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Als Arthur Philippson seinen Vater verlassen hatte, um sich an Bord eines Kahnes zu begeben, der ihn über den Rhein tragen sollte, nahm er nur wenig Rücksicht auf seine eigenen Bedürfnisse, da er des Glaubens war, daß sie nur auf kurze Zeit voneinander getrennt sein würden. Ein paar Kleider und eine Handvoll Goldstücke war alles, was er vom gemeinsamen Vorrat für sich abnahm; das übrige Gepäck sowie alles Geld ließ er mitsamt dem Saumtier zurück. Als er sich samt seinem Pferde und seinem leichten Bündel auf das Fährboot begeben hatte, richtete dieses sogleich seinen Mast, breitete seine Segel aus, und vom Winde getrieben, fuhr es in schräger Richtung über den Rhein nach dem Dorfe Kirchhof. Die Ueberfahrt ging so gut von statten, daß sie das jenseitige Ufer nach wenigen Minuten erreichten.
Arthur entschloß sich, nicht in Kirchhof zu verweilen, sondern so schnell wie möglich seinen Weg nach Straßburg fortzusetzen und, wenn Dunkelheit ihn zwänge anzuhalten, in einem der Dörfer oder Flecken zu übernachten, die er auf seiner Reise an der deutschen Seite des Rheins vorfinden würde. Zu Straßburg, so hoffte er in dem feurigen Geiste, der der Jugend eigen ist, würde er seinen Vater wiederfinden; und vermochte er auch nicht sogleich alle Bekümmernis über ihre Trennung zu unterdrücken, so nährte er doch die fröhliche Zuversicht auf glückliches Wiedersehen.
Arthur erfreute sich an den in diesem Teile herrlichen Landschaften des Rheins, bis das erblassende Tageslicht ihn daran erinnerte, daß ein allein reisender Jüngling, der wertvolle Gegenstände bei sich führte, besser daran täte, eine Nachtherberge zu suchen. Er hatte eben den Entschluß gefaßt, bei den nächsten Wohnungen den Weg zu einem Gasthaus zu erfragen, als er plötzlich ein unerwartet schönes Landschaftsbild vor Augen hatte. Umrahmt von hohen Bäumen, lag eine Wiese vor ihm. Sie war von einem breiten Gewässer durchflossen, das in den Rhein mündete.
Dieses Gewässer umspülte ein halbes Stündlein weiter eine felsige Anhöhe, die mit Seitenwällen und gotischen Türmchen geziert war – den Teilen einer Ritterburg ersten Ranges. Das ebene Land am Ufer des Flusses war zum Teil mit Weizen bepflanzt, von dem nur noch die Stoppeln standen, zum Teil war es eine weite Wiesenfläche. Ein Bursch in ländlicher Kleidung war beschäftigt, mit Hilfe eines abgerichteten Wachtelhundes Rebhühner zu jagen, während eine junge Frauensperson, anscheinend die Zofe einer Edeldame, auf dem Stumpfe eines abgestorbenen Baumes saß und diesem Treiben zuschaute. Der Wachtelhund, dessen Amt es war, die Rebhühner unter das Netz zu treiben, ließ davon ab, als er den Fremden erblickte, und hätte seine Aufgabe ganz vergessen, wenn nicht das Mädchen sich unserm Arthur genähert und ihn gebeten hätte, etwas mehr zur Seite zu reiten, um ihnen das Vergnügen nicht zu stören.
Willig erfüllte der Reisende ihre Bitte. – »Ich will reiten, schönes Mädchen,« sagte er, »so weit weg es Dir gefällt. Zum Ersatz dafür erlaube mir zu fragen, ob das Gebäude dort ein Kloster, eine Burg, oder sonst eine Wohnung guter Menschen ist, wo ein Fremder, der sich verspätet hat und müde ist, auf eine Nacht Gastfreundschaft finden kann?«
Die Dirne, deren Gesicht er bis jetzt noch nicht deutlich gesehen hatte, schien ein Gelüst zum Lachen zu unterdrücken, indem sie erwiderte: »Sollte jene Burg denn keinen Winkel haben, der einem Fremden Obdach bieten könnte? Ich selbst gehöre zur Besatzung jener Burg, und gewiß werdet Ihr Euch vor solch einem Soldaten fürchten. Ich bürge Euch dafür, daß Ihr Aufnahme findet. Doch da Ihr mich in so kriegerischer Weise anredet, so werde ich, wie es unter Bewaffneten üblich ist, mein Visier herunterlassen.«
Indem sie dies sagte, verbarg sie ihr Antlitz unter einer der Halblarven, die zu jener Zeit viel von Frauen getragen wurden, wenn sie sich außer dem Hause befanden, teils um den Teint zu schützen, teils um sich vor zudringlichen Beobachtern zu sichern. Allein, ehe sie dies zustande bringen konnte, hatte Arthur bereits die schalkhaften Mienen Anneli Veilchens entdeckt, eines Mädchens, das er als Dienerin Annas von Geierstein kennen gelernt hatte. Sie war eine kecke Dirne, stets bereit, zu lachen, zu scherzen und mit den Jünglingen des Landammanns, in dessen Familie sie sehr lieb und wert gehalten wurde, ihre Neckereien zu treiben. Dies fiel nicht sonderlich auf, indem die Sitten der Berggegenden zwischen Herrin und Dienerin wenig Unterschied machen.
Arthur selbst war sehr aufmerksam gegen Anneli Veilchen gewesen, da er bei seiner Leidenschaft für Anna von Geierstein natürlich von Herzen wünschen mußte, sich die gute Meinung ihrer Zofe zu sichern, was er durch kleine Geschenke an Schmuck und Kleidungsstücken, wie sie jede Zofe gern annimmt, mit Leichtigkeit erreicht hatte.
Das Bewußtsein, sich in Anna von Geiersteins Nähe zu befinden, die Hoffnung, vielleicht die Nacht mit ihr unter einunddemselben Dache zuzubringen, worauf des Mädchens Anwesenheit und ihre Aeußerungen deuteten, ließen das Blut rascher durch Arthurs Adern kreisen. Voll Verlangens, von Annas Verhältnissen soviel wie möglich aus Annelis Munde zu vernehmen, ließ er die Zofe nichts von seiner Freude merken und tat so, als habe er sie noch nicht erkannt. Er war entschlossen, zu warten, bis sie selbst es für gut finden würde, die Maske abzulegen.
Während diese Gedanken ihm rasch durch den Kopf fuhren, befahl Anneli dem Burschen, die Netze einzuziehen, zwei der besten und fettesten Rebhühner von der Brut zu nehmen und sie in die Küche zu schaffen, die übrigen aber wieder in Freiheit zu setzen. – »Ich muß für ein Abendessen sorgen,« sagte sie zu dem Reisenden, »da ich unerwartete Gesellschaft heimbringe.« »Ich möchte Deiner Herrin keine Ungelegenheiten verursachen,« antwortete Arthur. – »Schau, schau!« sagte Anneli Veilchen; »ich habe nichts von einem Herrn und einer Herrin gesagt, und dieser arme verirrte Reisende hat schon bei sich selbst ausgemacht, daß er in der Wohnung einer Dame Herberge finden werde!« – »Wie? sagtest Du mir nicht,« sprach Arthur etwas verwirrt, sich verschnappt zu haben, »daß Du eine Person zweiter Bedeutung in der Burg wärest? Doch wie heißt dieses Schloß?«
»Die Burg führt den Namen Arnheim,« sagte das Mädchen. – »Eure Besatzung muß bedeutend sein,« sagte Arthur, indem er das weitläufige Gebäude anblickte, »so Ihr imstande seid, solch ein Labyrinth von Mauern zu bemannen.« – »In diesem Punkt,« versetzte Anneli, »sind wir schlimm beraten, wie ich gestehen muß. Jetzt verbergen wir uns mehr in der Burg, als daß wir sie bewohnen, und doch ist sie mehr als geschützt durch das Gerücht, das von ihr im Umlauf ist und jeden abschreckt, der ihre Ruhe stören möchte.« – »Und dessen ungeachtet wagt Ihr, darin zu wohnen?« fragte der Engländer, der sich dessen erinnerte, was Rudolf von Donnersberg ihm einst von dem Freiherrn von Arnheim und dem düsteren Schicksale seiner Familie erzählt hatte.
»Vielleicht,« versetzte seine Führerin, »haben wir Mittel in Händen, dem uns angedichteten Schrecken zu widerstehen – vielleicht auch haben wir keinen besseren Zufluchtsort finden können. Das scheint auch Euer Geschick zu sein, Herr, denn die Spitzen der fernen Hügel verschwinden schon in der Dunkelheit, und wenn Ihr nicht auf Arnheim befriedigt oder unbefriedigt einkehrt, so möchtet Ihr Gefahr laufen, in der nächsten Stunde keine andere Herberge zu finden.«
Während sie dies sprach, trennte sie sich von Arthur, indem sie den Vogelsteller, der sie begleitete, mit sich nahm und mit ihm einen steilen, jedoch kurzen Fußpfad einschlug, der gerade hinauf zur Burg führte. Dem jungen Engländer hatte sie die Weisung gegeben, einer Spur von Pferdehufen zu folgen, die auf einem weitern, doch bequemeren Wege zu demselben Ziele führte,
Arthur machte bald Halt vor dem südlichen Eingange der Feste Arnheim, die ein weit größeres Gebäude war, als er es sich aus Rudolfs Beschreibung vorgestellt hatte. Es war zu verschiedenen Zeiten daran gebaut worden, und ein bedeutender Teil war weniger im streng gotischen, als vielmehr im sogenannten maurischen Stil errichtet. Diese seltsame Feste trug zwar im allgemeinen Spuren der Verwüstung und Zertrümmerung; allein Rudolf von Donnersberg war falsch berichtet, als er erzählte, sie wäre in Ruinen zerfallen. Im Gegenteile trug man, als die Burg in die Hände des Kaisers fiel, Sorge, das Gebäude in gutem Zustande zu erhalten, und es wurde von Zeit zu Zeit von einem Beauftragten des kaiserlichen Kanzlers regelmäßig besichtigt. Der Besitz des Grundgebietes um die Burg her war wertvoller Ersatz für die Bemühungen dieses Abgeordneten, der es sich deshalb angelegen sein ließ, die Einkünfte daraus nicht durch Vernachlässigung seiner Pflicht zu verscherzen. Vor kurzem war dieser Beamte an den Hof gerufen worden, und nun traf es sich, daß die junge Freiin von Arnheim in den verödeten Türmen ihrer Vorfahren einen Zufluchtsort gefunden hatte.
Das Schweizer Dirnchen ließ unserm jugendlichen Reisenden nicht Zeit, die Außenseite des Schlosses genau in Augenschein zu nehmen oder die Bedeutung der dem Anscheine nach morgenländischen Sinnbilder und Inschriften zu entziffern, die sich auf dem Mauerwerk befanden. Arthur hatte kaum einen flüchtigen Blick auf das ganze Gebäude geworfen, so rief ihm auch schon das Mädchen von einem Mauerwinkel herab zu, von dessen Vorsprung ein langes Brett über einen ausgetrockneten Graben führte, »Habt Ihr Eure Schweizer Lehrstunden schon wieder vergessen?« sagte sie, als sie bemerkte, daß Arthur ziemlich furchtsam über die schwankende und äußerst schmale Brücke daherschritt.
Der Gedanke, daß Anna von Geierstein dieselbe Bemerkung machen möchte, verlieh dem jungen Reisenden die nötige Beherztheit. Er schritt über das Brett mit eben dem kalten Blick, womit er gelernt hatte, die weit fürchterliche Klippe neben den Trümmern des Geiersteins zu betreten. Kaum war er in der Burg angelangt, so nahm Anneli ihre Larve ab und bewillkommte ihn in ihrem und im Namen alter Freunde mit neuem Namen auf deutschem Boden.
»Anna von Geierstein,« sagte sie, »ist nicht mehr; allein Ihr sollt sofort die Freiin von Arnheim erblicken, die ihr außerordentlich ähnlich sieht, und ich, die ich im Schweizerlande Anneli Veilchen, die Magd einer Jungfrau war, die eben nicht höher geschätzt war als ich, bin jetzt die Zofe jener Freiin und weiß meinem Stande Ehre zu machen.« – »So sage Deiner jungen Herrin,« erwiderte der junge Philippson, »als ich mich dieser Feste nahte, hatte ich keine Ahnung, daß sie darinnen weilte, sonst hätte ich mich ihr nicht aufgedrängt.« – »Weg, weg!« versetzte das Dirnchen lachend, »ich weiß was Besseres zu Eurem Vorteile zu sagen. Ihr seid nicht der erste arme Mann und Handelskrämer, der die Gunst einer vornehmen Dame gewann. – Doch wenn Ihr von Entschuldigungen und ahnungslosem Eintritt schwatzt, erreicht Ihr gar nichts. Von Liebesglut will ich ihr erzählen, die der ganze Rheinstrom nicht löschen kann, und die Euch hierher trieb, indem Ihr keine andere Wahl hattet, als entweder hieher zu kommen oder zu sterben.«– »Nicht doch, Anneli, Anneli!« – »O, was Ihr für ein Narr seid – macht einen kürzeren Namen daraus, ruft Anna! Anna! und Ihr habt mehr Aussicht auf Antwort!«
Mit diesen Worten rannte die wilde Dirne weg, entzückt über den Gedanken, daß sie es trefflich eingefädelt hätte, zwei Liebende zusammengeführt zu haben, die schon die Trennung auf ewig befürchtet hatten. In dieser selbstzufriedenen Stimmung hüpfte Anneli eine kleine Wendeltreppe hinan – zu einem Kabinett oder Ankleidegemach, wo sich ihre junge Gebieterin befand, rief mit lachendem Munde: »Anna von Gei – – Fräulein, wollt ich sagen, sie kommen, sie kommen!«
»Die Philippsons?« fragte Anna halb atemlos. – »Ja – nein –,« versetzte die Dirne, »doch ja; denn der Beste ist gekommen, nämlich Arthur.« – »Was sprichst Du, Mädchen? Ist der Vater nicht bei seinem Sohne?« – »Nicht doch,« sagte die Veilchen, »auch habe ich gar nicht daran gedacht, nach ihm zu fragen. Er war eben nicht mein Freund, denn er hatte immer nur Sprichwörter im Munde und Sorge auf der Stirn.« – »Ungefällige, unbedachtsame Dirne! Was hast Du angerichtet?« fragte Anna von Geierstein. »Befahl ich Dir nicht angelegentlich, beide hieher zu führen; und nun hast Du den jungen Mann allein hieher zu uns in diese Einsamkeit gebracht? Was wird – was kann er von mir denken?«
»Ei, was hätte ich denn tun sollen?« versetzte Anneli. »Er war allein; hätte ich denn ihn hinabschicken sollen ins Dorf, daß die Landsknechte des Rheingrafen ihn erschlügen? Traun, ist doch alles Fisch, was ihnen ins Netz läuft, und wie sollt' er sich durch dieses Land finden, das mit umherziehenden Reisigen, Raubrittern und schurkischen Welschen angefüllt ist?« – »Still! Laß uns erwägen, was zu tun ist. Um unseretwillen, um seinetwegen muß dieser junge Mann sogleich die Burg verlassen.« – »So mögt Ihr ihm diese Botschaft selbst überbringen, Anna – um Verzeihung, hochedles Fräulein – es mag sich wohl für eine Edeldame besser schicken, dergleichen Bescheid zu erteilen, wie es wohl in den Romanzen der Meistersänger vorzukommen pflegt; allein für ein offenherziges Schweizermädchen ist solcher Auftrag nicht geeignet. Jetzt aber keine Torheit mehr! sondern bedenkt, wenn Ihr auch ein hochgeborenes Fräulein von Arnheim seid, so wurdet Ihr doch im Schoße der Schweizerberge erzogen und solltet Euch wie ein Mädchen mit biederem Herzen und freiem Sinn benehmen. Hört mich an!«
»So rede denn,« sagte Anna, indem sie schmollend das Gesicht abwendete, um der Zofe zuzuhören; »allein hüte Dich, daß Du nichts sagst, was ich nicht anhören darf.« – »Ich will natürlich und vernünftig sprechen, und wenn Eure edlen Ohren das nicht hören und verstehen mögen, so liegt die Schuld an den Ohren, nicht aber an meiner Zunge. Schaut! Ihr habt diesen jungen Mann zweimal aus großer Gefahr errettet – einmal bei dem Erdsturz auf Geierstein, ein anderesmal heut, wo sein Leben bedroht war. Und rund heraus, er ist ein hübscher Mann und wohl geeignet, einer Dame Gunst zu verdienen. Bevor Ihr ihn saht, waren die Schweizer Jünglinge Euch mindestens nicht verhaßt. Ihr tanztet mit ihnen – Ihr scherztet mit ihnen – Ihr wart der allgemeine Gegenstand ihrer Bewunderung – und Ihr hättet, wie Ihr recht wohl wißt, im ganzen Kanton die Wahl haben können, ja sogar Rudolf von Donnersberg hätte Euer Liebster werden können.« – »Niemals, niemals!« rief Anna von Geierstein. – »Seid Eurer Sache nicht so überaus gewiß, mein Fräulein! Hätte er sich nur gehörig bei dem Ohm zu empfehlen gewußt, so würde er in irgend einem günstigen Augenblicke wohl die Nichte gewonnen haben. Aber seitdem wir diesen jungen Engländer kennen lernten, nimmt man an Euch geradezu Geringschätzung, Verachtung und bisweilen etwas dem Hasse Aehnliches gegen alle die Männer wahr, die Ihr sonst recht wohl leiden konntet.«
»Wart nur, ich will Dich,« sagte Anna, »noch mehr als irgend einen von ihnen hassen und verabscheuen, wenn Du mit Deinem Geschwätze nicht bald zu Ende kommst.« – »Edles Fräulein, laßt uns langsam, sanft und freundlich weitergehen. Aus all dem geht hervor, daß Ihr den jungen Mann liebt, und mögen diejenigen, die an der Sache etwas Wunderbares finden, sagen, daß Ihr unrecht habt. Es läßt sich gar vieles dafür, nichts aber dagegen sagen.« – »Wie, törichtes Mädchen! Meine Geburt verbietet mir, einen Mann von geringer Herkunft zu lieben – mein Stand verbietet mir, einen armen Mann zu lieben – meines Vaters Gebot befiehlt mir, nur mit seiner Zustimmung zu wählen – vor allem aber verbietet mir mein Mädchenstolz, meine Neigung jemandem zuzuwenden, der sich aus mir nichts macht, – ja, der vielleicht völlig gegen mich eingenommen ist.«
»Das ist ein schöner Grundtext,« sagte Anneli, »aber ich kann jeden Satz darin ebenso leicht widerlegen, wie der Pater Franziskus seine Textworte in einer Festtagspredigt zu entwickeln versteht. Eure Geburt ist ein törichter Traum, den Ihr seit zwei oder drei Tagen erst hegt, denn seitdem Ihr deutschen Boden betreten habt, begann etwas von dem alten deutschen Unkraute, Familienstolz genannt, in Eurer Brust zu keimen. Denkt über solche Torheit so, wie Ihr darüber dachtet, als Ihr zu Geierstein als vernünftiges Mädel lebtet, und dies gewaltige Vorurteil wird in nichts versinken. Was den Stand betrifft, so dünkt mich, Ihr versteht darunter Vermögen. Nun, Philippsons Vater, der freigebigste Mann von der ganzen Welt, wird seinem Sohne gewiß soviel Goldstücke geben, daß Ihr Euch eine Meierei pachten könnt. Ihr versteht die Wirtschaft, und Arthur kann schießen, jagen, fischen, pflügen, eggen und ernten. Drum geht hinab in das Gemach, redet mit Eurem Liebsten oder laßt ihn zu Euch reden; laßt Eure Hände zusammengehen, zieht ruhig als Mann und Weib gegen Geierstein und bringt alles in Bereitschaft, Euren Ohm bei seiner Rückkehr zu empfangen. Das ist der Weg, den eine schlichte Schweizerdirne einschlägt, um dem Roman einer deutschen Freiin ein Ende zu machen.«
»Dein Plan ist nichtig, Dirne,« sagte Anna, »ist der kindische Traum eines Mädchens, das vom Leben weiter nichts weiß, als was es hinter der Milchbutte darüber vernommen hat. Bedenke, daß mein Ohm von jedem Kinde den weitgehendsten Gehorsam fordert, und daß ich durch eine Handlung gegen meines Vaters Willen mir seine gute Meinung verscherzen würde. Warum bin ich sonst hier? Weshalb hat er der Aufsicht über mich entsagt? Und warum bin ich genötigt, die Sitten abzulegen, die mir so wert sind, und mich Gebräuchen zu unterziehen, die mir fremd und lästig sind? Was den jungen Mann betrifft, so hätte ich ihn wohl lieben können. Er wäre dessen wert, ich will's nicht leugnen, sein Betragen gegen mich war jederzeit ehrenwert und aufrichtig – hätte nicht ehrerbietiger, nicht rechtschaffener sein können. Aber,« hier legte das Fräulein die Hand an die Stirn, und Tränen flossen zwischen ihren zarten Fingern hindurch, »er hat noch nie von Liebe zu mir gesprochen. Wenn er mich wirklich liebt, so hält ihn gewiß ein unüberwindliches Hindernis ab, sie zu gestehen.«
»Ein Hindernis?« fragte die Schweizer Zofe und setzte hinzu: »irgend ein törichter Begriff von Eurer Geburt, als stündet Ihr zu hoch für ihn – irgend eine kindische Verschämtheit – irgend ein Traum von übertriebener Bescheidenheit – das werden die Hindernisse sein. Diese Verblendung wird durch eine einzige Ermutigung schwinden, und dieses Geschäft will ich, teuerste Anna, um Euch das Rotwerden zu ersparen, über mich nehmen.« – »Nein, nein, um Himmels willen, Anneli!« rief die Freiin, »Du kannst gar nicht wissen, was es für Hindernisse sind, die es ihm verbieten, an das zu denken, was Du gern befördern möchtest. Ich bin fest überzeugt, diese Philippsons sind Männer von Stande, denn ihre Sitten, ihr Benehmen sind weit über ihr scheinbares Gewerbe erhaben. Der Vater ist ein Mann von tiefem Beobachtungsgeiste, von hohen Gesinnungen und von einer Freigebigkeit, die sich kein Handelsmann erlauben könnte.«
»Das ist wahr,« sprach Anneli, »denn ich muß sagen, die Silberkette, die er mir schenkte, ist zehn Krontaler wert, und das Kreuz, das Arthur mir dazu gab, soll noch mehr wert sein. Doch was dann weiter? Die Philippsons sind also reich und vornehm wie Ihr. Um so besser!« –
»Ach, Anneli, Du weißt nicht, wie oft es unter Leuten vornehmer Geburt Brauch ist, ihre Kinder schon von der Wiege ab mit dem Kinde eines andern Adeligen zu verloben. Was denn, wenn der Vater Philippsons in seiner Heimat ein Mann von hohen Würden ist und seinen Sohn aus diplomatischen Rücksichten schon zum Gatten eines englischen Edelkindes ausersehen hat? Und welchen andern Grund, als daß er schon versprochen ist, sollte die Zurückhaltung des jungen Mannes haben?« – »O weh, Fräulein,« antwortete Anneli. »Was ist dann zu tun? Ich habe diesen jungen Mann hierhergeführt, indem ich, Gott weiß es, Eurem Zusammentreffen einen glücklicheren Ausgang wünschte. Allein es ist klar, Ihr könnt ihn nicht heiraten, wenn er Euch nicht zur Ehe begehrt. Trotzdem dürfen wir ihn aber jetzt nicht wieder ziehen lassen, er könnte gar leicht den Kehlabschneidern des Rheingrafen in die Hände fallen.«
»So mag der Willibald ihn hereinführen, und Du sorge dafür, daß es ihm an nichts fehle. Es ist am besten, wenn ich ihn nicht sehe.« – »Gut,« sagte Anneli; »was soll ich aber Euretwegen sagen? Unglücklicherweise ließ ich ihn wissen, daß Ihr hier wäret.« – »O, unverständiges Mädchen! Doch wie sollt' ich Dich tadeln,« sagte Anna von Geierstein, »da der Unverstand auch auf meiner Seite so groß war? Ich selbst habe mir das eingebrockt, indem ich mich in Gedanken zu sehr mit dem jungen Mann und seinen Vorzügen beschäftigte. Doch nun will ich diese Torheit besiegen und trotzdem die Pflichten der Gastfreundschaft erfüllen. Fort, Anneli, laß Erfrischungen besorgen! Du sollst mit uns zu Abend essen und darfst uns nicht verlassen. Du sollst sehen, daß ich mich nicht nur wie ein deutsches Edelfräulein, sondern auch wie ein Schweizer Mädchen zu benehmen weiß. Schaffe mir jedoch erst Licht, meine Liebe; denn ich muß meine Kleider ordnen und auch diese Verräter, meine Augen, waschen.«