim nun wirklich unterstützen konnte, und die ganze Bergensche Familie freute sich mit ihr, als sie an einem Sonntagnachmittag glückstrahlend die Nachricht brachte: »Die Frau Gräfin meint, wenn ich mir weiter solche Mühe gebe, könne sie mich mit der Zeit zu ihrer Kammerjungfer machen!«

Inzwischen passierte Liesel wieder eine Plaudergeschichte, bei der sie vielleicht nicht ganz so schuldig, aber doch die Ursache von höchst peinlichem war.

Der kleine Knabe einer befreundeten Familie erkrankte schwer. Vater war in großer Sorge um ihn und dreimal des Tages machte er Besuche dort. Liesel, die den kleinen Kurt Linden auch sehr liebte, fragte beständig nach ihm, erhielt aber, wie stets, wenn es Vaters Patienten betraf, nur kurze Antworten. Sie hatte auch die strenge Weisung, nie über solche Berichte zu sprechen.

Nun aber war Kurtchen, der süße, blondlockige lustige Junge, beinahe aufgegeben. Gerade als Liesel auf der Treppe war, um zur Schule zu gehen, kam Vater von der Nachtwache zurück, und sie hörte just noch, wie er sagte: »Will nur das Nötigste holen, es steht ganz schlecht. Um sechs Uhr glaubten wir, der Junge werde sterben!«

Ach wie schrecklich! Liesel wäre gern noch einmal hinauf, um Näheres zu hören, aber es war schon zu spät. Dazu reichte es doch noch, gerade vor Beginn des Unterrichts, der Klara und der Beate, der Marta und der Elise, die alle den kleinen Knaben kannten, zuzuraunen: »Ganz schlecht steht's bei Kurtchen, hat mein Vater gesagt – um sechs Uhr ist er beinah gestorben!«

Da aber eben die Lehrerin eintrat, hörte Else Meyer nur noch das Wort gestorben, und sofort, als sie heimkam, erzählte sie die traurige Neuigkeit.

Und: »Kurtchen Linden, das herzige Kind, ist heute früh gestorben!« so ging gar bald die Runde von Haus zu Haus. Einige widersprachen, sie hatten erfahren, daß es im Gegenteil etwas besser seit Mittag gehe. Etliche aber dachten, Liese Bergen muß es doch wissen von ihrem Vater, der den kleinen Linden behandelte. Und so kam es, daß gegen Abend in das Haus des Hauptmanns Linden, wo die Eltern eben zum ersten Male wieder sich ihres fieberfreien Kindes freuten, flüsternd und unter Beileidsbezeigungen Kränze und Kreuze für das tote Kurtchen gebracht wurden. Eine alte Dienerin des Hauses entfernte entsetzt und in schleunigster Kürze die Teilnehmenden mit samt ihren Spenden: »Gehen Sie doch um des Himmels willen mit dem Blumenzeug fort – unser Büble trinkt ja eben, gottlob, Hühnerbrühe, und der Arzt sagt, das Hälschen sei frei, in kurzem hätten wir wieder ein gesundes Kind!«

Die Leute gingen. Manche freuten sich, manche ärgerten sich, daß sie umsonst Blumen gekauft hatten.

Aber die Lindens hörten schließlich doch noch von dem, was sich zugetragen, regten sich nachträglich sehr auf darüber und auf Liesel blieb es sitzen, sie mochte ihre Unschuld beteuern, wie sie wollte. Else Meyer hatte sich ja geirrt, aber das ließ Doktor Bergen, der diesmal sehr böse war, nicht gelten.

»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollest schweigen über das, was ich zu Hause Mutter von meinen Kranken sage!«

Beinahe hätte Liesel eine Ohrfeige bekommen. Aber fast noch weher tat ihr, daß Vater von da an lange Zeit sie hinausschickte, wenn er etwas mit Mutter zu sprechen hatte: »Kannst nachher gleich wieder hereinkommen. Aber 's ist besser so, Liesel, daß du nicht in Versuchung zum Schwatzen kommst!«

Für eine Zeitlang war Liesel nun gewitzigt, sie nahm sich wirklich in acht. Vertraute sie je einmal einem der Mädchen etwas an, – sie war eben einmal so vertrauensselig, – so ließ sie sich von diesem vorher versprechen, gewiß keinem Menschen ein Sterbenswörtchen von dem Anvertrauten zu sagen.

Mutter meinte: »Wie kannst du von anderen verlangen, daß sie eine Neuigkeit bei sich behalten, wenn du selber nicht schweigen kannst!«

Liesel meinte, es wäre doch manchmal einfach zum Zerplatzen, wenn man gewisse Sachen nicht erzählen dürfte.

Die Mutter mußte lachen ob solcher Ansicht: »Zerplatzt ist meines Wissens noch niemand,« sagte sie.

»Wenn wir eben fest daran halten, nur das weiter zu erzählen, was keinem schadet, so bedarf es keiner feierlichen Schweigversicherungen!«

»Meiner Serena bin ich auch ohne solche sicher, die plaudert nie etwas weiter,« lobte Liesel die Freundin voll Stolz. Das war auch wirklich der Fall. Serena, in ihrer stillen, gewissenhaften Art bewahrte alles treu, was man ihr anvertraute, aber gerade dies war für Liesel eine große Versuchung, das, was ihr durch den Kopf fuhr oder was sie von Neuigkeiten hörte, an die Freundin hinzureden. Seit ein paar Tagen aber hatte Liesel etwas Schreckliches auf sich liegen. Sie wußte ein Geheimnis, und es niemand sagen zu können, drückte ihr fast das Herz ab. Hatte sie doch Berta, das freundliche, fleißige Mädchen, das eine wirklich richtige Kammerjungfer bei Gräfin Waldberg war, so lieb. Deshalb konnte Liesel kaum das Entsetzliche glauben, daß diese einmal Brezeln weggenommen habe und ein Brot! Und doch hatte sie dies ganz deutlich aussprechen hören.

Sie befand sich gerade zufällig im Eßzimmer, als die Mutter nebenan im Salon zu Gräfin Waldberg sagte: »Wie beglückt mich, daß Berta sich so gut hält, und daß die traurige Geschichte hier nicht bekannt ist!«

Liesel hätte sich nun entfernen sollen. Man hört nicht zu, wenn man nicht gesehen wird, aber sie blieb.

Die Gräfin erwiderte: »Ja, besonders den anderen Dienstboten gegenüber, die auf Berta ohnehin neidisch sind und nie darüber hinwegkämen, daß sie einmal in ihrem Leben nicht ganz redlich war!«

Die beiden Damen sprachen noch länger über die Sache, und mit angehaltenem Atem verschlang Liesel jedes Wort. Endlich schlich sie unbemerkt wieder fort, – horchen hatte sie ja nicht wollen, aber länger geblieben war sie, als recht und anständig war, und als Strafe dafür verfolgte sie nun Tag und Nacht etwas, was sie, aus schlechtem Gewissen, nicht mal bei der Mutter sich von der Seele reden konnte. – Berta, die liebe, nette Berta, sollte sich einmal so arg vergangen haben, daß, wie Mutter erzählte, sie beinahe bestraft worden wäre. Freilich hatte sie bereut, aber entsetzlich war doch, um so etwas zu wissen, und Liesel konnte sich gar nicht darüber klar werden, ob sie Berta nun eigentlich nicht viel weniger gern hatte, oder ob sie sie noch mehr lieb haben sollte, weil sie so Arges erlebt! Solche Gedanken trieben Liesel gewaltig herum und hätte sie sich einfach Mutter anvertraut, so wäre alles recht und viel Unlust erspart gewesen. Da aber Liesel nicht schweigen konnte, wenn etwas sie bewegte, so redete sie wenigstens in allerlei dunklen Andeutungen davon, als sie am kommenden Sonntagnachmittag bei Serena war. Die beiden hatten zusammen Papierpuppen ausgeschnitten, dann mit Hans und Fritz, dem großen und kleinen Bruder Serenas, nach der Schokolade Lotto gespielt, und nun, als Hans zu Kameraden gegangen war, saßen die zwei Freundinnen in der Dämmerung beisammen und plauderten.

»Du bist heute gar nicht wie sonst,« sagte Serena.

Liese schwieg.

»So sprich doch und sage, was du hast?«

»Ich kann nicht!« Liesel sagte dies so eigentümlich, daß Serena sich ängstigte und weiter in sie drang.

»Es ist etwas Schreckliches und man darf's nicht sagen,« brach Liese endlich los.

»Dann will ich's auch nicht wissen!« Serena antwortete dies ungern, aber gewissenhaft entschieden. Doch Liesel mußte nun etwas sagen; und in großer Hast stieß sie hervor: »Ich bitte dich, Serena, sei doch ja immer und immer furchtbar lieb gegen die arme, unglückliche Berta!«

»Bin ich denn nicht immer gut zu ihr, und wir alle, und warum ist sie denn unglücklich? Das mußt du mir nun sagen, das muß ich wissen!« fragte Serena unwillkürlich beunruhigt.

Liesel erschrak und hätte am liebsten alles wieder zurückgenommen. Als aber Serena selber fragte, gab's kein Halten mehr, und Stück um Stück erzählte nun Liesel, was sie gehört. – Serena war nun auch ganz erregt: »Das ist freilich sehr arg. Ich wollte, Liesel, wir wüßten's beide lieber nicht, oder könnten mit unsern Müttern darüber sprechen. Was sollen wir nur damit anfangen?«

Ja, was mit so etwas anfangen? Aber trotzdem wollte Liesel ihr Horchen noch nicht eingestehen, und sie meinte, nachdem sie und die Freundin das Ganze nochmals gründlich durchgesprochen hatten, sie beide wollten nun eben auch zusammen darüber schweigen, so wie die Mütter es wohl wünschten.

»Aber entsetzlich ist's doch, zu denken, daß Berta einstens so was getan hat!« sagte Serena wieder, schwieg aber sofort, als die Betreffende eben eintrat, um zu sagen, daß jemand da sei, Liesel abzuholen.

Wer aber nicht schwieg, weil er's gar nicht für nötig hielt, das war der kleine dreijährige Fritz, der die ganze Zeit über an seinem Kindertisch mit Soldaten gespielt, den die beiden deshalb gar nicht beachtet hatten, und von dem auch gar nicht anzunehmen war, daß er so etwas verstünde.

Er verstand's auch nicht, aber einzelne Wörter schon, die er aufgefaßt hatte. Und als Berta ihn zum Bettgehen holte und im Eßzimmer ihm vorher noch seine Suppe gab – das Kindermädchen war heute ausgegangen, – da sagte er sehr laut und bestimmt: »Aber nein – Berta hat Brezel denommt, und das ist Naschen! Und Berta hat auch Brot destehlt, wie sie noch nicht bei Fritz war, sondern bei andern tleinen Kindern – ja wohl, destehlt hat Mutti desagt, hat Liesel erzählt, und wer stiehlt, wird eindesperrt. Fritzi ist lieb, Fritzi nimmt tein Brezel und tein Brot, bloß Schokolade!« Damit schloß er seinen Bericht und löffelte lustig dann seine Suppe aus, aber die neben ihm saß, war bleich geworden und zitterte an allen Gliedern. Wieder war's nun an den Tag gekommen, wieder wußten die Menschen und wohl auch in ein paar Minuten alle im Hause hier den Fehltritt ihrer Kindheit. Eben war der junge Diener zur Türe hinausgegangen, der den Tisch gedeckt und alles mit angehört hatte. In seinem Gesicht war zu lesen: »So, so, das ist also die brave Berta, die uns alle immer zur Ehrlichkeit ermahnt und die selber schon gestohlen hat. Das will ich doch rasch den andern mitteilen!« … Auch hier würde nun wieder jedermann an ihr zweifeln, daß sie wirklich gut sein wollte, und in dem Hause, wo sie so unsäglich glücklich gewesen war, mußte sie sicher nun auch wieder ihr Bündel schnüren, und dann – wohin?

Es hatte den Anschein in den nächsten Tagen, als müßte alles so gehen! Wie mit einem Schlage zogen sich die Dienstboten von Berta zurück, schroff und abweisend begegnete ihr sogar das Fräulein. Serena mochte leise vermitteln, wie sie wollte, ihrer Mutter mußte sie sich doch schließlich anvertrauen und Liesel unter tausend heißen Tränen sich der ihrigen. Fritzchen konnte man nicht böse sein, er hatte keine Ahnung, was er angerichtet.

Aber Liesel mußte lange Zeit noch die große Last mit sich herumtragen, daß Berta ein erschwertes Leben durch sie hatte.

Die Gräfin ließ das Mädchen nicht von sich. Serena und sie zeigten ihr verdoppelte Zuneigung und Vertrauen. Liesel hätte ihr mit Freuden ihr Liebstes geschenkt, – Berta tat all dieses so wohl! Doch das, was sie an Bemerkungen und Andeutungen von unguten Menschen hinzunehmen hatte und was sich in ihrem bekümmerten Gesicht oft zeigte, das konnte ihr niemand abnehmen, das war nun einmal so!

Zu Liesel aber sagte selbst der Vater nicht mehr ›Schwatzliese!‹ Erstens war sie jetzt keine mehr, und dann wollte man ihr ihre Reue nicht noch schwerer machen, als sie ohnedem schon drückte.


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