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Bekanntlich bestand die alte Behandlungsweise der Pocken darin, daß man den Kranken alles versagte, wonach sie naturgemäß verlangten, sie wurden in geheizte Zimmer geschlossen, in wollene Decken gehüllt und erhielten Glühwein als Getränk, während die Natur kaltes Wasser und frische Luft begehrte. Seit einigen Jahren war von mehreren Ärzten eine entgegengesetzte Behandlungsweise angewendet worden, die namentlich von Gideon Gray in hohem Maße vervollkommnet worden war.
Als General Witherington den jungen Arzt sah, machte ihn zunächst das jugendliche Alter ein wenig stutzig. Als er ihm aber zugehört hatte, wie er mit Bescheidenheit und Selbstvertrauen den Unterschied zwischen den beiden Heilverfahren auseinandersetzte, hatte er eine andere Meinung von ihm. Dennoch war er sich noch nicht sogleich schlüssig.
»Eure Beweisführung scheint einleuchtend,« sagte er zu Hartley, »aber sie beruht immerhin nur auf einer Vermutung. Was könnt Ihr zur Bekräftigung Eurer Theorie anführen, die doch eben dem allgemein üblichen Verfahren zuwiderläuft?«
»Die eigene Erfahrung«, antwortete Hartley. »Ich habe hier ein Tagebuch über Krankheitsfälle, deren Behandlung ich mit angesehen habe, es sind zwanzig Fälle von Pocken darin angeführt, von denen achtzehn geheilt wurden.«
»Und die anderen zwei?« fragte der General.
»Endeten mit dem Tode«, erwiderte Hartley. »Es ist uns noch nicht völlige Gewalt über diese Geißel des Menschengeschlechts gegeben.«
»Junger Mann,« fuhr der General fort, »wenn ich Euch nun sage, 1000 portugiesische Dukaten sind Euer, wenn es Euch gelingt, meine Kinder am Leben zu erhalten, was könnt Ihr als Gegengewähr aufstellen?«
»Ich setze meinen Ruf dagegen,« antwortete Hartley ruhig und fest.
»Und könnt Ihr Euren Ruf einsetzen für die Heilung Eurer Patienten?«
»Verhüts Gott, daß ich so anmaßend wäre! ich kann aber dafür einstehen, daß diejenigen Mittel angewendet werden, die mit Gottes Segen die beste Aussicht auf einen glücklichen Ausgang verbürgen.«
»Genug,« entschied der General, »Ihr seid vernünftig, bescheiden und kouragiert, ich will Euch vertrauen.«
Seine Gattin, auf die Hartleys Worte und Wesen einen tiefen Eindruck gemacht hatten, hegte schon längst den innigen Wunsch, daß mit dieser Behandlungsweise gebrochen würde, bei der die Kranken schmerzlichster Qual und Entbehrung preisgegeben waren, und die sich auch schon als verhängnisvoll erwiesen hatte, erklärte sich mit der Entscheidung ihres Mannes mit Freuden einverstanden, und Hartley erhielt unumschränkte Vollmacht im Krankenzimmer. Die Fenster wurden geöffnet, die Feuer ließ man ausgehen, und an Stelle des Glühweines und der gewürzten Getränke kam frisches Wasser.
So ging Hartley ruhig seinen Weg, und die Patienten befanden sich bald auf dem Wege der Besserung.
Der junge Schotte war weder dünkelhaft noch durchtrieben, aber er kannte bei aller Gradheit seines Wesens doch den Einfluß, den ein Arzt auf die Eltern, deren Kinder er eben vom sicheren Tode errettet hatte, gewinnen mußte, und diesen Einfluß beschloß er zugunsten seines ehemaligen Kameraden auszunutzen.
Auf seinem Wege nach dem Hause des Generals, wo er zurzeit ständig wohnte, untersuchte er das Paket, das Middlemas ihm anvertraut hatte, es enthielt ein einfaches Miniaturbild der Marie Gray und den Brillantring, den der Doktor dem jungen Manne beim Abschied als letzte Gabe seiner Mutter ausgehändigt hatte. Das erste dieser Andenken entlockte Hartley einen Seufzer, vielleicht eine Träne und erfüllte ihn mit traurigen Erinnerungen.
»Ich fürchte nur,« dachte Hartley bei sich, »sie hat keine ihrer würdige Wahl getroffen, aber sie soll glücklich werden, wenn es in meiner Macht liegt, sie glücklich zu machen.«
Im Hause des Generals angelangt, begab sich Hartley sofort ins Krankenzimmer und brachte dann den Eltern die frohe Kunde, daß die Heilung ihrer Kinder sich als gesichert betrachten ließe.
»Doktor,« sagte Witherington, »Ihr habt Euren Ruf eingesetzt, den Euer glänzender Erfolg nun nur noch gesteigert hat, gegen 1000 portugiesische Dukaten. Ihr findet den Betrag hier in diesem Taschenbuch.«
»Herr General,« sagte Hartley, »Ihr seid reich und habt ein Recht, Großmut zu üben, ich bin arm und kann es mir nicht leisten, ein Honorar für meine ärztlichen Bemühungen zurückzuweisen, aber selbst in der Freigebigkeit ist eine Grenze, und ich werde mir nur gestatten, die Hälfte dieser Summe als überreiche Belohnung meiner Dienste anzunehmen, und wenn Ihr noch in meiner Schuld zu stehen meint, so tragt sie damit ab, daß Ihr mir Eure gute Meinung wahrt und Eure Gunst.«
Nur mit Widerstreben steckte der General einen Teil des Geldes wieder zu sich.
»Und wenn ich mich mit Eurem Vorschlag einverstanden erkläre,« sagte er, »so geschieht es nur in Rücksicht darauf, weil ich Euch mit meinem Einfluß weit mehr helfen kann als mit meiner Börse.«
»Und in der Tat,« entgegnete Hartley, »wollte ich Euch gerade jetzt um eine kleine Gunst ersuchen.«
Der General und seine Gemahlin sprachen in einem Atem die Versicherung aus, daß sein Ansuchen im voraus gewährt sei.
»Dessen bin ich noch nicht so gewiß,« versetzte Hartley, »denn es betrifft etwas, worin Euer Exzellenz sonst durchaus unzugänglich ist: die Freigabe eines Rekruten.«
»Das verlangt meine Pflicht,« antwortete der General. »Ihr wißt, mit was für einer Sorte von Kerlen wir uns begnügen müssen. Sie betrinken sich, lassen sich am Abend anwerben, und am andern Morgen tut es ihnen wieder leid. Wenn ich da jeden wieder gehen lassen wollte, der von dem Sergeanten beschwindelt worden sein will, so würden wir herzlich wenig Freiwillige übrig behalten.«
»Dieser Fall liegt aber etwas eigentümlich. Der junge Mann ist um 1000 Pfund bestohlen worden.«
»Ein Rekrut, der sich für uns hat anwerben lassen, im Besitz von 1000 Pfund! Verlaßt Euch drauf, der Kerl hat Euch belogen, Doktor. Wie sollte denn einer, der 1000 Pfund hat, darauf hineinfallen, sich als Gemeiner für uns anwerben zu lassen.«
»Davon war auch gar keine Rede,« versetzte Hartley. »Der Schelm, von dem er sich hat übertölpeln lassen, hat ihm weisgemacht, er solle eine Offiziersstelle bekommen.«
»Das kann nur Tom Hillary gewesen sein, so frech ist sonst keiner, der Kerl kommt doch noch einmal an den Galgen. Aber habt Ihr auch bestimmten Anhalt dafür, daß der Mann diese Summe in der Tat besessen hat?«
»Das weiß ich ganz bestimmt,« erwiderte Hartley. »Wir sind beide zusammen bei dem gleichen trefflichen Manne in Lehre gewesen. Als nun mein Kamerad großjährig wurde, gefiel ihm der ärztliche Beruf nicht mehr, er bekam sein kleines Vermögen ausgezahlt und ist dann den Betrügereien Hillarys zum Opfer gefallen.«
»Der Fall soll genau untersucht werden,« versprach der General. »Wie schändlich ist es aber von den Angehörigen des jungen Mannes, sich so wenig um ihn zu kümmern. Einen Burschen, der noch von nichts was weiß, einem Gauner wie diesem Hillary in die Hände fallen zu lassen, ihn mit solch' einer Summe blindlings in die Welt zu schicken!«
»Der junge Mann muß wirklich hartherzige und sorglose Eltern haben!« sagte auch Frau Witherington im Tone des Mitleids.
»Er hat seine Eltern nie kennen gelernt,« antwortete Hartley. »Ein Geheimnis waltet über seiner Geburt. Von jemand, der ihn nie gesehen und nie zärtlich sich um ihn gesorgt hat, ist ihm sein Erbteil gegeben worden, und er ist in die Welt hinausgeschickt worden, wie ein Schiff ohne Steuer und Kompaß.«
Bei diesen Worten sah General Witherington unwillkürlich seine Gemahlin an, die, von dem gleichen innern Antrieb geleitet, ihrerseits ihn ansah. Sie tauschten einen raschen Blick von besonderer Bedeutung aus und senkten dann beide die Augen zu Boden.
»Ihr wart in Schottland in der Lehre,« fragte die Dame mit bebender Stimme, »und wie hieß Euer Lehrherr?«
»Ich war in Lehre bei Herrn Doktor Gideon Gray in dem Städtchen Middlemas.«
»Middlemas – Gray –« hauchte die Dame und fiel in Ohnmacht.
Hartley bot seinen ärztlichen Beistand an, der General aber stürzte zu ihr und flüsterte ihr in halb drohendem, halb warnendem Tone zu:
»Zilia, hüte dich!«
Sie lallte ein paar unverständliche Laute. Dann hob ihr Mann sie auf und trug sie aus dem Zimmer. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und redete Hartley in dem ihm eignen höflichen Tone an, obwohl es ihm nur schwer gelang, seiner Verwirrung Herr zu werden.
»Es geht meiner Frau schon wieder besser, sie wünscht Euch zu Mittag zu sehen. Ihr werdet uns doch zu Tisch die Ehre geben?«
Hartley verneigte sich.
»Meine Frau leidet öfters an derartigen Anfällen. Gram und Besorgnis haben sie in letzter Zeit zu sehr mitgenommen. Ich habe es deshalb nicht gern, daß bei diesen Anfällen, die stets wieder vorübergehen, jemand anders außer mir und ihrer alten Dienerin bei ihr ist. – Was jenen jungen Mann, Euren Freund, anbetrifft, – diesen Richard Middlemas – so nanntet Ihr ihn ja wohl?«
»Den Namen nannte ich wohl nicht, indessen,« antwortete Hartley, »haben Euer Exzellenz den Namen getroffen.«
»Das ist seltsam, Ihr müßt aber doch so etwas wie Middlemas gesagt haben,« bemerkte der General.
»Den Namen der Stadt habe ich genannt,« sagte Hartley.
»So dacht ich, das wär' der Name des Rekruten, ich war im Augenblick von dem Anfall meiner Frau ein wenig benommen. Nun, dieser Middlemas, wie er also doch heißt, ist wohl ein wilder Bursche?«
»Ich tät ihm unrecht, wollte ich ihn so nennen. Er hat wohl wie andre junge Leute seine Fehler, aber er ist doch ein tüchtiger und ordentlicher Mensch.«
»So? Er möchte also Soldat werden? Hat er ein nettes Aeußres?«
»Er ist auffallend schön,« versetzte Hartley, »und von einnehmendem Wesen.«
»Hat er dunkeln oder hellen Teint?«
»Ziemlich dunkel. Noch einen Schein dunkler als Euer Exzellenz, wenn ich mir diesen Vergleich erlauben darf.«
»Ei, dann muß er so schwarz sein wie eine Amsel. Beherrscht er fremde Sprachen?«
»Lateinisch und Französisch ziemlich vollkommen.«
»Fechten und tanzen kann er aber jedenfalls nicht?«
»Ich kann mir in diesen Dingen kein Urteil anmaßen, aber Richard gilt als Meister in beiden.«
»Das alles zusammen klingt gar nicht häßlich. Hübsches Äußere, körperliche Gewandtheit, gute Schulbildung, tüchtiger, nicht allzu wilder Charakter – der Mann ist zu schade zu einem Gemeinen – er muß eine Offiziersstelle haben, Doktor, wär's auch nur, um Euch einen Gefallen zu tun.«
»Euer Exzellenz sind großmütig.«
»Ich werde dafür sorgen, daß Tom Hillary ihm das gestohlene Gut zurückerstattet, wenn er nicht an den Galgen will – ein Schicksal, das er freilich schon längst verdient hat. Ihr aber geht heute nicht nach dem Lazarett, denn Ihr sollt bei uns speisen und wißt, wie groß die Angst meiner Frau vor Ansteckung ist. Aber morgen werdet Ihr Euch darum kümmern, daß der junge Mann mit allem, was er braucht, ausgerüstet wird. Mit dem ersten Ostindienfahrer Middlesex soll er dann abreisen.«
»Werden Euer Exzellenz erlauben, daß er Euch vorher seine Aufwartung macht?«
»Das hätte keinen Zweck,« entgegnete der General schnell und bestimmt, »Doch ja! Ich möchte ihn einmal sehen. Mein Diener Winter wird ihm die Zeit nennen und ihn herführen. Vorher aber muß er mindestens zwei Tage aus dem Lazarett sein. Je eher Ihr ihn hinauslaßt, um so besser.«
Obwohl Hartley in die Umstände der Geburt seines Jugendkameraden nicht eingeweiht war, machte ihn doch mancherlei an dem Benehmen des Generals und seiner Frau stutzig und er beschloß, einen kleinen Versuch zu machen, den er im Grunde für ziemlich harmlos hielt.
Er steckte den Ring an den Finger, den Middlemas ihm anvertraut hatte, und wußte es so einzurichten, daß Frau Witherington auf den Schmuck aufmerksam wurde.
Sie hatte ihn kaum gesehen, als sie auch die Augen fest auf ihn geheftet hielt und ihn genauer zu betrachten wünschte, weil er frappant einem Ringe ähnelte, den sie einem Freunde geschenkt habe.
Hartley zog ihn vom Finger und reichte ihn ihr mit der Bemerkung, er gehöre seinem Freunde, für den er bei dem General ein gutes Wort eingelegt habe.
In größter Aufregung zog sich Frau Witherington zurück und ließ am nächsten Tage Hartley zu einer Unterredung zu sich kommen, von deren Inhalt später die Rede sein wird.
Am folgenden Tage wurde Middlemas zu seiner großen Freude aus dem Lazarett entlassen und bei seinem Freunde einquartiert. Zwei Tage später traf sein Patent als Leutnant im Dienste der Ostindischen Gesellschaft ein.