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»O mein Gott, noch einmal Leute! Wer doch auch nur in der heiligen Christnacht so herumfahren mag, wo ein anderes so froh wäre, wenn's daheimbleiben dürfte!«
Ein junges Weib mit einer Spülschürze, Geschirr abtrocknend, sagte dies seufzend zu einer anderen Angestellten, der Köchin, in dem kleinen Waldsanatorium Quisisana, nicht weit von der Stadt. Es waren eine Anzahl Gäste auch im Winter noch hier, Ruhesuchende, und auch etliche, die dem Wintersport oblagen. Für alle wurde heute abend selbstverständlich ein Festmahl gekocht. Die Besitzerin, Frau Koch, ging ab und zu, sie hatte im kleinen Saal ja noch allerlei zu richten, an der großen Tanne die Lichtchen zu befestigen, auf die Binsenkörbchen mit Gebäck, die ein jeder ihrer Gäste erhielt, noch da ein Stückchen Quittenspeck, dort einen Zimtstern zu legen. Dabei stellte sie hübsche Waldsträuße vor jeden Platz und legte ein passendes Bildchen dazu. Was an ihr lag, sollten die Fremden so wenig wie möglich heute abend das eigene Heim vermissen. Jetzt war sie wieder in der Küche.
»Habt ihr die Gans gewendet? – Ist auch der Rotwein warmgestellt? – wo sind die harten Eier zum Salat?«
Frau Koch band rasch ihre immer bereithängende weiße Schürze um, mischte Öl und Essig, zerdrückte die Eier und träufelte das Gemischte über die schönen gelben Herzblättchen, dazwischen stach sie mit einer spitzen Gabel in die Gans, ob sie wohl schon weich, aber dabei doch knusprig sei. Die Köchin stürzte indessen die gelbe Vanillecreme auf einen Kristallteller, während ein Küchenmädchen den Rahm schlug, mit dem die süße Speise versehen werden sollte. Nebenan auf dem Herde brozelte der Karpfen herrlich duftend in seiner braunen Brühe. Alles ging seiner Vollendung entgegen, und auch das gebrauchte Geschirr auf der Spülbank war schon rein gemacht und an seinen Platz gestellt, und Frau Marthe Wacker, die Putz- und Spülfrau, welche bei allen besonderen Gelegenheiten aushalf, dachte eben: »Nun kann ich heim zu meinen Kindern – nun ist weit über den Feierabend hinaus geschafft« – als mit einem lustigen Posthornton ein Auto vorfuhr und eine Gesellschaft von sechs Personen, Herren und Damen, meist junge Leute, unter viel fröhlichem Lärmen und Lachen ausstieg und ebenso lebhaft von einem hier zur Erholung anwesenden alten Herrn begrüßt wurde. Ein Durcheinander von Stimmen wurde laut:
»Was tut denn ihr da?« und »Ja, glaubst du denn, wir würden dich am Heiligen Abend allein lassen, Onkelchen? Wir haben daheim schon um sechs Uhr beschert, und nun wollen wir dableiben. Es gibt doch hoffentlich etwas Warmes und nachher einen Punsch?«
Die ganze Gesellschaft, in Pelzmänteln und Mützen, in Tücher und Schleier gehüllt, drängte herein, und der also Überfallene, ein würdiger Junggeselle und geliebter Onkel dieser jugendlichen Schar, streckte, halb überwältigt, aber doch sichtlich erfreut, den Kopf zur Küchentür herein und rief:
»Frau Koch, Sie müssen Ihren Tisch noch gewaltig vergrößern, ich habe ganz unerwartet liebe Gäste bekommen!«
Die Angekommenen entledigten sich im Vorplatz all der vielen Hüllen und zogen dann mit dem Onkel in den kleinen Salon; dort, wo ein lustiges Kaminfeuer brannte, wurde dem alten Herrn in den verschiedensten Tonarten von der herrlichen, himmlischen, poetischen Fahrt in der Christnacht erzählt, wobei aber einer oder der andere der Herren dazwischen auf die Uhr sah und sich so nebenbei erkundigte, wann wohl die Speisestunde im Hause sei.
Frau Koch draußen in der Küche war einen Augenblick fassungslos:
»Na, da hört sich doch aber alles auf! Eine Viertelstunde vor dem Essen zu sechs einem am Heiligen Abend ins Haus zu fallen und dann nur einfach sagen: »Machen Sie den Tisch größer!« als ob damit alles getan wäre! Ja, um Himmels willen, wie mache ich die Gans größer, und wie den Fisch? Um die ganze Behaglichkeit der Bescherung nachher ist's auch getan, und dabei so reiche, verwöhnte Leute wie dem Herrn Kommerzienrat seine.«
Einen Augenblick lang stockte alles in der Küche, aber dann wäre es das erstemal gewesen, daß Frau Koch wirklich den Kopf verlor. An Gans und Fisch konnte sie freilich nichts hinzuwachsen lassen, aber eine Vorplatte von rasch zubereiteten Schnitzeln konnte man einschieben, das sättigte. Und in der verlängerten braunen Karpfenbrühe machten sich Klößchen nicht schlecht. Also geschwind und sich nicht lange besinnen!
Während die Köchin den Teig rührte, das Zimmermädchen den Tisch vergrößerte und Frau Koch schnell noch sechs kleine Teller, mit Tannenzweigen verziert, richtete – denn ganz leer durfte bei ihr niemand am Heiligen Abend ausgehen – saß Frau Marthe ergeben hinter einem Berg von Salatköpfen, die noch rasch geputzt werden sollten. An ein Fortgehen ihrerseits war in solch drangvollem Augenblick gar nicht zu denken. Aber recht bang und schwer war's ihr ums Herz. Jetzt war's halb acht Uhr, da hatte sie gehofft, schon daheim zu sein. Fast eine Stunde hatte sie in ihr Dorf durch den Wald zu gehen, vor neun Uhr war ja nun gar keine Möglichkeit, daß sie bei den Kindern sein konnte, und was würden die alles inzwischen anstellen! Und dazu war's doch auch Christabend, wo sie ihnen erzählt hatte, sie werde sicher dem Christkindlein im Walde begegnen und ihnen dann etwas Schönes heimbringen. Das Bertele, das doch erst drei Jahre alt war, schlief hoffentlich ein, wie schon manchmal, wo sie's am Boden auf seinen Kissen liegend gefunden. Aber der Fritz, den kannte sie, der wehrte sich gegen den Schlaf, bis sie kam, und heute vollends, wo er das Christkind erwartete, das ihm eine Tafel und einen Griffel bringen sollte, wie den Schulbuben. Alles war recht, wenn nur das Kleine nicht aufwachte. Brav war's ja, obwohl es schon zahnte. Aber wenn's aufwachte, wollte es eben seine Milch … Frau Wacker schnitt in tunlichster Eile die grünen Blätter auseinander und fuhr ordentlich zusammen, als die Köchin sagte:
»Was fällt Ihnen denn nur auch ein, die Herzchen zu zerteilen?« Wahrhaftig, sie hatte etliche davon in Stücke zerschnitten, und schämte sich gewaltig, denn Unpünktlichkeit war ihre letzte Sache. Sie versuchte deshalb, an nichts anderes mehr zu denken als an die Arbeit, auch als ihr nochmals eine tiefe Schüssel voll Kartoffeln zum Schälen hingeschoben wurde.
»'s ist mir leid,« sagte die Köchin, die gutmütig war und sonst Frau Marthe immer zum Fortgehen zur richtigen Zeit verhalf, »aber 's muß halt sein! Ihr Fritzle ist ja so gescheit, der wird schon sorgen, und zum Heimweg gebe ich Ihnen eine Laterne mit, 's fängt an zu schneien.«
»Der Fritz wird schon sorgen.« … Frau Wacker lächelte ganz leise und wehmütig vor sich hin und widersprach nicht. Es freute sie, daß man ihrem Büble so etwas zumutete. Aber seit einiger Zeit war der Fritzle gar nimmer so brav wie seither, es war, wie wenn mit dem Wachsen ein selbständiger Geist über ihn käme, und mit dem Folgen haperte es auch, seit der Vater fehlte. Und wo fehlte der nicht, von da an, wo sie ihn im Sommer gebracht, erschlagen von einer fallenden Tanne. Diese Schatten legten sich wieder auf das Gesicht der jungen Frau, dabei schälte sie mit flinken Fingern Kartoffel um Kartoffel und schnitt sie in feine Rädchen, bis die Schüssel voll und es genug war.
Frau Kochs guter Ruf litt keinen Schaden. Nur wenig später als sonst stand ein wohlgeratenes, reichliches Nachtessen auf dem festlich gedeckten Tisch, und die Besitzerin ging befriedigt nochmals in die Küche, um den Mädchen zu sagen, daß sie nachher, mit frischen Schürzen, sich bereit halten sollten, um auch an der Bescherung teilzunehmen. Da sah sie Frau Wacker an der halb geöffneten Haustür stehen, wie sie eiligst, Kopf und Schultern in ein wollenes Tuch gewickelt, eben ihr Laternchen anzündete, das der hereindringende Wind immer wieder ausblies. Gut war's, daß die Köchin ihr ein ganzes Schächtelchen voll Zündhölzer mitgegeben hatte.
Frau Koch hatte ein peinliches Gefühl. Die Frau in die Nacht, in den wirbelnden Schnee hinausgehen zu lassen, war ihr unerträglich, und sie sagte:
»Sie dürfen heute nicht mehr nach Hause, ich bin überzeugt, die Kinder sind ins Bett gegangen, und wenn Ihr Kleinstes auch einmal ein bißchen schreien muß, so ist's immer besser, als wenn Ihnen etwas passiert. Sie kommen nachher mit zur Bescherung hinein – habe für jedes der Kinder auch etwas beigelegt – und morgen können Sie dann meinetwegen in aller Herrgottsfrühe gehen, und wenn die Dreie aufwachen, ist die Mutter mitsamt den Weihnachtsgeschenken da.«
Frau Koch meinte es gut, und sie war darum fast ein wenig gekränkt, als die sonst so willfährige Frau nur: »Ach nein, ach nein!« rief und dann durch den beschneiten Garten über die Straße in den Wald hinein eilte. Wie ein hüpfender, rotglühender Punkt leuchtete das Licht in der Laterne da und dort noch einmal durch die Bäume. Die Wirtin rief noch nach, Frau Marthe solle sicher in den Festtagen gewiß auch ihr Christgeschenk holen und dann auch die Kleinen mitbringen, aber keine Antwort kam mehr, und kopfschüttelnd ging Frau Koch zurück.
Die dahinwandelnde Frau hatte in der letzten halben Stunde eine fast unerträgliche Angst gepackt, sie wußte selber nicht, warum. Es war schon etliche Male ziemlich spät geworden, bis sie heimkam, sie hatte schon Sturm und Regen und Gewitter im Walde zu bestehen gehabt. Aber zu jener Zeit war das Kleine noch nicht dagewesen, und dann war damals der Vater bei den Großen und hatte sie besorgt, und wenn's nötig, so war er ihr eine Strecke Wegs entgegengegangen und hatte ihr den Korb oder was sie etwa Schweres trug, abgenommen.
»Hast ohnedem zu tragen,« konnte er sagen. Ja, so wie den Jakob, so gab es keinen mehr …
Frau Wacker schritt rüstig aus, soweit es der schlüpfrige Boden und die Wurzeln erlaubten. Der Wind war zwischen den Bäumen weniger zu spüren, den Weg kannte sie ja genau, aber ohne die Laterne wär's schwer gegangen, denn die Nacht war stockfinster. Ob wohl auch noch jemand so wie sie heute abend allein einherlief? Und am letzten Heiligen Abend, da hatte der Jakob schon um sechs Uhr das Bäumlein angezündet, weil er's nicht hatte erwarten können, den Kindern das selbstgemachte Wägelein und ihr das bunte Tuch mit den schönen Fransen zu geben. – Ach was, weg damit! … Frau Marthe wollte nicht weich sein, zu was nützte es auch. Sie mußte jetzt ohnedies die ganze Kraft zusammennehmen, vorwärtszukommen, denn der Weg führte nun aus dem Wald heraus über Wiesen, und die Schneeflocken schlugen ihr mit aller Macht ins Gesicht. War das ein Wetter!
Mit seitlich geneigtem Kopf, das Tuch mit der einen Hand schützend zusammenhaltend, in der anderen die Laterne mit dem unruhig flackernden Lichte tragend, am Arm einen Korb mit Eßvorrat für die Feiertage und die Geschenklein für die Kinder, so kämpfte sie sich vorwärts.
Das Wiesenweglein war verschneit, aber rechts und links war ein Hain, da fand sie schon durch bis zum drübern Wald. Wie furchtbar finster stand er heute da! Frau Wacker stellte einen Augenblick die Laterne zu Boden, um ihr Tuch fester zu knüpfen. Wupp, erlosch das Licht. Und bis sie endlich, mit Anwendung fast aller Zündhölzer, ein neues entfachte und den richtigen Weg wieder unter den Füßen hatte, war über die Frau ein großes Fürchten gekommen. Nicht nur außen, sondern auch innen war alles voll Finsternis. Müde noch von der Geburt der Kleinen her, heimwehkrank, die Last der Ernährung und der Erziehung der drei Kinder vor sich, die Zieler fürs Häuslein, für die der Jakob sonst immer gesorgt, – alles stieg riesengroß vor ihr auf. Und, statt tröstlich, fiel's auf einmal mit Entsetzen über sie: Christnacht ist und damit alles los und ledig, was Böses zwischen Himmel und Erde ist. Das hatte ihre Mutter selig immer schon gesagt. Und dazu die unbehüteten Kinder daheim. Hu, wie die Äste knarrten, hu, wie es knallte in den Bäumen, als ob geschossen würde, und manchmal war's, als ob eine böse Hand blitzschnell ganze Ladungen Schnees ihr auf den Kopf würfe. Aber vorwärts, nur vorwärts! Herrgott, es wird doch auch gewiß der richtige Weg sein? …
Frau Marthes Lippen murmelten ein Vaterunser nach dem andern, und der Angstschweiß brach an ihr aus. Da fiel ihr plötzlich ein, daß sie den Kindern ja selber erzählt hatte, daß das Christkindlein heute durch den Wald gehe, nach dem lieben alten Lied. Und um sich Mut zu machen, sang sie es mit lauter Stimme vor sich hin:
Christkindlein geht durch den Tannenwald,
Vom Himmel der Engelein Lied erschallt:
Halleluja, halleluja im himmlischen Schein,
Gott geleite dich, trautestes Jesulein!
Das Jesulein füttert die Vöglein, das Reh,
Wo es hinkommt, schwindet all Kummer und Weh:
Halleluja, halleluja im himmlischen Schein,
So hilf auch mir, trautestes Jesulein!
Da, war's nicht ein Rufen von kläglichen Kinderstimmen? … Horch, noch einmal? … Aber nein, es war Glockenläuten, was gar nicht so weit entfernt durch das Schneien drang. Und Frau Marthe wußte nun, sie war auf dem richtigen Wege. Der Wald hörte auf, einige ferne Lichter drangen durch die Finsternis, ein Hund bellte. Jetzt nur noch über den kleinen Hügel – der Schnee leuchtete – dann rechts der Apfelbaum – der Zaun – die Haustür – ihr Häuslein – das einzelnliegende weit in der Runde! Nun war alle Müdigkeit vergessen. Den Schnee von sich schüttelnd und leise die Tür aufklinkend, denn schlafen taten die Kinder ja hoffentlich, trat Frau Marthe in die Stube und an die Bettlein.
Leer!
Sie leuchtete im Zimmer herum, lief in die Kammer, schrie die Namen … Nichts! »Wie kann man auch gleich so erschrecken, sie werden beim Schmiedvetter sein.« Frau Marthe nahm wieder die Laterne und rannte der etwa zehn Minuten entfernten Schmiede zu. Die Leute waren eben im Begriff, ins Bett zu gehen.
»Wo sind die Kinder?«
»Welche?«
»Was weiß ich, die werden doch daheim sein, wo sonst?« sagte der schon alte Mann. Und seine noch ältere Frau, ärgerlich über den späten Besuch und über Marthes verzweifeltes Gebaren, meinte:
»Wirst nicht gesehen haben, vielleicht sind sie unters Bett gefallen. Das hat mein Sepp, als er noch ganz klein war, manchmal getan, gelt du?« sagte sie zu einem halbgewachsenen verkrüppelten Jungen, der auf der Ofenbank geschlafen hatte und nun von dem Lärm aufgewacht war. Und sie wollte des langen und breiten erzählen, wie der Sepp allemal gefallen und gelegen und was er sich dabei getan habe. Aber Marthe faßte sie an den Schultern und rief verzweifelt:
»So sagt mir doch um Gottes willen, wo sie sein können, die Kinder? Außer zu euch ist's ja überall zu weit, und das Luisele ist ja auch fort.«
»Getragen haben's die zwei – ich hab's gesehen,« stammelte der Bursche und biß dabei, vergnüglich lachend, an einem Lebkuchenherz herum. Aber als die Base darauf so wild auf ihn losfuhr und ihn beschwor, zu sagen, wann und wo es gewesen, da wurde er mürrisch und zog vor, zu schweigen. Und keine Macht der Welt brachte ihn dazu, einen ordentlichen Satz zu formen. Nur als der Vater ihm drohte, den Lebkuchen zu nehmen, da greinte er und stieß hervor:
»In Wald sind's g'laufen … Christkindle suchen, haben's g'sagt.« Daß das gerade vor Dunkelwerden gewesen, brachte man nur dadurch heraus, daß der Sepp da von einem Gang zum Sägmüller heimgekommen war und die Kinder wohl oben am Waldrand getroffen hatte. Bis dorthin waren an schönen Abenden die Kleinen schon manchmal der Mutter entgegengegangen. Blitzschnell hatte Frau Marthe dies alles überdacht und war dann ohne Gruß davongerannt. Dort oben waren die Kinder, das stand ihr nun fest. Sicher saßen sie auf der Bank im Schnee und warteten – also, um des Himmels willen, nur möglichst rasch zurück. Der Gedanke, daß sie das Kleine auch noch mitgeschleppt hatten, verdoppelte die Angst der Mutter, und als ob sie neue Kräfte gekriegt hätte, flog sie die Böschung wieder hinab und keuchenden Atems auf der anderen Seite hinauf. – –
Die drei Kinder hatten, wie sonst schon manchmal, den Tag miteinander verbracht. Fritz und Bertele wußten genau, was sie zu tun hatten – vor allem brav sein und auf das Schwesterlein achten. Das lag für gewöhnlich ruhig und mit seinen Fingerlein spielend in der Wiege, und wenn sie zu ihm traten, lachte es schon herzig und machte Sprechversuche!
Wenn es schrie, so mußten sie's wiegen, und wenn es gar nicht gut tun wollte, ihm den Lutsch in den Mund stecken, dann schlief's gewöhnlich wieder ein. Um zwölf Uhr kam die lange Liese, die in die Fabrik ging, am Hause vorbei und wärmte ihnen die Suppe und fürs Schwesterlein die Milch, die Mutter bereit gestellt. Die Liese machte das Kleine auch wieder trocken und legte den Zweien die Vesperbrote auf den Tisch mit der jedesmaligen Warnung:
»Daß ihr mir sie aber nicht vor der Zeit eßt!«
Woher die Kinder, die noch gar keine Zeit als ihren Magen kannten, die richtige hätten wissen sollen, daran dachte sie nicht. Meist stand die Magenuhr schon bald nach Tisch wieder auf Vesperzeit, aber das schadete nichts.
Heute waren die Kleinen wirklich ganz besonders brav gewesen, in Gedanken, was das heute abend werden sollte. Bertele zog ihre Puppe ohne Kopf im umgekehrten Schemel unzählige Male im Zimmer auf und ab, wozu Fritz mit großen Sprüngen den Hottogaul machte, und wenn Schwesterlein darüber aufwachte, dann gab's ja den Schnuller. – Ein bißchen vor dem Hause spielen, das durften sie auch, nur mußten sie Mütze und Haube aufsetzen und nicht länger als eine Stunde draußen bleiben. Das war nun auch wieder etwas, wo die Uhr fehlte, aber meist trieb sie die Kälte herein. Dann gab's auch noch herrliche Dinge in einem Kistchen unter der Bank, mit denen man spielte. Bauklötzchen, welche das Vaterle noch geschnitzt, alte Fadenrollen, mit denen man wundervolle Türme und Tore aufstellen konnte, Knöpfe und Bohnen, aus denen man Kränzlein legte, ein Bilderbuch mit allerhand Tieren und Hänsel und Gretel darinnen. Nein, Langeweile hatten die beiden nie, und wenn sie einmal kommen wollte, so balgte und puffte man sich wohl auch ein bißchen, weinte ein bißchen, wenn man sich an eine Ecke stieß, stand wieder auf, wenn man vielleicht irgendwo herunterfiel, und wenn es anfing, dunkel zu werden, so war man das auch gewöhnt. Dann vertrieb man sich die Zeit mit Geschichtenerzählen und Versleinhersagen, schlief wohl auch ein bißchen ein auf der Bank oder zusammengeschnuckelt auf dem Großvaterstuhl. Und dann kam die Mutter!
Heute war sie nun nicht gekommen! Immer und immer wieder hatten die Kinderlein zum niederen Fenster hinaus geschaut und sich die Nasen plattgedrückt an den gefrorenen Scheiben. Immer nur wirbelten die Flocken herunter, und das weiße Samtkissen auf dem Gesims wurde langsam höher.
»Eh's ganz dunkel wird, kommt sie gewiß,« sagte Fritz und machte solch einen Freudenhupf dazu, daß die Knöpfe- und Bohnenkränzlein auf dem Tisch alle untereinanderkugelten und hinunterfielen.
»Aufräumen!« sagte Bertele. Und sie krochen zusammen auf dem Boden herum und lasen sorgsam alles in das Kistlein. Dabei stießen sie die Köpfe aneinander und zankten sich. Das Schwesterchen in der Wiege fing an, ein bißchen mitzuzanken:
»Mbha! mbha! mbha!«
Fritz stieß die Wiege an, und Bertele sagte unvermittelt:
»Ob sie das Christkind im Wald schon begegnet hat?« Und sehnsüchtig blickte es wieder hinaus.
Das Christkind im Walde! Ja, wer das auch sehen könnte! Ob's wohl ganz tief drinnen lief, oder ob man's am Ende auch schon da drüben am Waldrand sehen könnte? – Fritz strengte seine Augen aufs äußerste an. Und richtig, ihm war, als ob was Helles, Weißes im Winde dort flöge.
»Ich sehe nur Schnee,« sagte Bertele, aber Fritzles Phantasie war nun angeregt.
»Flügelein waren's und ein weißes Kleid!« behauptete er fest. Und: »Ich geh' hinüber und seh' mir's an!« sagte er plötzlich in dem bestimmten, fast trotzigen Ton, den Mutter in letzter Zeit so oft an ihm tadelte.
»Das darfst du nicht, Mutterle tät schelten,« sagte Bertele altklug. Als Fritz aber bereits die wollene Mütze über die Ohren zog und fortwollte, da sagte sie: »Dann ich auch!« und holte ihre gestrickte Haube. Aber in dem Augenblick fing das Wickelkind, dessen Mahnen man ganz überhört, energisch an zu schreien, und kein Wiegen, kein Bscht-bscht-machen und kein Schnuller vermochten es zu beruhigen.
»Ich lupf's raus,« sagte Fritz, der dies in letzter Zeit einigemale unter Leitung der Mutter hatte machen dürfen. Er war ja jetzt schon fünfundeinhalb Jahre alt und hatte kräftige Arme. Als aber das Luisle alleweil weiter schrie, ganz aus seiner Ordnung kam und die beiden an ihrem Vorhaben hinderte, da sagte Fritz kurz entschlossen:
»Wir nehmen's halt geschwind mit. Wenn es an die Luft kommt, sagt Mutter, wird's immer gleich wieder ruhig!«
»Aber sein Tüchle überdecken!« mahnte Bertele fürsorglich. Und sie nahm aus der Truhe das weiche bunte Tuch, das Vater der Mutter gegeben, und wickelte Gesichtchen und Händchen ganz nett darein, während Fritz das Kleine, wohl tappig, aber doch fest auf seinen Armen hielt. Dann ging's zu dritt über die Schwelle:
»Adda darf's Luisle – adda!« …
Das Festessen im Waldhause hatte herrlich gemundet, der Punsch war getrunken, und das Automobil stand knatternd und schnaufend bereit zur Heimfahrt.
»Nett habt ihr das gemacht!« sagte der Onkel, und in seinem dankenden Händedruck lag für jeden der Neffen und Nichten auch noch etwas Rundes, Greifbares.
»Da, macht euch eine kleine Freude damit und fahrt mir unterwegs nicht in einen Graben!«
Nochmals mit Danken hin und her und Versicherung, wie herrlich man sich unterhalten habe, setzte sich die Maschine in Bewegung, nachdem der Fahrer seine Befriedigung darüber ausgedrückt, daß das Schneien aufgehört habe. – Noch erregt von dem Genossenen und der famosen Überraschung schwirrten die jugendlichen Stimmen eine Zeitlang durcheinander. Dann wurde es nach und nach stiller, und teils angenehme Müdigkeit, teils aber bei einigen der Insassen wohl auch der Zauber der Christnacht umfing die Fahrenden.
Der Sturm hatte sich gelegt, die Wolken verteilten sich, und da und dort guckten die Sterne auf die Erde.
»Heilige Nacht!« sagte leise das jüngste der Mädchen und sah mit großen Augen in das Himmelsglitzern und über die rechts und links vorüberfliegenden, wie mit Streuzucker beschneiten Tannen hin. Schnurgerade flog das Auto eben auf der von den Scheinwerfern beleuchteten Straße dahin, vielleicht nicht ganz so rasch als sonst ob des frisch gefallenen Schnees. Da, plötzlich ein Hupen, ein Rufen und ein solch jähes, fast rückwärtswerfendes Halten, daß die Fahrenden erschreckt in die Höhe fuhren.
»Was gibt's? Was ist?«
»Ein Hindernis auf der Straße!« erwiderte der Fahrer und stieg aus, um gleich darauf mit einem seltsamen, unförmlichen Pack auf dem Arm zurückzukommen.
»Na, da hört sich doch aber alles auf,« sagte er und rückte das Gefundene in den Schein der Laterne, wo sich unter einem bunten Tuch irgend etwas zu regen begann.
»Ein Wickelkind ist's, wahrhaftig ein Wickelkind, und noch dazu ein lebendiges!« rief er und reichte das Paket in den Wagen.
Was nur das war? – Wo nur das herkam? – Mitten in der Nacht? – Wem das um des Himmels willen gehörte? – Die jungen Mädchen beugten sich voll Teilnahme darüber: »So ein süßes, herziges, kleines Ding!« Und sie besahen sich's voll Teilnahme und nahmen es auf den Arm. Einer der jungen Herren meinte vorsichtig:
»Das einzig Richtige wäre, es liegen zu lassen, die Mutter wird nicht weit davon sein!« Aber entrüstet wiesen dies die Damen ab.
»Wie abscheulich – überfahren hätt's werden können – erfrieren täte es ja ganz sicher, wenn man's daließe,« und: »Irgendein Tier würde es fressen,« meinte das junge Backfischchen und legte wie schützend die Arme um das Kleine und rieb ihm die Fingerchen, die sich, trotz Tuch, recht kalt anfühlten. Der Fahrer aber meinte, er wolle doch ein bißchen herumspähen, von selber könne das Kind doch nicht da hergekommen sein!
In diesem Augenblick drang ein Laut durch die Einsamkeit. Alles lauschte.
»Kinderweinen!« sagte eine der Damen. Und richtig! Gleich darauf liefen zwei Gestältlein – ein größeres voraus, ein anderes jämmerlich schluchzend hinterdrein – über den Weg und blieben dann wie starr vor den zwei großen Lichtern mitten im Wald stehen. Übermächtig war das, und am Ende doch …
Aber dann ging ein gemeinsames Geschrei los, als ein Haufen vermummte Menschen auf sie eindrang, und der Fritzle konnte nur immer wieder mit ganz heiserer Stimme rufen:
»Das Kindle gehört uns, ihr dürft unserem Luisle nichts tun, ihr!«
Und das kleine Mädchen sagte:
»Wir haben's bloß ein bißle hingelegt, weil wir's haben nimmer tragen können, und wir sind nur geschwind dort 'nüber gelaufen, weil wir geglaubt haben, wir hören das Mutterle rufen!«
Beide Kinder brachen nun von neuem in einen solchen Jammer aus, daß es schwer war, herauszubringen, wo sie denn her seien, und erst nach langem Zureden und Versichern, man wolle sie ja gleich heimfahren und zur Mutter bringen, ließen sie sich bewegen, einzusteigen.
»Zehn Minuten Umweg, die müssen wir nun eben machen, wenn wir nicht mit drei Findlingen nach Hause kommen wollen,« sagten die Herren, und das Auto drehte und fuhr dem Dorfe zu.
In der Wärme und unter den guten Worten, vielleicht auch im Gefühl, in solch einem Wunderwagen fahren zu dürfen, tauten die Kinder nun auf und, wenn auch noch unter manchem Schluchzen, vermochten die Fahrenden sich doch nach und nach den Grund der nächtlichen Expedition einigermaßen zurechtzulegen. Bertele sagte:
»Ganz gut hätte der Fritz das Luisle tragen können, der sei stark, wenn nur drüben am Wald das Christkindle gewesen wäre.« Aber nichts sei's gewesen, und so arg kalt auf dem Bänkle, auf dem sie gesessen seien, und dann hätten sie immer ›Mutter‹ gerufen und hätten ihr entgegengehen wollen, aber der Fritzle mit dem Luisle habe nimmer können. Dann seien sie in die Waldhütte ins Heu gesessen und hätten gewartet, und auf einmal hätten sie gehört, wie jemand gesungen habe:
»Christkindlein geht durch den Tannenwald …?«
Da hätten sie wieder ›Mutter‹ gerufen, aber niemand sei gekommen. Und dann sei der Fritzle ein bißchen eingeschlafen.
»Nein, du!« unterbrach dieser mit einem kräftigen Puff. »Und ich auch!« sagte demütig das Bertele und fuhr weiter fort: »Als aber das Luisle hat anfangen zu schreien, sind wir aufgestanden und haben heim wollen, und dann sind wir auf den breiten Weg gekommen, und dann – und dann …« Nun weinten wieder beide, und man mußte froh sein, aus ihnen herauszubringen, daß ihr Vater der verstorbene Waldhüter Wacker gewesen, und ihr Häuslein das letzte im Dorfe sei.
Viel natürlicher als die beiden Großen benahm sich das kleine Luischen, dem die Luft wirklich ›gut zu tun‹ schien, wie die Mutter gesagt. Das lag so wohlig und behaglich im Arm des schönen Fräuleins, guckte in deren freundliche Augen, verzog das Mündchen zum Lachen und griff mit den Fingerchen nach dem wehenden Schleier.
»Grr! … Grr!« …
Wie die Gesellschaft die Kinder ins Waldhäuslein brachte, wie all die Menschen ratlos dastanden, weil die Mutter noch immer nicht daheim, und wie diese, als sie dann, halb tot, dazukam, gar nichts gesagt und nur die Kinder gar nimmer losgelassen habe, das wurde von den jungen Herren und Damen oft und oft wieder erzählt, denn es war doch eigentlich ein wundervolles Weihnachtserlebnis – fast wie in einer Geschichte. –
Daß Frau Marthe aber von der Nacht und was sie bei dem Umherirren empfunden, niemand nachher erzählen wollte, war doch recht schade! Die Köchin von Frau Koch konnte ihr das nie verzeihen, und sie sagte:
»War sie doch wie übersinnig wieder davongejagt, als sie zum zweitenmale, spät nachts, in der Küche erschien und niemand von uns etwas von den Kindern wußte! Wie ein Gespenst hat sie ausgesehen, und wie sie an der Hausglocke schellte, – das vergesse ich meiner Lebtag nicht!«
Und Frau Marthe auch nicht! Brennenden Auges, die hageren Hände gefaltet, lag sie in jener Nacht in ihrem Bett, immer nur wieder dem ruhigen Atmen ihrer Kinder lauschend und »Gottlob – ach, gottlob!« sagend …
Das Bertele hatte am anderen Morgen, als es sich die Sache überdachte, gemeint:
»Du, Mutter, gelt, das ist ein Christkindles-Auto gewesen, in dem wir gefahren sind, denn es hat doch zwei so großmächtige Sterne vorne gehabt?«
Der Fritzle aber, der mit seiner neuen Tafel am Tische saß und dem sein Griffel in die halboffene Schieblade gerollt war, der brachte mit den dicken, braunen Fingerchen etwas Gelbes, Rundes heraus:
»Guck, Mutterle, die schönen glänzenden Knöpfe – wo kommen auch die her?«
Wo sie herkamen?
Die waren die Extrafreude, die sich sechs junge Menschenkinder in der heiligen Nacht gemacht hatten!