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Siebentes Kapitel

In der Tanzschule. – »Gelt, Sie geben mir auf mein Herzblättchen acht?« – Warum die Miezel selig ist und Fritz sagt: »Ich mag nicht mehr!« – Fleißige und müde Kinder. – Warum Herr Bruckmann lobt und der Großvater schweigt.

Eine große Sorge war es Frau Friedemann, daß die Schule unter der neuen Beschäftigung nicht notlitt. Das war ihre Bedingung, ehe sie zugesagt hatte. Aber bei Lenerl konnte davon nicht die Rede sein. Die verstand merkwürdig ihre Zeit auszunützen, und sie lernte ihre Aufgaben, wenn's nötig war, morgens beim Kämmen und Anziehen und unter Umständen sogar hinter den Kulissen zwischen den Pausen. Eine andere Sorge war die, daß die Kinder nun manchmal spät zu Bett kamen; doch das war nicht zu ändern. Am andern Morgen mußten sie doch alle drei früh schon wieder in die Schule, wohin die Miezel jetzt auch ging. Vorerst schien es ja keinem etwas zu schaden.

Die Miezel war selig gewesen, als die Großmutter ihr verkündete, daß auch sie »mittun« und tanzen lernen dürfe. Der Herr Ballettmeister hatte die Kleine für den andern Tag auf fünf Uhr in den Saal der Ballettschule bestellt. Darüber war die Jule ganz trostlos, und als sie erst das Wort »Ballett« hörte, da weinte sie fast und sagte: »Wie können Sie so etwas tun, Frau Friedemann! Ich bin zwar noch nie dort gewesen, aber so viel weiß man doch, daß da lauter leichtfertige und eitle Menschen sind.«

Frau Friedemann widersprach dem zwar, aber im tiefsten Herzen war's ihr dabei doch auch nicht ganz wohl zumute. Wenn sie auch jetzt schon manchen tüchtigen Tänzer und manche gediegene, ihr Brot ehrlich verdienende Tänzerin kennen gelernt hatte, so war ihr im ganzen alles Hupfende, Springende nicht sehr angenehm, auch hatte sie schon manchmal gehört, was für unartige Kinder da hinter den Kulissen seien. Sie übergab deshalb mit Zagen die Kleine dem Fräulein, das in dem Tanzsaal waltete, und legte ihr die Miezel ans Herz.

»Fräulein Balbi, nicht wahr, Sie geben mir auf mein Herzblättchen acht? Und nicht wahr, daß es mir nicht unartig wird? Und nicht wahr, daß es mit keinen bösen Kindern zusammenkommt?«

Das Fräulein, eine der ersten Tänzerinnen, lächelte und sagte beruhigend: »Frau Friedemann, ich glaube, Sie machen sich einen falschen Begriff. Meine Kinder, die ich hier unterrichte, haben gar wenig Zeit zu Unarten, denn es gilt gar tüchtig zu schaffen. Und nachher sind sie so müde, daß sie gern ruhig nach Hause gehen. Was aber die Unartigen anbelangt, so ist's mit diesen kein bißchen anders als in allen anderen Schulen. Hier bei uns wie dort gibt's Brave und Schlimme, Faule und Fleißige, und genau wie dort muß ein jedes Kind danach trachten, zu lernen und tüchtig zu werden.

Frau Friedemann drückte dem Fräulein die Hand und sagte: »Die Kinder sind mir halt anvertraut, weil sie keine Eltern mehr haben, und da nimmt's man noch schwerer, das Nichtige zu treffen. Die Miezel aber ist die Lebhafteste und Wildeste unter ihnen.«

»So was Temperamentvolles können wir gerade brauchen«, sagte Fräulein Balbi vergnügt, nahm das kleine Mädchen bei der Hand und führte es zu den andern Kindern, während Frau Friedemann etwas erleichtert wieder fortging.

Der Fritz und die Miezel haben wirklich acht Tage nachher schon in der »Puppenfee« mitgetan – die Kleine als niedliche Puppe angezogen, die still und unbeweglich lange Zeit dazustehen hatte. So ganz war dies nicht nach Miezels Geschmack gewesen. Der Fritz aber steckte in einer Bärenhaut, mußte Purzelbäume machen und dabei brummen. Das gefiel ihm ganz gut. Aber länger als eine Stunde in diesem furchtbar heißen Anzug zu bleiben, das war keine Kleinigkeit, und als er endlich heraus durfte, sagte er: »Das mach' ich nimmer – das mag ich nicht«, worauf der Diener, der die Knaben an- und auszog, trocken erwiderte: »Das wird man dich fragen!«

Als jedoch die Kinder, jedes mit einem Markstück in der Hand, nach Hause kamen und sich dies in der Woche noch dreimal wiederholte, weil das Stück mehrmals aufgeführt wurde, so war die Freude daheim groß, und von diesem Gelde konnte sofort eine Schusterrechnung bezahlt werden.

Fräulein Balbi und der Ballettmeister, die abwechslungsweise die jungen Ballettschüler unterrichteten, hatten bald ihre größte Freude an ihrer jüngsten Schülerin. Schlank und gewandt, lustig und immer bei der Sache, begriff die Miezel rascher als die andern teilweise viel älteren Mädchen, was zu tun sei.

Aber in einem war die Kleine doch sehr enttäuscht. »Hab' geglaubt, ich dürfte tanzen, und jetzt muß man immerwährend solch dumme Übungen machen!« Und die Übungen waren wahrlich nicht leicht. Es galt, die Glieder der Kinder möglichst geschmeidig zu machen, und dazu mußte täglich mindestens eine Stunde geübt werden. Meist um sechs, wenn die Schulaufgaben gemacht waren, hatte die Kleine sich einzufinden. In einem geräumigen Zimmer, in dem sich Bänke und über ihnen Haken befanden, wechselten die Kinder ihre Kleider. Jedes von ihnen hatte sein Kistchen, in dem sich bunte Trikotbeinkleider mit Leibchen befanden, so daß alle bequem und einheitlich gekleidet waren. Auch die Straßenstiefel mußten mit leichten Schuhen vertauscht werden. Meist kam die Großmutter da schon mit, half der Kleinen und machte dann noch einen kleinen Spaziergang, bis sie selber ihre Tätigkeit begann. Oder sie setzte sich in irgend einen stillen Winkel hinter den Kulissen, nahm ihr Textbuch und bereitete sich vor.

Nachdem die Kinder umgekleidet waren, hatten sie in dem geräumigen Übungssaal anzutreten, wo Herr Bruckmann, der Ballettmeister, schon ihrer harrte und etwaige Entschuldigungen oder Anliegen entgegennahm. Es war eine sehr strenge Ordnung, die hier herrschte. Wer bei einer Probe wegblieb und keine triftige Entschuldigung hatte, bekam Strafe, genau wie in der Schule.

»Wer fehlt?« – »Wo ist deine Schwester?« – »Wo warst du gestern?« so lauteten die strengen Fragen, und ein scharfer Verweis erfolgte, wo keine genügende Antwort gegeben werden konnte. An den Wänden des Saales hingen viele Bilder von berühmten Tanzkünstlern und -künstlerinnen. Obenan befand sich ein erhöhter Sitz, von dem aus der Ballettmeister die größeren Aufführungsproben leitete. Jetzt aber galt es zuerst ganz einfache Arm- und Beinbewegungen zu machen. Die Kinder stellten sich der Reihe nach an den um den ganzen Saal herum angebrachten Stangen auf, die ihnen als Stütze dienten. Und nun wurde kommandiert: »Stellung!« – »Aufstampfen!« – »Fertig!« Und dann: »Hände an die Hüften!« – »Fersen zusammen!« – »Eins – zwei – drei – vier!« – »Was machst du denn?« – »Ist das eine richtige Haltung?« – »Aufrecht!« – »Wie stehst du wieder da?« – »Kannst du nicht auf das Kommando achten?« »Kehrt!« – »Stellung!« –

Eine kleine Pause trat ein. Die Kinder durften einen Augenblick ausschnaufen; einige von ihnen reckten ihre Glieder und fingen an lässig zu werden. Ein paar der Kleinsten pufften sich und begannen zu streiten, aber ein ernster Blick des Meisters brachte sie sofort wieder in Ordnung, und wieder begann die Übung, und wieder mußten Arme und Beine die immer schwerer werdenden Bewegungen machen. Das Miezel hatte am Anfang gar viel zu gucken, und es überhörte verschiedene Male das Kommando des Lehrers.

»Aufpassen, Kleine – immer nur das nachmachen, was die andern tun!«

Ein paarmal versuchte sie auch zu sagen: »Jetzt habe ich genug!« was aber gänzlich überhört wurde.

Eine Abwechslung gab's, als Fräulein Balbi hereintrat, die bei den nun beginnenden schweren Übungen der Kinder mitunterrichtete. Im schlichten, schwarzen Nock mit Heller Bluse sah sie so ganz anders aus als des Abends in schimmernden, glitzernden Gewändern.

»Grad wie meine Lehrerin in der Kinderschule!« schilderte die Miezel daheim. Und gerade wie diese ging Fräulein Balbi im Kreise herum, den die Kleinen nun bildeten. Sie achtete auf den richtigen Abstand der Kinder, half ihnen die Arme in die gegebene Richtung bringen, tanzte ihnen ein paar Schritte vor, und mit »Hopp, eins, zwei, hopp, zwei, drei!« bewegten sich die Gruppen in geflügelter Weise durch den Saal, manchmal unterbrochen von Herrn Bruckmanns Zwischenrufen, der auf das Ganze achtete. Nun aber kamen die schwereren Sachen.

Wie in einem Stern, die Füße gegen die Mitte gerichtet, mußten die Kinder sich in Rückenlage auf den Boden legen. Da wurden die Beine gestreckt, die Knie gebogen, Aufrichtübungen ohne Hilfe der Hände gemacht. Und zuletzt hatten sich die Kleinen stehend rückwärts so zu biegen, daß sie womöglich mit dem Hinterkopf den Boden berührten. Das war nun sehr schwer, und es gab manches Au! und Ach! Aber Herr Bruckmann ließ das nicht aufkommen, und ein kleines Mädel fing leise an zu weinen.

»Was fällt dir ein? Schnell aufhören! So etwas gibt's nicht!« Und die Kleine bezwang sich wirklich und schluckte ihre Tränen auf bewunderungswürdige Weise.

Miezel kam das alles recht sonderbar vor. Als sie ein paarmal mitgemacht hatte, war's ihr langweilig, und sie äußerte dies auch frischweg. Da gab's aber zum ersten Male ein ernstes Wort von Herrn Bruckmann: »Dies Wort gibt's hier nicht! Wenn man arbeitet, hat man nie Langeweile, und ihr müßt alle fest und scharf arbeiten, um einmal etwas Schönes leisten zu können! Man kann nur dann gut tanzen, wenn der Körper ganz geschmeidig ist!«

»Aber wenn man halt müde ist?« wagte Miezel noch zu sagen und machte dabei ihre Lieblingsbewegung von einem Bein auf das andere, aber diesmal nicht lustig hüpfend wie sonst, sondern weil die Beine sie schmerzten.

Da strich Fräulein Balbi ihr über die blonden Locken und sagte freundlich: »Wirst noch manchmal müde werden, Miezel, aber das tut nichts. Wir alle sind es oft tüchtig. Wir dürfen's uns nie merken lassen!«

Als aber dann zum Schluß die Kinder noch ganz kurz tanzen durften, da wurde die Kleine wieder lustig und lebendig und hüpfte, ohne es noch gelernt zu haben, so taktfest mit, daß Herr Bruckmann zu der Dame sagte: »Die Neue hat großes Talent – in der habe ich mich nicht getäuscht!«

Als die Miezel nach der ersten Probe zum Großvater und zu Jule hinüberkam, erzählte sie ihnen mit großer Lebhaftigkeit, wie's gewesen, und wieder nach ein paar Tagen wußte sie zu berichten, der Herr Ballettmeister habe gesagt, wenn sie so fortmache, so dürfe sie in der nächsten Woche schon ganz allein einen kleinen Tanz aufführen. Der Großvater und Jule waren merkwürdig still bei diesen Erzählungen ihres kleinen Lieblings, denn die ganze Sache behagte ihnen gar nicht. Sie grollten auch Frau Friedemann ordentlich, daß sie darauf eingegangen sei. Und an dem Abend, an dem Miezel wirklich zum ersten Male, als winzig kleine Bäuerin mit einem roten Regenschirm und einem Korb am Arm, aufzutreten hatte und ihren kleinen Solotanz aufführte, da dankte Jule, wenn auch freundlich, so doch mit kurzen Worten, als die Großmutter ihr eine Eintrittskarte dazu anbot.

»Mag's lieber nicht sehen, und wenn unser Miezel nachher dadurch recht eitel geworden ist, so werd' ich's leider bald genug von selber merken.«

Der Großmutter wurde das Herz schwer; sie selber hatte ja ganz tief im Herzen auch diese Angst – viel mehr für die Kleine als für das alles so ernst nehmende Lenerl. Aber als Fräulein Balbi, die sie vorher noch sprach, ihr sagte: »Die Miezel denkt nicht daran, ob sie gefallen wird oder nicht. Die tanzt nur aus hellem Vergnügen darauf los, und ob die Menschen sie loben oder nicht, das macht auf sie vorderhand noch gar keinen Eindruck«, da stieg Frau Friedemann beruhigt in ihren Souffleurkasten, und sie konnte sich dann auch herzlich daran freuen, wie frisch und lustig das kleine Bauernmädel darauf los hopste und mit einer etwas älteren, als Bub verkleideten Schülerin sich wendete und drehte.

Ein schallender Beifall ging durch das Haus, und die Miezel knickste und lachte ganz vergnügt und unbefangen, als Herr Bruckmann sie allemal wieder aus den Kulissen vorschob.

»Wickeln Sie unser kleines Bühnenmitglied nur warm ein, daß es sich nicht erkältet!« sagte er zu Frau Friedemann, als diese die Kleine nach Schluß der Vorstellung in Empfang nahm. Lenerl war auch im Theater gewesen, diesmal ganz allein, oben an dem verborgenen Plätzchen, während Fritz auch wieder einen der Bauernbuben auf der Bühne darstellte und bei einer kleinen Rauferei mittat. Ziemlich spät, aber umso behaglicher, fanden sich dann alle zusammen daheim bei warmer Suppe und Butterbrot, und besonders die Miezel ließ es sich herrlich schmecken. Das einzige, was wirklich Eindruck an diesem Abend auf sie gemacht hatte, war das, daß Herr Bruckmann zu ihr gesagt hatte: »Ich lobe dich, hast's recht gemacht!«

»Weißt, Großmutterl, loben tut er eigentlich einen nie, deshalb freut's mich so.«

Fritz allein saß unlustig und einsilbig dabei, und als die Großmutter ihn fragte: »Wie ist's denn dir ergangen, Büble?« da sagte er fast trotzig: »Nicht recht hätt' ich's g'macht, haben sie nachher gesagt. Und gezankt bin ich worden, weil ich wirklich ein bissel g'rauft hab' und hätt' doch nur so tun sollen. Wenn's so ist, daß man alleweil anders ausschauen soll, als man ist, und was anders tun, als man mag, so ist mir die ganze Geschichte dort hinten verleidet, und wenn nicht die Kulissen mit den schönen Bildern wären und all die Räder und Maschinen, so möcht' i am liebsten nimmer mittun!« Fritz hatte gleichfalls Stunden in einer Ballettabteilung. Aber der Lehrer dort bezeigte keine große Freude an ihm, und ein paarmal war's schon vorgekommen, daß der Bub Zeit und Ort ganz vergessen hatte und bei den Arbeitern oder Malern stehen geblieben war, um denen zuzuschauen.

Für heute abend beeilte sich die Großmutter, die Kinder zu Bett zu bringen, und sie freute sich, wie schnell auch die Miezel fest und ruhig eingeschlafen war.


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