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Als kaum der Morgen graute, trat in Arthurs Zelle der Pförtner, um ihm zu sagen, daß, so sein Name Arthur Philippson wäre, ein Bruder des Klosterordens ihm Briefschaften von seinem Vater zu überbringen hätte. Der Jüngling fuhr auf, kleidete sich hastig an und wurde in das Sprechzimmer geführt, wo ein Karmelitermönch seiner harrte.
»Ich bin manche Stunde Weges geritten, junger Mann,« sagte der Mönch, »um Euch dieses Schreiben zu überreichen, indem ich Eurem Vater unverzügliche Besorgung versprochen habe. Ich kam während des Sturmes in voriger Nacht zu Aix an, und da ich im Palast erfuhr, Ihr wäret hierher geritten, saß ich auf, sobald das Unwetter sich legte, und bin jetzt hier.« – »Ich bin Euch dankbar, Vater,« sagte der Jüngling, »und wenn ich Eure Mühe mit einer kleinen Gabe an Euer Kloster vergelten kann, so . .« – »Durchaus nicht,« antwortete der Klosterbruder. »Die Kosten meiner Reise sind mir reichlich vergütet worden. Doch öffnet Eure Briefschaften, ich bin imstande, auf Eure Fragen zu antworten.«
Der Jüngling trat demnach an die Brüstung eines Fensters und las: »Sohn Arthur. – Was den Zustand dieses Landes anbetrifft, so ist das Reisen hier jetzt sehr gefährlich. Der Herzog hat die Städte Brie und Granson weggenommen und fünfhundert Mann getötet, die er als Besatzung daselbst gefangen nahm. Allein die Eidgenossen nähern sich mit großer Streitmacht, und Gott wird für das Recht entscheiden. Wie auch das Spiel auslaufe, so ist dies eine scharfe Fehde, in der auf beiden Seiten wenig von Schonung die Rede ist, und deshalb bietet sich für Leute unseres Gewerbes nicht eher Sicherheit, als bis die Entscheidung gefallen sein wird. Mittlerweile magst Du der verwitweten Dame versichern, daß unser Kunde nach wie vor Neigung zum Kaufe der in ihren Händen befindlichen Waren hat; doch wird er kaum eher Zahlung leisten können, als bis die dringenden Geschäfte, die er jetzt betreibt, beendigt sind. Das wird, hoffe ich, bald geschehen. Ich habe einen in die Provence reisenden Mönch zum Ueberbringer dieses Briefes gedungen, und er wird ihn Dir hoffentlich treulich einhändigen. Dem Boten ist zu trauen. – Dein Dich liebender Vater John Philippson.«
Arthur forschte bei dem Karmeliter nach der Zahl der herzoglichen Kriegsschar, die der Mönch auf sechstausend angab, während die Eidgenossen, wie er sagte, trotz aller Bemühungen nicht mehr als den dritten Teil dieser Anzahl hätten zusammenbringen können. Der junge Ferrand de Vaudemont wäre bei den Schweizern und hätte, wie man meinte, geheimen Beistand von Frankreich erhalten; da er aber nicht sonderlich in den Waffen erfahren wäre, auch nur wenige Mannschaft zählte, so trüge der leere Titel, den er als Feldherr führte, nicht viel zur Verstärkung der Eidgenossenschaft bei. Im ganzen berichtete er, schien alles für Karl von Burgund günstig zu stehen, und Arthur, der der Meinung war, daß seines Vaters Unternehmen nur dann glücken könne, wenn der Herzog Glück hatte, freute sich nicht wenig, dies, soweit durch Ueberzahl an Kriegsmannschaft darauf zu schließen war, gesichert zu wissen. Er hatte keine Zeit, weiter zu fragen; denn die Königin war soeben eingetreten, und der Karmeliter zog sich mit tiefer Verbeugung zurück.
Die Blässe auf dem Angesichte Margarethens zeugte noch von ihrer gestrigen Aufregung; doch als sie Arthur huldreich den Morgengruß bot, war ihre Stimme fest, ihr Auge klar, ihre Haltung ungebeugt. »Ich sehe Euch anders wieder,« sagte sie, »als ich Euch gestern verließ; denn mein Vorsatz ist gefaßt. Ich sehe ein, wenn René nicht freiwillig auf die Provence verzichtet, so wird er gewaltsam von diesem Thron gestoßen werden und dabei vielleicht noch sein Leben verlieren. Deswegen wollen wir mit aller Eile ans Werk gehen. Ich kann die Abdankungs- und Uebertragungsschrift von hier aus unter meiner Leitung anordnen und deren Vollziehung zustande bringen, wenn ich nach Aix zurückkehre. Dies soll geschehen, sobald meine Buße hier ihr Ende erreicht hat.« – »Und dieser Brief, huldvolle Frau,« sagte Arthur, »wird Euch kundtun, welche Ereignisse herannahen, und von welcher Wichtigkeit es ist, durch Vorarbeiten Zeit zu gewinnen. Setzt mich nur in den Besitz des notwendigen Abdankungsbriefes, und ich werde Tag und Nacht reisen, um in das Lager des Herzogs zu gelangen. Höchstwahrscheinlich werde ich ihn im Momente des Sieges erreichen. In solcher Stunde werden, ja müssen wir seinen Beistand erhalten; und wir werden bald sehen, ob der ausschweifende Eduard von York, der wilde Richard, der verräterische und meineidige Clarence fernerhin noch die Herren des fröhlichen Englands bleiben werden, oder ob sie einem rechtmäßigeren Monarchen, einem bessern Menschen weichen müssen. Aber, o königliche Frau, auf Eile kommt alles an.«
»Wahr – jedoch nach einer Frist von wenigen Tagen wird und muß der Würfel zwischen Karl und seinen Gegnern fallen, und bevor wir eine so große Schenkung machen, dürfte es doch geraten sein, sich zu versichern, ob der, den wir so begünstigten, auch imstande bleibt, uns Beistand zu leisten. Alle Ergebnisse eines tragischen, vielbewegten Lebens haben mich erkennen lehren, daß nichts über einen unbedeutenden Feind geht. Doch will ich mich beeilen, indem ich im voraus hoffe, daß uns gute Kunde von Neuenburg zukommen werde.«
»Wer aber soll dazu gebraucht werden, diese wichtige Entsagungsschrift zu entwerfen?« fragte der Jüngling. Margarethe sann nach, dann versetzte sie: »Euer Vater schreibt, dem Karmeliter, der Euch das Schreiben überbrachte, sei zu trauen – er soll ans Werk. Er ist ein Fremder und wird schweigen, wenn er ein Stück Geld erhält. Lebt wohl, Arthur de Vere! Ihr werdet von meinem Vater mit aller Gastfreundschaft behandelt werden. Gott befohlen!«
Arthur stieg mit raschen Schritten den Berg hinab. Das Wetter war jetzt überaus heiter, und angesichts der Berglandschaft dachte der junge Mann an die Felsen im Kanton Unterwalden und an das Mädchen, das er dort hatte kennen lernen. Er vergaß über dem süßen Träumen die Mahnung seines Vaters, der ihm ans Herz gelegt hatte, jeden Brief von ihm geheimen Inhalts wegen über ein starkes Feuer zu halten. Erst der Anblick einer Wärmpfanne voll Holzkohlen in der Küche des Hospizes am Fuße des Berges, wo er Thibault mit den Rossen fand, erinnerte ihn daran. Er hielt nun das Papier, als wollte er es trocknen, über die Glut, und groß war sein Erstaunen, als nun ein eingeschaltetes, höchst wichtiges Wort in dem Schreiben sichtbar wurde, so daß er jetzt lesen mußte: »Dem Boten ist nicht zu trauen.«
Von Scham und Verdruß ergriffen, konnte Arthur keinen andern Ausweg finden, als augenblicklich in das Kloster zurückzukehren und der Königin die Entdeckung mitzuteilen, wobei er noch hoffte, früh genug zu kommen, um jeglicher Gefahr vorzubeugen, die aus der Verräterei des Karmeliters etwa entstehen könnte. – Aergerlich auf sich selbst und voll Eifers, seine Sache wieder gut zu machen, erstieg er nochmals die steile Höhe, und binnen vierzig Minuten stand er atemlos und keuchend vor der Königin Margarethe, die über sein Erscheinen und seine Erschöpfung nicht wenig erstaunt war.
»Traut dem Karmeliter nicht!« rief er. – »Ihr seid verraten, Königin, und zwar durch meine Nachlässigkeit. Hier ist mein Dolch, stoßt ihn mir in das Herz!« Margarethe begehrte und erhielt deutlichere Erklärung. »Es ist ein unglücklicher Zufall,« sagte sie darauf. »Doch hätte auch Euer Vater uns deutlicher warnen können. Ich habe dem Karmeliter den Inhalt des Vertrages mitgeteilt und ihn mit der Niederschrift beauftragt. Er hat mich eben verlassen, um der Hora beizuwohnen. Wir können das unbedachtsamerweise geschenkte Vertrauen nicht mehr zurücknehmen, allein ich kann leicht bewirken, daß der Mönch nicht eher aus dem Kloster hinausgelassen wird, als bis es für uns gleichgiltig ist, ob er ein Verräter ist oder nicht. Dies ist der beste Weg, den wir einschlagen können, und ich will Sorge tragen, daß alle Unbequemlichkeit, die er durch sein Hierbleiben erleidet, ihm reichlich belohnt werde. Mittlerweile ruhe aus, guter Arthur, und lüfte Dir Dein Gewand. Armer Junge, Du bist ganz erschöpft!«
Arthur gehorchte und ließ sich auf einen Sessel im Sprechzimmer nieder. »Könnte ich den falschen Mönch nur sehen,« sagte er, »so wollte ich ein Mittel finden, ihn zum Schweigen zu bringen.« – »Besser ist es, Du überläßt es mir,« sagte die Königin, »und mit einem Worte: ich untersage es Dir, Dich mit ihm einzulassen. Es freut mich, daß Ihr die heilige Reliquie, die ich Euch verehrte, um den Hals tragt. Doch was für ein maurisch Zauberkettlein hängt daneben? Ach! ich brauche nicht zu fragen, Eure hochroten Wangen deuten nur zu sehr auf ein zartes Liebeszeichen. Ach! armer Knabe! Einst hätte Margarete von Anjou Dir Beistand sein können, auf wen Deine Neigung sich auch gerichtet haben möchte; allein jetzt kann sie nur das Unglück ihrer Freunde vergrößern, nicht aber deren Glück befördern. Doch das Zaubermädchen, Arthur? Ist sie schön? ist sie verständig und tugendreich? Ist sie von edler Geburt und – liebt sie Dich?«
Margarethe überschaute des Jünglings Gesicht mit dem Blick eines Adlers und fuhr fort: »Auf all das möchtest Du mir mit ja antworten, wenn die Verschämtheit es Dir gestattete. Liebe auch Du sie denn, mein ritterlicher Knabe! denn Liebe ist die Zwillingsschwester edler Handlungen, mein wackerer Jüngling – hochgeboren, treu, tapfer und tugendhaft, verliebt und jugendlich. – Das Rittertum des alten Europa glüht allein noch in einem Busen, wie der Deinige ist. Nun lebe wohl! Nach drei Tagen sehen wir uns in Aix.«
Arthur schied nochmals von der Königin, über deren Herablassung er in tiefster Seele entzückt war, und kehrte zu seinem Führer zurück.
Nach einem Ritt von einer guten Stunde erreichten sie Aix, und Arthur verlor keine Zeit, sich dem guten König René vorzustellen, der ihn huldreich empfing, und zwar sowohl wegen des Empfehlungsschreibens des Herzogs von Burgund, wie in Erwägung dessen, daß der Fremde ein Engländer war, der als treuer Untertan der unglücklichen Margarethe anhing. Er konnte dem Verlangen des alten Königs, ihm seine Gedichte vorzulesen oder seine Musik vorzuspielen, durch nichts anderes ausweichen, als daß er ihn in ein Gespräch über seine Tochter Margarethe verflocht. Arthur war zu verschiedenen Malen geneigt gewesen, daran zu zweifeln, ob die Königin wirklich den Einfluß auf ihren betagten Vater besäße, dessen sie sich rühmte; doch als er mit dem Könige persönlich bekannt war, überzeugte er sich, daß ihr herrschender Geist, ihre heftigeren Leidenschaften dem schwachherzigen und leidenden König eine Mischung von Stolz, Zuneigung und Furcht einflößten, die miteinander ihr die vollkommenste Gewalt über ihn einräumten.
Obgleich sie erst kürzlich auf so unfreundliche Weise von ihm geschieden war, freute René sich doch, als er von ihrer baldigen Rückkehr hörte. Der alte König war ungeduldig wie ein Kind, ehe der Tag ihrer Ankunft herankam, und ließ sich nur nach langen Gegenreden davon abbringen, ihr als Fürst der Hirten an der Spitze eines Zuges arkadischer Schäfer und Nymphen entgegenzuziehen, deren gemeinsame Tänze und Gesänge zu begleiten jede Schalmei und jede Handtrommel des Landes in Bewegung gesetzt werden sollte.
Während Margarethens Abwesenheit gingen die Tage am Königshofe in der Provence in Scherzen und Belustigungen aller Art dahin: Turniere in den Schranken, Reiten nach dem Ringe, Jagden fanden statt; abends erscholl Musik, und lustige Tänze begannen.
Am vierten Tage lief durch einen Schnellboten die Nachricht ein, daß die Königin Margarethe vor der Mittagsstunde nach Aix zurückkehren würde, um ihre Wohnung wieder in ihres Vaters Palaste zu nehmen. Der gute König René schien sich, als die Stunde herannahte, doch ein wenig vor seiner Tochter zu fürchten und teilte seine ängstliche Unruhe allem mit, was ihn umgab. Er quälte seinen Haushofmeister und seine Köche, sich all der Schüsseln zu erinnern, von denen seine Tochter mit Wohlgefallen zu essen pflegte – er trieb die Spielleute an, der Melodien zu gedenken, die ihren Beifall gefunden hätten. Das Mahl sollte um halb zwölf Uhr aufgetragen werden, gleich als könnte man dadurch die Ankunft des erwarteten Gastes beschleunigen; und der König schritt mit dem Tellertuch über dem Arm in der Halle von Fenster zu Fenster, und bestürmte jeden mit der Frage, ob noch nichts von der Königin von England zu sehen wäre. Mit dem Schlage der Mittagsstunde ritt, von einem sehr kleinen, hauptsächlich aus Engländern bestehenden Gefolge begleitet, Margarethe von Anjou zur Stadt Aix hinein. König René ging ihr an der Spitze seines Hofes die Straße hinab entgegen. Margarethe war dieser öffentliche Empfang auf dem Marktplatze höchst unangenehm. Allein sie trug auch Verlangen, ihre jüngst geäußerte Heftigkeit wieder gut zu machen, und stieg deswegen von ihrem Zelter herab. Obgleich sie etwas betroffen darüber war, daß König René mit dem Tellertuche sie begrüßte, so demütigte sie sich doch soweit, daß sie ein Knie vor ihm beugte und ihn um Vergebung und um seinen Segen bat. Dann begab sie sich am Arme des Vaters in den Palast, wo das Wiedersehen festlich begangen wurde.
Zwischen dem Mahle und dem darauffolgenden Tanzfeste suchte die Königin Gelegenheit, mit Arthur zu sprechen. – »Schlimme Nachrichten, mein weiser Ratgeber!« sagte sie. »Nachdem die Hora vorüber war, erschien der Karmeliter nicht mehr bei mir. Als er erfuhr, daß Ihr eilig zurückgekommen wäret, hat er, wie ich vermute, Verdacht geschöpft und daraufhin schleunigst das Kloster verlassen. Ich will morgen mit meinem Vater reden. Mittlerweile dürft Ihr Euch der Lustbarkeit dieses Abends erfreuen. Liebes Fräulein von Boisgelin, ich gebe Euch diesen jungen Kavalier heute abend zum Tänzer.« Die hübsche schwarzäugige Provenzalin verneigte sich mit geziemenden Anstande und musterte den schlanken, jungen Engländer mit wohlgefälligen Blicken. »Glückliches Vorrecht der Jugend,« setzte die Königin mit einem Seufzer hinzu, als das junge Paar seinen Platz zum Ringeltanze einnahm. – »Glückliches Vorrecht der Jugend, auch am rauhesten Lebenswege ein Blümchen zu pflücken.«