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13

Es gefiel mir sehr gut in Borna. Zwar hatte Fräulein Thekla Liborius, die Schwester des Pastors, die ihm die Wirtschaft führte und die fehlende Frau Pastorin vertrat, den unerwarteten Gast anfangs mit einiger Verwunderung aufgenommen und die Taten seines ungebrochenen Genesungshungers beim Vesperbrot mit ehrfürchtigem Staunen beobachtet, aber sie benahm sich gut und angemessen, multiplizierte die schon fertigen Pläne der Mahlzeiten für die folgenden Tage mit mindestens zwei und sah der Zukunft mit Fassung entgegen.

Nach dem Essen zog es den Pastor in seine Bibliothek, wo die neuerworbenen Bücher einzuräumen waren, seine Schwester in die oberen Räume, um für die Unterkunft des unerwarteten Gastes zu sorgen, und mich noch höher hinauf zu der alten Kirche, die schon so oft als ein Dämmerbild am Horizont zu mir herübergeschaut hatte. Der Höhenrücken, auf dem sie lag, war der Abschluß meiner Knabenwelt gewesen, die blauen Berge des Märchens, hinter denen die weite, weite Welt liegt und die Wunder und Abenteuer der Ferne beginnen.

Der eigentliche Kirchweg führte zwischen dem Pfarrgehöft und dem des Küsters und Schulmeisters auf die Höhe, man konnte aber auch den Mittelsteig des Pfarrgartens benutzen, der sich terrassenförmig in ansehnlicher Breite den Berg hinaufzog. Alle Grundstücke waren, wie immer in so steinreichen Gegenden, mit breiten Mauern aus lose aufgebauten Geröllblöcken eingefaßt, die als willkommener Ablagerungsplatz der immer wieder neu auftauchenden Steine im Laufe der Jahrhunderte emporgewachsen waren. Uralte Holunderbäume, mit knorrigen Stämmen und über und über mit grünlichen Beerentellern bedeckt, schmiegten ihre zähen Wurzeln in das alte Gemäuer, hier und da war ein Ebereschenbäumchen daraus hervorgeschossen, und verwilderte Stachelbeer- und Johannisbeerbüsche machten im Verein mit Hundsrosen und anderem Gestrüpp die alte Mauer zugleich zu einer Hecke. Auf den Rabatten des breiten Mittelweges standen Rosenbüsche und allerlei Stauden der guten alten Zeit, wie Diptam und Bauernrosen und große Büsche weißer Lilien, dazu die Würzkräuter des alten Klostergartens, Melisse, Krauseminze, Majoran, Thymian, Salbei und dergleichen. Der Lavendel blühte dort in großen bläulichen Polstern und hauchte in der Abendsonne so lieblichen Duft aus, daß mir ein Heimweh aufstieg nach dem wohlvertrauten Pfarrgarten von Steinhusen, wo es ebenso gewesen war. Sonst war dort ausschließlich ein Obstgarten mit vielen Beerensträuchern und zum Teil riesigen alten Bäumen, die an dem windgeschützten Südabhang und in dem trotz des Steinreichtums fruchtbaren Lehmboden vortrefflich gediehen. Einige ungewöhnlich stattliche, mit glänzenden Früchten überreich beladene Süßkirschenbäume fielen mir sehr angenehm ins Auge. Der Garten wurde an seinem Ende durch die Kirchhofmauer abgeschlossen, durch die ein hölzernes Pförtchen führte. Und als ich dieses öffnete, sang die ungeschmierte Angel ein Liedchen. Zwar nicht: »Ach nur einmal noch im Leben« aus Mozarts Titus, wie Mörikes Gartenpforte in Cleversulzbach, nein, es war ein lustiger Klang, wie er gar nicht für die Eingangstür des letzten Gartens zu passen schien, und tönte gar lieblich und froh wie: »Heididellitt Juchhe!«

Dies aber paßte besser, als man denken sollte, denn Kirchhöfe, die auf der Höhe liegen und Aussichtspunkte sind in eine grüne, schimmernde, lebendige Welt, haben selten den düsteren Charakter jener tief liegenden, wo im Schatten hoher Ulmen, unter düsteren Zypressen feierliches Schweigen herrscht.

Die meisten Hügel dieses alten Kirchhofes waren halb oder ganz versunken und nur noch zuweilen mit einem verwitterten, schief gesunkenen Holzkreuz bezeichnet oder einem flachen Stein, dessen Inschrift, von Moos und Flechten bedeckt, nicht mehr zu lesen war. Aber ein schönes grünes Gras war überall hervorgewachsen, in dem die Heuspringer in der Abendsonne wetzten und die Grillen zirpten, und dazwischen hielt allerlei Blütenwerk seine Glocken und Sterne und Teller empor, von glasgeflügelten Sesien und behäbigen Käfern besucht und von schwankenden Schmetterlingen umflogen. Nur an jenem Teil des Kirchhofes, wo der Tod seinen Acker frisch bestellte, sah man neue Gräber, große und kleine. Dort leuchteten schneeweiße Holzkreuze herüber, und auf schwarzen eisernen funkelten die Goldbuchstaben. Unten im Tal strichen schon lange Schatten dahin, aber hier war noch die volle Sonne, und alles freute sich ihrer. Friedlich war es hier, aber nicht still, denn außer dem Wetzen und Schwirren im durchsonnten Gras strichen an dem alten Kirchenchor, wo sie mit Nest an Nest die Linien der Spitzbogen nachgezeichnet hatten, die Schwalben mit endlosem Gezwitscher ab und zu und sangen sich auch wohl ein Stückchen im Fluge, wenn sie um das Kirchendach schwenkten; in den Mauerlöchern kläfften die Dohlen, des Pastors Tauben, wie das Volk sie nennt, weil sie schwarz sind und gern an Kirchen wohnen, und rings um den Kirchhof zwirnten unablässig die Goldammern ihr einförmiges Liedchen, was sie gern tun in der Abendsonne. Ich stieg auf die Kirchhofsmauer am Abhang und schaute in das weite Land hinaus. Die reifenden Roggenfelder leuchteten in der Sonne wie Gold und die Wiesengründe wie Smaragd. Fern blinkte ein Flüßchen und wand sich durch ein grünes Tal nach einem Städtchen hin, das mit roten Dächern von einem See im Grunde zu einem Hügel hinaufstieg, von dem ein altes Schloß herniederschaute. Und überall in der weiten Landschaft, die von fern dämmernden Waldhügeln begrenzt war, liefen die Wege dahin, von Hecken oder Baumreihen begrenzt, oder auch nur wie helle, kahle Bänder. Sie kamen von Dörfern oder Höfen her, die mit ihren Baumgärten zwischen dem verschiedenfarbigen Getäfel ihrer Felder lagen, so daß Hügel und Gründe wie mit eingelegter Arbeit bedeckt schienen, verschwanden in Wäldchen und zwischen Hügeln und tauchten wieder hervor, suchten und mieden sich oder kamen aus der Ferne, wer weiß woher, und gingen, wer weiß wohin.

Aussichten und Naturschönheiten sind einem Knaben in meinem damaligen Alter ziemlich gleichgültig, und ich hatte bald genug davon. Dann fiel mir ein, daß ich ja von hier aus auch meinen ersten geliebten Wohnsitz Steinhusen sehen müsse, denn wenn man von dort die Kirche von Borna sah, so mußte doch auch das Umgekehrte möglich sein. Ich sprang sofort von der Mauer und lief um die Kirche herum, um mir dort den höchsten Punkt zu suchen, und fand auch dicht neben ihr einen mächtigen Felsblock, der wohl irgend ein Gedächtnismal darstellte, denn er war mit einer verwitterten Inschrift versehen. Auf diesen kletterte ich und spähte nach der gewünschten Aussicht. Über die Obstbäume des tiefer liegenden Pfarrgartens und über das Dach des Pfarrhauses hinweg sah ich auch das grüne Wiesental im Grunde mit dem halb zugewachsenen See und dahinter die aufsteigenden Baumhügel des Parkes, und von dieser Höhe aus, deutlicher als von unten, auch die Giebel und Dächer des stattlichen Herrenhauses sowie den schlanken Aussichtsturm, doch dahinter weiter nichts als den hellen Abendhimmel. Nur in der Senkung der von der schrägen Sonne beglänzten, von tiefen, schwarzen Schatten durchsetzten Baumwipfel zog ein feines, blasses Streifchen fernen Hügellandes dahin. Nun aber nahm der Aussichtsturm meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Auf seiner Plattform, die von einem ausgekragten Balkon mit Geländer umgeben war, stand ein kleines Häuschen, aus dessen spitzem Dache eine Flaggenstange emporragte. An dieser stieg, ohne daß ich sehen konnte, wie es geschah, fortwährend eine Reihe von übereinander wehenden, verschieden geformten und gefärbten Flaggen in die Höhe, in immer wechselnder Anzahl und Anordnung. Jede Gruppe verweilte eine kurze Zeit oben und wurde dann wieder heruntergeholt. Solche Einrichtung kannte ich schon. Ganz dasselbe gab es auf dem Hause des Herrn Wohland aus der Insel Uhlenhorst, und auch das Spiel mit den Flaggen hatte ich dort bei unseren Segelfahrten auf dem See schon beobachtet. Man sagte, Herr Wohland unterhielte sich aus diese Art mit seiner Tochter in Borna. Es berührte mich wunderlich, daß ich nun diese sonderbare Art der Mitteilung von der anderen Seite mit ansah und daß alle diese unverständlichen Zeichen dem Manne galten, mit dem ich auf so ungewöhnliche Art in Beziehung geraten war, der für mich ein dankbares Wohlwollen hegte und dem auch ich gut war.

Nachdem diese Zeichensprache eine Weile mit längeren und kürzeren Unterbrechungen angedauert hatte, hörte sie plötzlich auf. Eine weiße Flagge, die fortwährend an der Spitze der Flaggenstange geweht hatte, wurde wie zum Gruß gesenkt und gehoben und tauchte dann in die Tiefe hinab. Ich wartete noch eine Zeitlang, aber alles blieb still. Nur nach einer Weile gab die Kirchenwand hinter mir den Widerhall eines fernen Böllerknalles zurück. Das war wohl Herrn Wohlands Abendschuß, den ich so oft in Steinhusen gehört hatte, wie er sich in den vielfachen Buchten des Sees zur Ruhe rumorte.

Ich stieg nun auf dem gewöhnlichen Kirchenwege zwischen den beiden Gehöften und zwischen stattlichen Steinmauern hinunter zur Chaussee, deren Rand nach dem Wiesengrunde hin ziemlich steil abfiel. Zahlreiche schräge Pfade führten dort die Böschung hinab, denn hier lagen die Gemüsegärten des Dorfes, jeglicher seinem Hause auf der anderen Seite der Chaussee gegenüber. Mächtige grüne Mauern von Stangenbohnen, stattliche Erbsenhecken, blühende Kartoffelfelder und sehr viele andere vergnügliche Gemüse wuchsen dort weithin. Ein starkes Rauschen und Rieseln zog mich an, und ich stieg den schrägen Weg zum Pastorgarten hinab. Dort war in die Böschung aus großen Steinen ein Halbrund gemauert, und aus einer roh behauenen Rinne kam eine fast armdicke Quelle hervor, ergoß ihren Strahl in das Halbrund einer alten Handmühle aus der Steinzeit, die man noch so oft im Lande findet, und rieselte dann durch eine bedeckte Rinne über den Weg und durch die Gärten dem See zu. Das war ja prachtvoll. Quellen hatten für mich von jeher etwas Märchenhaftes gehabt, und nun gar eine solche, die mit stolzem Strahl so ohne weiteres aus dem Berge sprang und nicht erst aus allerlei sumpfigen Rinnsalen mühsam zusammenrieselte, hatte ich noch nie gesehen. Wie vor einem Wunder stand ich, und eine Art von Andacht erfüllte mich.

Zu beiden Seiten des gemauerten Halbkreises lag ein großer, flacher Stein, und ich setzte mich und schaute zu, wie der starke Strahl unablässig aus dem Berge hervorkam und mit gläsernem Bogen in der Luft stand, wie er mit Brausen die alte Steinschale füllte und über die Ränder lief und sich kluckernd zwischen dem Geröll verlor. Dann horchte ich, wie er mit seltsamem Gurgeln in das Rohr unter dem Wege verschwand, und sah ihm nach, als er wieder hervorkam und so eilig und heiter dem See zurieselte, als sei er froh, der engen Bergeshaft für immer entronnen zu sein. Ich blieb dort aber nicht ungestört, denn es war Abend, die Sonne war schon hinter dem Kirchhügel versunken, im Tal sanken die Schatten, und die Mädchen kamen zum Wasserholen von weit her. Denn das Wasser dieses Quells war berühmt und beliebt; Springwater nannten es die Leute und schrieben ihm besondere Kräfte zu. Man behauptete sogar, von diesem Borne habe das Dorf Borna seinen Namen. Alles dies erfuhr ich von dem braven Johann, der in diesem Augenblick den schrägen Weg herunter kam, um für seine Pferde Wasser zu holen. Er wußte noch viel mehr. »In dei ollen Tieden,« sagte er, »so seggen weck, hett dei Düwel hier sin Rebeit hatt, un hier inne Grund hebben lure grote Bööm stahn, un dei oll lütt See hett dei Düwelsee heiten. Dor äwer hebben's dei Kirch up den Barg bugt, un dat hett em tau dull argert, wil hei doch dat Klockenlürren nich verdrägen kann. Un is mit einen grugligen Gestank afsuust, un hett sick dor hentreckt, wo nu dei Düwelsborn lopen deiht. Dei is donn äwer noch gor nich dor wäst, dei is ierst rut sprungen, as dei Düwel för Wut mit sinen Pierfaut up dei Jerd haugt hett. Hei is äwer so dull worden, as dei Windrichtung mal so wäst is, dat hei dei Klokken von dei Bornasch' Kirch dor ok hürt hett. Un dat is bi Südwest wäst, un dorüm is bi Subwest hüt immer noch dei Düwel los. Na, up dei Barg bi'n Düwelsborn rüm, dor sünd jo nu binah noch mihr Stein as hier, un dor hett hei sick 'ne Sleure makt ut 'ne Offenhut un 'ne Ankerkär un hett bei vull Stein lad't un ümmer för dull up dei Kirch los klütert. Na, un hei is jo ok man so'n richtigen Draplock wäst un hett ümmer vorbi smäten. Dorvon, so seggen's, sünd all dei välen Stein bi dei Bornasch' Kirch rüm kamen. Äwer dat is all man Drähnsnack, wo dei Stein herkamen, dat weißt du jo, dei wassen!«

Damit hatte Johann, den ich auf dem Rückweg begleitet hatte, mit seiner Wasserfracht den Pferdestall erreicht, und ich suchte, da es dunkelte, wohl zufrieden mit meiner Besichtigung der Umgegend, das Innere des Hauses auf.

* * *

Am nächsten Morgen zeigte mir Pastor Liborius seine Bibliothek, und dadurch nahm mein Leben in Borna eine ganz besondere Gestalt an, denn mein alter Lesehunger, der durch die Eindrücke der Schule und den Umgang mit so vielen neuen Genossen etwas zurückgedrängt worden war, erwachte wieder. Und hier konnte man ihn befriedigen. Der Pastor sammelte zwar nicht nach einem bestimmten Plan, sondern kaufte alles zusammen, was ihm irgendwie bemerkenswert erschien, gleichviel aus welchem Gebiet, wenn es nur nicht zu viel kostete. Naturwissenschaftliche Werke, Reisebeschreibungen, Ausgaben römischer und griechischer Klassiker, besonders Elzeviere, wenn sie erschwinglich waren, und allerlei Kuriosa der verschiedensten Art. Aber außer der Neigung zu diesen für mich meist ungenießbaren Schmökern hatte der Pastor auch eine Liebhaberei für die schöne Literatur und eine ganz besondere für deren phantastische Abarten, wie man das bei nüchternen und phantasielosen Leuten viel häufiger findet, als man denken sollte. Deshalb waren die sogenannten Romantiker in dieser Büchersammlung sehr reich vertreten und in Ausgaben vorhanden, die heute, wo die Romantiker bei den Sammlern wieder Mode sind, mit Gold aufgewogen werden. Auch Märchensammlungen allerlei Art fanden sich dort, und das war mein Fall, denn für Märchen hatte ich eine seltsame Vorliebe. Das ging so weit, daß ich mir schon in Steinhusen aus Goethes Werken, die mir sonst im allgemeinen noch ziemlich unzugänglich waren, die wenigen Märchenrosinen mühsam herausgepickt hatte. Der neue Paris, das Märchen und die neue Melusine hatten mich entzückt, besonders der neue Paris. Nur über eins war ich nie hinweggekommen bei diesem. Im Märchen darf sich Wunder auf Wunder häufen, aber eins erträgt es nicht, das sichtlich Unmögliche. Man wird sich erinnern, daß der innere Teil des wunderbaren Gartens von einem Kanal umgeben wird, dessen marmorne Einfassungen auf beiden Seiten vergoldete Gitter tragen, die von Spießen und Hellebarden gebildet werden. Man kann aber trotz der Zwischenräume der Stäbe nicht in den schönen Garten sehen, weil das Gitter so sinnreich angeordnet ist, daß auf der anderen Seite des Kanals immer ein Gitterstab auf einen Zwischenraum auf dieser Seite trifft. Wir glauben wohl, daß ein Schritt mit dem Siebenmeilenstiefel den kleinen Däumling von Hamburg nach Lübeck bringt, denn dafür sind es eben Siebenmeilenstiefel, wir glauben auch, daß der Säckel des Fortunatus unerschöpflich bei jedem Griff neues Gold liefert, denn das ist nun einmal die Eigenschaft solcher Zaubersäckel, daß sich aber zwei voneinander entfernte Stabgitter stets so decken, daß man nicht hindurchsehen kann, das glauben wir nicht und sind vielmehr der unmaßgeblichen Meinung, daß sich der junge Herr Goethe da verhauen hat.

Das Studierzimmer des Pastors hatte schon keinen anderen Wandschmuck als Bücherborte, die bis an die Decke reichten und eine ewige Wiederholung von Bücherrücken aller Art zeigten, die Hauptmasse dieses Heeres war aber in einem langgestreckten Nebenzimmer untergebracht. Dort standen doppelseitige Bücherborte, mit den nötigen Zwischenräumen wie die Zähne eines Kammes von den beiden Langwänden des Zimmers ab, gleich Kulissen in einem Theater, so daß man auf dem freibleibendem Mittelgang durch eine Allee von Bücherborten ging, die ihre Schmalseiten zeigten und den Beschauer freundlich einluden, in die reichgefüllten Nischen einzutreten. Wenn sich der Pastor nicht in seinem Studierzimmer aufhielt, so war er hier zu finden, denn er war ein Stubenmensch und ließ sich selten draußen sehen. Hier erledigte er auch seine Spaziergänge, indem er unablässig mit seiner langen Pfeife, die ihn selten verließ, den Mittelgang auf und ab schritt und diese Wanderung, wenn er die große Tour vorhatte, wie er es nannte, bis in sein Studierzimmer ausdehnte. Oder er wirkte zwischen den Büchern herum und ordnete sie neu, denn darüber hatte er immer wieder andere Meinungen, oder er stand am Fenster oder an einem Stehpult und blätterte oder las in einem Buche, oder er war in Nachdenken versunken vor einem noch leeren Büchergestell, das er in seinen Träumen mit neuen Schätzen anfüllte.

Er mochte wohl meinem Alter keine große Teilnahme an diesen Dingen zutrauen, und nachdem er mir mit einer summarischen Handbewegung seine Geistestruppen vorgestellt hatte, ließ er mich ruhig allein dort herumschnückern, wohl in der Erwartung, daß ich die nächste Gelegenheit benutzen würde, mich still und heimlich zu verkrümeln. Er hatte eine kränkende Erfahrung mit einem seiner Neffen, der in meinem Alter war, noch nicht überwunden – dessen Herz er empfänglich machen wollte für die Reize der Literatur, und der schließlich ganz blaß und schwach geworden war und gefleht hatte: »Ach, Onkel, laß mich 'raus, mir wird ganz schlecht bei all den vielen Büchern!«

Da kannte er mich aber schlecht, denn ich hatte bald die romantische Ecke entdeckt, wo ja auch allerlei Märchen und dergleichen Phantasiewaren untergebracht waren. Nein, war das eine gute Ecke! Da war ja der ganze Hoffmann in allen Ausgaben, die bis dahin erschienen waren. Onkel Simonis, in dessen Bibliothek ich früher meine ersten literarischen Studien machte, hatte nur die Phantasiestücke und Serapionsbrüder gehabt, aber hier war alles und vieles mehrfach, so daß man sich die Ausgabe aussuchen konnte, in der es am besten schmeckte. Als ich den Kater Murr oder den Klein Zaches oder den Meister Floh in den von Hoffmann selbst gezeichneten Kartonumschlägen der ersten Ausgaben in der Hand wog, lief mir das Wasser im Munde zusammen. Und welch ein prachtvoller Titel war das: Die Elixiere des Teufels! Da war aber nicht Hoffmann allein, sondern auch die neun Bände seines Freundes C. W. Contessa und die zwölf Bändchen Phantasiestücke und Historien seines Nachahmers Weisflog. Da standen in stattlichen Reihen aufmarschiert die Werke von Tieck, Arnim und Fouqué, die bescheidene Bändchenzahl des Novalis und sowohl die Schriften als die Märchen Klemens Brentanos und dergleichen mehr. Ich fand dort auch Tausend und eine Nacht in der großen vollständigen Ausgabe von Weil mit den zweitausend Bildern, und die zwei von Grandville so trefflich illustrierten Bände von Gullivers Reisen. Es würde zu weit führen, wollte ich alles aufzählen, nur erwähnen möchte ich noch, daß ich dort auch drei Bändchen einer sogenannten amerikanischen Bibliothek entdeckte, die damals eben erschienen waren und ausgewählte Werke von Edgar Allan Poe enthielten.

Ich suchte mir nach langem Zögern und Wählen, nachdem ich in den verschiedensten Büchern geschnüffelt und geblättert hatte, einen Band heraus, in dem mich eine wunderlich phantastische Szene gefesselt hatte, und fragte den Pastor, ob ich ihn lesen dürfe. Da ich nun den verhältnismäßig harmlosen Klein Zaches gewählt hatte, sagte er: »Ja, nimm nur mit, und kannst dir auch mal was Anderes holen, aber merk dir, wo es gestanden hat. Am Abend muß jeder Band wieder an seinem Platze sein.«

Das war am Vormittage, und der schmale Klein Zaches war schon vor dem Essen wieder an seinem Ort, denn er war bald verschlungen. Er hatte sehr nach mehr geschmeckt, und nach Tisch verschwand ich mit dem Kater Murr in mein Lesekabinett. Das war aber der Kirchhof, wo ich zwischen den verfallenen Gräbern lag, während das lange Gras im Winde wehte, die Grillen und die Heuspringer sangen, die Schmetterlinge und Libellen über mich hin schwankten und tanzten und sich die Schwalben in der hohen Luft schrillend schwenkten. Wenn ich mich nur pünktlich zu den Mahlzeiten einfand, und das tat ich schon, so kümmerte sich niemand im Hause um mich, und so tat ich denn in den folgenden Tagen weiter nichts, als mir aus der romantischen Ecke ein Buch nach dem andern zu holen und es so schnell wie möglich durchzuackern. Die Freuden meines Menschennestes in Steinhusen, das ich mir in dem Wipfel einer Linde am See gebaut hatte und wo ich meinen literarischen Hunger mit Vorliebe gestillt hatte, wurden mir hier in verstärktem Maße zuteil.

Aber nicht immer war gutes Wetter, und wenn es regnete oder das Gras zu naß war, hatte ich ein zweites Lesekabinett, das war der Heuboden über dem Stallgebäude auf dem Hofe. Dort in dem dämmerigen Raume, der nur durch die wenig geöffnete Bodenluke und durch die Eulenlöcher in den Giebeln einiges Licht erhielt, lag es sich so mollig im trockenen duftenden Heu, während draußen der Regen klingend vom Strohdach rieselte und auf den Blättern des alten Lindenbaumes trommelte. Manchmal scharrten unten im Stall die Pferde oder klirrten mit den Halfterketten, dann unterhielten sich die Schweine mit eindringlichen Grunztönen, und dann wieder verkündete eine jauchzende Henne im Hühnerstall, daß sie eine Tat getan habe, die Tat aller Taten: Ein Hauptei, ein Staatsei hatte sie gelegt, das Ei der Eier.

Unheimliche und grauliche Geschichten gingen besonders gut zu lesen in diesem Raume, denn überall in den Ecken und Winkeln lagerte die schwarze Finsternis, in die irgend ein matter Lichtschimmer gespenstige Gestalten und schauerliche Fratzen malte. Zuweilen schlich auch wohl lautlos der große weiße Kater über die Heuhügel dahin und blieb stehen in der Finsternis und glühte mit den runden, hellen Lichtern seiner Augen unbeweglich auf mich hin. Dann wieder raschelte und regte sich im Heu ein unbekanntes Etwas, oder wunderliche Töne wurden laut, deren Ursprung nicht zu ergründen war. Am graulichsten wirkte es zuerst auf mich, wenn vom Eulenloche her, in dem ein blasses Dämmerdreieck des grauen Regenhimmels stand, ganz deutlich das laute, schnaubende Atmen eines schlafenden Riesen ertönte, als wenn ein Menschenfresser dort oben auf dem Heu seine üppige Mahlzeit verschnarche. Ich beruhigte mich aber bald, als ich auf dem Hahnenbalken das Schattenbild einer braven Schleiereule sitzen sah, die, wie mir Johann erzählt hatte, dort seit Jahren schon zu Hause war. Er nannte sie Dodenvagel, was aber nicht richtig war, der richtige Totenvogel ist der Steinkauz, der ebenfalls mit Vorliebe an solchen Orten wohnt. Ich erinnerte mich, wie oft ich schon in Steinhusen aus den Mauerlöchern des alten Kirchturms das sonderbare Schnarchen jenes putzigen Vogels vernommen hatte, und es erschreckte mich nicht mehr.

Trotzdem, wenn ich an diesem einsamen Orte geheimnisvoller Dämmerungen und düsterer Finsternisse Geschichten las, wie aus Hoffmanns Nachtstücken den furchtbaren »Sandmann«, oder das schauerliche »Majorat«, oder von Tiecks Märchen das unheimliche »Der blonde Eckbert«, oder den grausigen »Liebeszauber«, oder Arnims »Isabella von Ägypten« mit der furchtbaren Postkutschenladung grauenhafter Gespenster, oder das entsetzliche »ruhlose Herz« und ähnliches von Edgar Allan Poe, da sehnte ich mich doch ein wenig nach Sonnenschein und klarem Wetter, um wieder auf dem Kirchhofe zwischen den verfallenen Gräbern liegen zu können, wo es gar nicht ein bißchen graulich war.

So vergingen wohl acht Tage, während welcher Zeit ich für alles ringsum unzugänglich war und nicht über den nächsten Umkreis des Pfarrhauses hinauskam. Ja, so verloren hatte ich mich in die Irrgärten, Zauberwälder und Schreckenskammern der Romantik, daß ich nicht einmal dazu gekommen war, den nahen Aussichtspunkt aufzusuchen, von dem ich in die wirkliche Wunderwelt meiner Kindheit hätte schauen können. Der Duft der blauen Blume hatte mein Gehirn umnebelt, und ob dem Genusse der süßen Lotosfrucht hatte ich wie die Gefährten des Odysseus mein Vaterland vergessen. Da rief mich eines Abends Fräulein Pastorin an und ließ mich in ihr Zimmer kommen. »Frölen Pasturin« wurde sie nämlich von den Leuten genannt, weil sie ihrem Bruder die Frau ersetzte und alles tat, was sonst dieser zukommt, zum Beispiel die Bräute mit der bunten Flitterkrone zu schmücken, wenn sie zum Altare gingen, und dergleichen mehr.

»Mein Junge,« sagte sie, »wenn das so weiter geht, liest du dich ja wohl noch um dein bißchen Verstand. Du siehst schon ganz düsig aus. Mein Bruder sagt dir ja nichts, das ist selbst so einer, und ich sage immer, wenn er nicht das ewige Lesen an sich hätte, könnte er schon längst Präpositus sein. Aber, was ich eigentlich sagen wollte, auf dem Hofe wundern sie sich über dich, nicht über dein Lesen, sondern darüber, daß du dich gar nicht sehen läßt. Was denkst du dir eigentlich dabei?«

»Ich kenne sie ja gar nicht!« sagte ich in meiner Verlegenheit.

»Was 'n Schnack!« sagte Fräulein Thekla Liborius, »wo du doch den alten Herrn Wohland so genau kennst. Und Herr Wangelin ist doch sein Schwiegersohn und Frau Wangelin seine Tochter und die kleine Lana sein Enkelkind. Heut war die Erzieherin vom Hof hier, die sagte, seit sie weiß, daß du hier bist, spricht die kleine Lana alle Tage von dir, und jeden Morgen sagt sie: ›Heute kommt er gewiß,‹ und jeden Abend: ›Nun ist er wieder nicht gekommen!‹ Und alle wundern sich darüber. Die Erzieherin sagte: ›Der junge Mensch muß wohl gar keine Lebensart haben‹.«.

Als ich noch ein ganz kleiner Junge war, hatte ich einmal im Garten irgend eine Schandtat begangen, die meine Mutter vom Hause aus bemerkt hatte. Sie stand nun im offenen Fenster und hielt mir einen längeren Vortrag, der ziemlich ehrenkränkend für mich war und dessen lästige Dauer ich gerne abgekürzt hätte. Denn wenn meine Mutter auch »sanft und solide« war, so »furchtbar gemütvoll«, wie Mamsell Kallmorgen sich das vorstellte, war sie denn doch nicht. Da nun meine kindliche Ehrerbietung mich verhinderte, einfach auszukneifen, so benutzte ich eine Pause in der mütterlichen Ermahnung, um kräftig mit der Hand zu winken und in meiner Not auszurufen: »Du, geh da mal 'raus aus das Fenster!«

Das half auch, denn meine Mutter mußte lachen, und ihr Zorn verflog. Am liebsten hätte ich nun auch zu Fräulein Pastorin gesagt: »Du, geh da mal 'raus aus das Fenster!« aber das ging doch nicht gut, und ich mußte aushalten. Fräulein Thekla Liborius aber fuhr fort:

»Nun will ich dir mal sagen, wie ich mir die Sache denke. Morgen nachmittag ziehst du dir deine besten Sachen an, und dann gehst du hin. So zwischen vier und sechs paßt es da am besten. Wenn du jetzt nicht deinen Besuch machst, bleibt es an uns hängen. Du kannst durch unseren Gemüsegarten gehen und dann den Fußsteig durch die Wiese. In der Parkmauer ist eine kleine Pforte, da gehst du hinein und dann immer der Nase nach, da kommst du schon hin. Vielleicht begegnet dir ein großer Neufundländer« – sie sagte Njufaundländer, weil die gebildete Erzieherin das auch tat, es kleidete sie aber nicht recht – »der tut dir nichts, er wird dich aber begleiten und acht auf dich geben. Wenn das der Fall ist, dann ist Lana auch nicht weit, denn der Hund ist ihre Leibgarde. Na, und dann benimm dich so gebildet, wie du kannst, Wangelins sind feine Leute. Deine Stärke ist das ja nun gerade nicht, der Indianer kommt immer wieder bei dir durch.«

»Geh da mal 'raus aus das Fenster!« sprach es wieder in mir, allein ich sah doch ein, daß sie in der Hauptsache recht hatte, und versprach, nach allen diesen Vorschriften handeln zu wollen, worauf sie befriedigt war.

Am nächsten Nachmittag schmückte ich mich, soweit es meine mehr als bescheidenen Mittel erlaubten, und wurde von Fräulein Pastorin in Gnaden entlassen. Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg, denn ich war, wie viele Knaben meines Alters, besonders wenn sie auf dem Lande aufgewachsen sind, fremden Menschen gegenüber das, was man blöde nennt. Ganz besonders schwer lastete der Ausspruch auf mir: »Wangelins sind feine Leute.« Das war bedrückend für jemanden, der seinen eigenen Unwert in dieser Hinsicht so genau zu kennen glaubte wie ich. Große Eile, an den Ort meiner Bestimmung zu kommen, hatte ich nicht. Ich betrachtete mir die Quelle am Eingange des Gartens so eingehend, als hätte ich sie nie gesehen, und verfolgte ihren Lauf mit den Augen, bis sie im Röhricht des Sees verschwand. Meine Teilnahme am Gemüsebau war noch nie so groß gewesen wie heute. Die Erbsen, die Bohnen und die Mohrrüben standen gut, der Kohl ließ noch zu wünschen übrig. Bei den Gurken mußte ich bewundernd still stehen, denn sie waren wirklich sehr weit für die Jahreszeit.

Von den Wipfeln des Parkes herüber riefen die Pirole ganz unglaublich; sie mußten sich dort aus der ganzen Gegend zusammengefunden haben, denn das Pfeifen und Flöten nahm kein Ende, und dazwischen klangen unausgesetzt die Lockrufe Jäk, Jäk, oder das häßlich kreischende Rätschen, das man diesem wunderschönen Vogel und trefflichen Flötenkünstler gar nicht zutraut.

Der Vogel Bülow heißt auch Regenvogel oder, wegen des erwähnten häßlichen Schreies, Regenkatze, denn wenn er so fleißig ruft, gibt es Regen, sagen die Landleute. Ich überlegte mir, ob, wenn nun plötzlich ein furchtbares Gewitter losbräche mit Platzregen und Hagel, das nicht ein genügender Grund wäre, umzukehren, allein diese plötzlich aufsteigende Hoffnung zerfloß alsbald in nichts, wie jenes einzige weiße Wölkchen am klaren Sonnenhimmel, das soeben von der blauen Luft sachte aufgetrunken wurde. Ich schenkte noch den blühenden Kartoffeln am Ende des Gartens einige tiefsinnige Blicke, fand, daß sie zu großen Hoffnungen berechtigten, und stieg den niederen Abhang zum Wiesenfußweg hinab, der zu der kleinen Pforte in der breiten Parkmauer führte, die mit Buschwerk und Hopfen überwachsen war und aus deren losem Steingeröll im Laufe der Jahre stattliche Bäume hervorgestiegen waren. Alte, zum Teil schon überständige Bäume, Ulmen, Eichen und hier und da eine Rotbuche, und an freieren Plätzen einzelne mächtige Tannen, die ihr dunkles Gezweige bis auf den Boden hinab senkten, bildeten hier das Wäldchen des Parkes. Dazwischen zeigten sich Gruppen von verschiedenartigem Unterholz, in dem der Jelängerjelieber blühte, und einzelne sonnige Grasplätze mit Blumen und schwankenden Schmetterlingen. An schattigeren Stellen spann sich der Efeu am Boden dahin und überkroch mit seinen Ranken die grauen Felsblöcke, die hier und da aus dem Boden ragten, oder stieg in schnurgeraden Linien an den alten Baumstämmen empor. Der Fußsteig führte eine Weile den sanften Abhang hinauf und mündete dann in einen Weg, den ich nach rechts weiter verfolgte, denn in dieser Richtung mußte das Haus liegen. In den alten Bäumen nah und fern hämmerten die Spechte, und zuweilen ließ ein Häher seinen rauhen Schrei oder den täuschend nachgeahmten Ruf des Bussards hören, aber alles übertönte doch der Lärm der Pirole, die eine Strecke weiter hin vor mir offenbar Generalversammlung hatten. Einzelne streiften noch weiter herum, denn auch über mir hörte ich zuweilen den schönen Flötenruf oder sah den goldblitzenden Vogel durch den Sonnenschein fliegen.

Nun senkte sich der Weg wieder zum Grunde, denn das Wäldchen ward hier von einem Bächlein gekreuzt, dem Abflusse des Sees, der eigentlich weiter nichts war, als eine Ansammlung verschiedener Quellen, die aus dem Abhange des langgestreckten Kirchenhügels entsprangen. Das kleine Wässerchen rieselte auf dem Grunde eines breiten und tiefen Einschnittes dahin, zwischen großen und kleinen Steinen, die seinen Lauf beengten und mannigfaltig machten. Ich lehnte mich eine ganze Weile auf das Brückengeländer von weißem Birkenholz, um dem lebendigen Wässerchen zuzuschauen, wie es sich durch die Steine wand und kräuselte und wirbelte und in der Sonne blitzte, und wie es schließlich zwischen den üppigen Wäldchen von goldig blühenden wilden Balsaminen, die an den feuchten Stellen aufgeschossen waren, verschwand. Aber die Pirole ließen mir keine Ruhe. Es war, als ob sie alle nur nach mir riefen: »Hier sind wir ja! Wo bleibst du denn? So komm doch nur! Raaasch! Vogel Bülow! Vogel, Vogel Bülow! Goldvogel, Goldvogel!«

Ich hatte in all diesen Tagen in den Traumbildern der Phantasie gelebt, und nun erschien mir die Wirklichkeit wie ein Märchen, und das Gefühl überkam mich, ich ginge wunderbaren Dingen entgegen. Darin konnte mich nur bestärken, daß plötzlich am Ende eines kurzen, laubüberwölbten Seitenganges, der in das Innere des Gartens zu führen schien, ein riesiger Neufundländer stand; goldbraun und weiß gefleckt, stattlich wie ein Löwe sah er aus dem leuchtenden Scheine eines einfallenden Sonnenlichtes ruhig auf mich hin. Ein leiser Luftzug ging nach dieser Richtung, er mußte mich wohl schon gewittert haben, ehe er mich sah. Ich erinnerte mich der Anweisung des Fräuleins Liborius und ging ruhig auf ihn zu. Er sah mich nur aufmerksam an, als ich vorüberschritt, und gab weiter kein Zeichen der Anteilnahme an meiner unbekannten Erscheinung von sich, als daß er sich mir anschloß und ruhig neben mir herschritt, wie ein respektvoller Diener, der einen Fremden geleitet. Ich war auf einen breiten Weg gelangt, der das Wäldchen von dem großen Obst- und Gemüsegarten des Gutshofes trennte, und zugleich an den Mittelpunkt der großen Pirolversammlung, deren Ursache mir hier aus einen Blick klar wurde. Denn hier standen Kirschbäume, wie ich sie in dieser Größe noch niemals gesehen hatte und auch später nirgendwo gefunden habe. Wie die Eichen breiteten sie auf gewaltigen Stämmen ihre Kronen aus und waren bis in die äußersten Spitzen der Zweige von der Fülle ihrer süßen schwarzen oder goldroten Früchte bedeckt, ein wahres Paradies für den leckeren Kirschvogel, wie einer der zahlreichen Namen des Pirols lautet.

An dem Stamme des stattlichsten aller dieser Bäume, der etwa in der Mitte dieses weitläufigen Kirschwäldchens stand, lehnte eine leichte Leiter. Als wir in seine Nähe gekommen waren, erhob der Hund seinen Kopf und sagte ein paarmal ganz leise: »Wuff, wuff,« etwa wie jemand, der eine Meldung zu machen hat. Dann drängte er mich mit dem Kopfe ganz sanft nach jener Gegend hin. Kirschbäume haben kein dichtes Laubwerk, und ich sah sogleich, daß dort oben, wo sich der Hauptast mehrfach gabelte, jemand saß. Ein Zweig wurde beiseite gebogen, und ein rosiges Mädchengesicht schaute aufmerksam auf mich hin.

»Bist du Reinhard Flemming?« fragte sie, und als ich das bejahte, fuhr sie fort: »Kannst du klettern?«

Das war eine Frage, die mir eigentlich ein wenig an die Ehre ging, mir, Reinhard Flemming, der sozusagen auf Bäumen groß geworden war. »Natürellemang!« hätte ich fast gesagt wie Mudrach, doch beschränkte ich mich darauf, heftig zu nicken, was ungefähr dasselbe bedeutete. »Dann komm 'rauf!« sagte sie, »hier ist noch Platz.«

Da der Stamm nicht allzuhoch war, verschmähte ich die Leiter, sprang an einen wagerechten Ast, den ich eben mit den Händen erreichen konnte, und schwang mich hinauf. Der große Hauptast ließ sich wie eine Treppe ersteigen, es war ungeheuer komisch, hier von Klettern zu sprechen. Mit Mühe nur widerstand ich der Versuchung, eine kleine Vorstellung zu geben in meiner Fertigkeit, mich von Ast zu Ast zu schwingen wie ein Eichhörnchen und mich kopfüber von Zweig zu Zweig aus dem Baum fallen zu lassen, was eine Sonderkunst von mir war, mit der ich schon viel Beifall geerntet hatte. Aber ich unterdrückte mit männlicher Kraft den Trieb, »mich zu machen«, und saß ihr bald sehr gesittet auf einer Astgabel gegenüber. Zunächst betrachteten wir uns gründlich. Das Mädchen zählte etwa neun Jahre, war aber groß für ihr Alter, sehr ebenmäßig und schön gewachsen und lieblich von Angesicht. Das lang herabwallende, leicht gewellte, aschblonde Haar ward in der Mitte der Länge durch ein Band zusammengehalten. Sie trug ein silbergraues Kleidchen von einem zarten, aber festen Stoff, das am Nacken und an den Ärmeln und am unteren Rande mit allerlei zierlichem Gekräusel besetzt war, silbergraue Strümpfe, zierliche Schnürschuhe von perlgrauem Leder und als einzigen Schmuck, über jedes Ohr gehängt, ein Paar prachtvoller Kirschen. Im allgemeinen konnte man also wohl sagen, daß sie für das Klettern in Bäumen nicht gerade sportsmäßig ausgerüstet war, und wären nicht Gesicht, Nacken und Arme von Luft und Sonne leicht gebräunt gewesen, so hätte sie noch weniger für ihren luftigen Sitz in den grünen Zweigen gepaßt. Mir aber gefiel sie sehr gut so. »Weißt du eigentlich, wer ich bin?« fragte sie plötzlich. »Lana Wangelin!« antwortete ich. »Ja,« sagte sie, »eigentlich heiße ich aber Insulana, wie meine Mama, die doch auf einer einsamen Insel geboren ist, aber alle sagen Lana zu mir. Und nun will ich mich bei dir bedanken. Das wollt' ich schon lange. Ich wollt' es dir schon mal in einem Brief schreiben, aber Fräulein Kiekebusch sagte, das schickt sich nicht.«

Dabei beugte sie sich weit vor, indem sie sich an der einen Zweiggabel festhielt und die Füßchen hinter den Ast klammerte, ergriff meine Hand und drückte sie mächtig.

Ich muß wohl ein wenig wie ein rechtes Schaf ausgesehen haben, denn sie sah mich verwundert an und sagte: »Du weißt wohl gar nicht, wofür ich mich bedanke?« Ich fing an, es zu ahnen, und wurde rot wie eine Himbeere. Da ich mich nun aber dieses Errötens schämte, so multiplizierte es sich naturgemäß mit sich selbst, und ich wurde so rot, daß es schon nicht mehr schön war.

Aber Lana hatte keine Gnade: »Du hast doch Großpapa das Leben gerettet,« sagte sie, »das sagen alle, und das ist doch so wunderschön von dir. Und glaubst du, ich weiß nicht, wie du hierher nach Borna gekommen bist? Weil du furchtbar krank gewesen bist und nicht in die Schule gehen kannst. Und wovon bist du so krank geworden? Weil du das große Feuer hast mit ausmachen helfen, du und dein Freund. Das hat ja in der Zeitung gestanden, Papa hat's vorgelesen und hat gesagt, das sieht den Jungs ähnlich. Wo es was zu retten gibt, sind sie gleich da.«

»Ach, es hat uns ja bloß Spaß gemacht!« sagte ich abwehrend.

Sie aber beachtete das gar nicht und beugte sich noch einmal vor, mir beide Hände entgegenstreckend, so daß ich dasselbe tun mußte, um sie zu halten, weil sie sonst aus ihrem Sitze herausgerutscht wäre, und da sich dabei unsre Köpfe sehr nahe kamen und ich sozusagen wehrlos war, so küßte sie mich. Ich half Lana nach diesem geglückten Überfall, ihren sicheren Sitz wieder zu gewinnen, und hob auch mich in den meinen zurück. Sie saß mir strahlend gegenüber und nickte mir zu.

In der ganzen Zeit waren wir gleichsam eingetaucht gewesen in eine unablässige Fülle von Pirolgesang, untermischt mit dem Ratschen der Lockrufe und dem Jäk, Jäk der Jungen. Die schönen, flüchtigen Vögel, die Männchen prachtvoll in Goldgelb und Samtschwarz, die Weibchen und Jungen bescheidener in ein vornehmes Zeisiggrün gekleidet, flogen ab und zu, kamen und gingen, leuchteten hier aus dem Laubwerk hervor und blitzten dort durch den Sonnenschein und machten durch ihre Rastlosigkeit und den unablässigen, nie abreißenden flötenden Gesang den Eindruck einer weit größeren Anzahl, als wirklich vorhanden war. Denn alle diese schwarzgoldenen Vögel, die jungen Stümper sowohl als die alten Meistersänger, waren bestrebt, ihr süßes Mahl durch unablässigen Gesang zu würzen und alle ihre verschiedenartigen melodischen Flötenrufe und weniger lieblichen Töne unausgesetzt von sich zu geben, und da man sie verhältnismäßig selten dabei sah, so war es oft, als sängen die Bäume selber. Ich stelle mir den berühmten singenden Baum des Märchens immer wie einen großen Kirschbaum voll flötender Pirole vor. Die Vögel sind flüchtig und sehr scheu, allein ihrem Lieblingsgerichte, den süßen Kirschen, gegenüber, noch dazu, wenn sie unmittelbar neben einem Walde stehen, vergessen sie alle Scheu und sind auf die Dauer weder durch Schreckschüsse noch Scheusale zu vertreiben. Einzelne wagten sich sogar in den Baum, in dem wir saßen, allerdings nicht, ohne mit erschrecktem Flügelklatschen plötzlich zu entfliehen. Aber sie kamen wieder und waren dann schon dreister. »Das ist nur, weil du da sitzt,« sagte Lana, »dich kennen sie nicht. Vor mir sind sie gar nicht bange. Neulich ist der König mir so nahe gekommen, daß ich dachte, er würde mir die Kirschen von den Ohren nehmen.« »Der König?« fragte ich verwundert.

»Der Vogel Bülow-König!« sagte Lana ernsthaft. »Horch!« rief sie dann mit gedämpfter Stimme und ohne sich zu bewegen, »das ist er!« Ein herrlicher Flötenruf, laut und voll wie Orgelton, erschallte ganz in der Nähe. Desgleichen hatte ich noch nicht gehört. Dann rauschte es leicht durch das Laubwerk, und ich erschrak, denn durch eine Lücke der äußeren Zweige des riesigen Kirschbaums sah ich plötzlich den Wundervogel. In der geflügelten Welt sind die Männer das schönere Geschlecht, und außerdem ist ihnen die Gnade verliehen, daß ihre Schönheit mit dem Alter immer noch zunimmt. Ach ungleich verteilt sind die Güter dieser Erde, und jetzt in meinen alten Tagen, wo ich dieses schreibe, muß ich seufzend denken: »Ach, warum bist du kein Pirol geworden?« Der Vogel hatte gerade einen ruhigen Augenblick, putzte zunächst ein wenig an seinem Gefieder und sah dann nachdenklich vor sich hin. Wirklich, ein königliches Geschöpf, stattlicher als alle anderen. Das wundervolle satte Goldgelb seines Gefieders war unvergleichlich, es gibt kaum ein schöneres Gelb in der Natur, und wenn man von einem tiefen Samtschwarz sagen darf, daß es leuchtet, so war das hier das einzig richtige. Er saß so nahe, daß ich die rote Iris seiner Augen und die braunrote Farbe seines Schnabels, der aussah, als hätte ihn unablässig vergossenes Kirschenblut also gefärbt, und den kleinen Goldfleck auf dem schwarzen Flügel deutlich erkennen konnte. Unterdessen waren die anderen mit Gesang und Flötenspiel und eifrigem Schmausen ringsum beschäftigt; bei der sonstigen Stille hörte man fortwährend, wie hier und da aus dem Schnabel verlorene Kirschen klatschend zu Boden fielen.

»Siehst du ihn?« fragte Lana flüsternd, die meinen Kopf und meine Augen so aufmerksam nach einer Seite gerichtet sah.

»Ich sehe ihn!« antwortete ich ebenso leise, und nun wendete sie langsam und fast unmerklich das Köpfchen nach derselben Richtung, denn jede sonstige Bewegung hätte den Vogel verscheucht.

Dieser aber machte plötzlich einige merkwürdige einleitende Töne und begann ganz leise einen sonderbaren, putzigen Gesang, ein wunderliches Gewäsch aus krächzenden, schnalzenden und schulenden Tönen, das rasch dahinrieselte und mit dem bekannten Liede gar keine Ähnlichkeit hatte. Aber mitten heraus aus diesem komischen Geleier ohne jede Vermittlung und ohne jeden Übergang flogen ab und zu wie Raketen die herrlichsten Flötenrufe, daß man in Erstaunen geriet über diese unvergleichliche Vogelkehle, in der die größten Gegensätze, putziges, heiseres Gekrächze und wundervoller Wohllaut, unvermittelt nebeneinander wohnten. Ich wußte damals nicht, daß ich etwas hörte, das sehr wenigen bekannt war und erst in der neuesten Zeit zur allgemeinen Kenntnis gelangt ist, nämlich den eigentlichen Grundgesang des Pirols, den man nur aus nächster Nähe vernimmt und zu dem die weit hörbaren schönen Flötenrufe nur den Überschlag bedeuten. Hätte ich geahnt, daß ich etwas hörte, was dem größten deutschen Ornithologen, Johann Friedrich Naumann, unbekannt geblieben ist, so würde ich dieser Gesangsoffenbarung wohl mit mehr Andacht gelauscht und sie nicht einfach schnurrig gefunden haben.

Aber Se. Majestät wurden plötzlich aufmerksam auf etwas, unterbrachen sich in ihrer musikalischen Unterhaltung, stießen ein gewaltiges Räätsch aus und begaben sich zu den Vorposten, wo plötzlich ein Kampf ausgebrochen war. Auf einem der entfernteren Kirschbäume hatten sich in aller Stille einige Stare eingefunden, um an dem köstlichen Schmause teilzunehmen. Unter Anführung des Königs waren sie aber bald vertrieben, denn diese streitbaren Vögel wagen sich sogar an Häher, Krähen und Elstern, wenn sie ihnen ins Revier kommen, und schlagen sie mutig in die Flucht.

»Sie werden euch alle Kirschen aufessen!« sagte ich zu Lana, als die Pirole ringsum ihren Siegesgesang erhoben und sich mit frischen Kräften über die beliebte Speise hermachten.

»Das sollen sie,« sagte Lana, »dazu sind sie da. Das sind meine Goldvögel, die kommen aus dem Märchenlande. Papa sagt, sie bleiben nur ein Vierteljahr hier, dann kriegen sie wieder Heimweh nach dem Märchenlande, wo sie zu Hause sind. Aber nun wollen wir in den Garten gehen und dann zu Mama. Komm!«

Damit stieg sie eilfertig hinab, und ich folgte ihr. Der schöne Neufundländer, der beschaulich dort gelegen und nur zuweilen nach einer Fliege geschnappt hatte, erhob sich langsam, reckte sich ein wenig und drängte sich zutraulich an seine Gebieterin, die ihm den Nacken kraute und sagte: »Das ist Leo, der ist immer bei mir. Weil Mama sich doch so vor dem Wasser fürchtet. Leo hat schon furchtbar viele Menschen aus dem Wasser gezogen. Das ist sein Schönstes. Wenn Leo bei mir ist, darf ich überall allein hingehen.«

Wir gingen nun den breiten Steig entlang, der den Park vom Obstgarten trennte; sie hatte ihre kleine, feste Hand sachte in meine geschoben, und Leo folgte uns bedächtig. Zur Seite im Wäldchen senkte sich der Grund zu dem breiten und tiefen Einschnitt, in dem, von den stattlichen Wipfeln einzelner Bäume überwölbt, das kleine Bächlein, zuweilen in einem Sonnenstreif aufblitzend, zwischen moosigen Steinblocken und Farnkraut dahinrieselte, und vor uns in der Öffnung am Ende des Steiges sah ich einen Platz sich weiten, aus dessen Mitte der mir schon bekannte schlanke Aussichtsturm emporstieg, aus einer kreisrunden, offenen Halle, die seinen Fuß umgab. Dahinter sah man Wasser blinken, das von einem bebuschten, niederen Hügelzuge abgeschlossen wurde. Wir traten auf den Platz hinaus – und nun öffnete sich zur Rechten eine weite, sanft gewellte Rasenfläche, mit Gebüschgruppen, einzelnen schönen Bäumen und leuchtenden Blumenbeeten geziert –, an dessen Ende das stattliche Gutsbesitzerhaus schimmerte. Zur Linken mündete der aus dem Wäldchen kommende Bach in einen ausgedehnten Teich, der den Platz mit dem Aussichtsturm zur Hälfte umschloß und durch den niederen, mit Buschwerk und einzelnen Bäumen bewachsenen Hügelzug, der hier den Garten abgrenzte, abgeschlossen war und durch einen tiefen Einschnitt in diesem seinen Abfluß fand. Binsen, Schilfrohr, Engelwurz, Rohrbomben und Weidengebüsch umsäumten seine flachen Ufer, und dazwischen blühte mannigfach die gelbe Iris und die weiße Zaunwinde. Am Rande des Rohrgürtels schwammen die blanken Blätter der Wasserrosen und tauchten mit goldenen Krönchen oder schimmernd weißen Blüten aus der Flut hervor.

»Wenn wir nun auf den Turm steigen,« sagte Lana, »wirst du dich wundern, was da alles zu sehen ist.«

Ich konnte es mir schon denken, sagte aber nichts. Wir gingen nun hinein und kletterten eine endlose Wendeltreppe hinauf, Lana mit den fixen Beinchen immer voran. Durch die länglichen Schlitze der Lichtlöcher, die, von Zeit zu Zeit sich öffnend, einige Helligkeit in den engen Raum brachten, dürfte ich nicht sehen, sagte sie, und ich versuchte auch, dies Gebot zu erfüllen, es konnte mir aber doch nicht entgehen, daß sich allmählich eine weite, lichte Welt und ungemein viel Himmel um uns ausbreitete. Wir kamen oben in einen kleinen Vorraum, wo die Wendeltreppe aufhörte und eine bequeme Leiter mit breiten Stufen durch eine offenstehende Falltür in das achteckige Gemach führte, das den Turm krönte. In diesem Häuschen war es sehr hell, denn der Raum hatte ein Glasdach, und nach Süden öffnete sich ein großes Fenster. Durch dieses sollte ich aber wieder nicht sehen, wie mir Lana vorher noch besonders einschärfte. Sie nahm mich dann gleich bei der Hand und zog mich an eine Tür, die nach Norden auf eine frei schwebende Galerie führte. Dort sah ich über die Wipfel des Obstgartens und des Wäldchens hinweg den Weg, den ich gekommen war, die Wiese, den halb zugewachsenen See und die Chaussee, die mit den Häusern, die sie begleiteten, beide in großem Bogen umschloß; ich sah das Pastorenhaus und den Garten, der hinter ihm aufstieg, und den Kirchhof auf dem Hügelrücken und die alte Kirche, die über dem Ganzen schwebte. Wir gingen um das Häuschen langsam herum und sahen das langgestreckte Gutshaus hinter den ausgedehnten Rasenflächen, mit hellen, gewundenen Wegen und überragt von fernen waldigen Hügeln, und gingen weiter auf die andere Seite des Häuschens, und dann kam es, dann kam der Ausblick, weswegen Lana mich so gespannt von der Seite ansah. Hinter dem Gartenteich, wo der kleine Bach den Hügelzug durchbrach und zunächst eine Reihe von hintereinander liegenden Karpfenteichen füllte, die durch buschbewachsene Dämme getrennt waren, zog sich ein immer breiter werdender Wiesenstreif in die Ferne, durch den sich der Bach träge fließend und an seinen Ufern durch Erlen und Weiden bezeichnet in vielfachen Bogen dahinwand, bis an ein breites Wiesenland, das die Ufer des ferne blinkenden Sees umgab. Zu beiden Seiten stiegen die Felder hinan, gefärbt mit den goldenen, grünen und braunen Tönen des Sommers, zuweilen von Hecken durchzogen und hier und da mit einzelnen alten Eichbäumen geziert, bis sie auf den Höhen an beiden Seiten dämmernder Wald umgrenzte. An beiden Seiten des Sees, aber ziemlich fern von ihm, zeigten sich zwei andere Höfe, Vorwerke der Herrschaft Borna, kleine Dörfer, die ihren eigenen Namen führten; ein schöner, stattlicher Besitz lag klar und übersichtlich, wie auf einer Landkarte, vor mir ausgebreitet.

Dies alles aber war mir in jenem Augenblick fast ganz einerlei, und meine Augen glitten in schneller Flucht darüber hin. Dahinter aber, in der Verlängerung des schönen Tales mit dem smaragdnen Wiesengrunde, lag das Paradies meiner Knabenzeit, mein unvergeßliches Jugendland. Dort zwischen waldigen Hügeln schimmerte weithin der Steinhusener See mit seinen grünen Inseln und Halbinseln und blau dämmernden Buchten, bis hinter ihm am Horizont blasse Höhenzüge auftauchten. Ich hatte meine Not, eine unmännliche Rührung zu unterdrücken, allein ich bezwang sie.

»Da ist der Uhlenberg!« rief ich »und Herrn Wohlands Haus mit Turm und Fahnenstange, ach wie deutlich. Siehst du die Fahnenstange?«

Lana nickte, denn sie hatte Augen wie ein Falke.

»Und da ist die Krebsbucht, wo der Bach einmündet und wo wir damals gekentert sind. Und hinter dem Uhlenberg guckt ein Stückchen von der Fischerinsel heraus, wo das Hexenhaus steht, und dahinter die Robinsonsinsel und ganz am Ende Steinhusen. Die Kirche ist ganz deutlich zu sehen, und der weiße Fleck, das ist das Haus von Herrn Martens, und die Scheuern sieht man und die Dorfkaten, und siehst du wohl, wo der kleine Dachgiebel herausguckt, aus den Bäumen, das war unser Haus. Und überall sind wir schon gesegelt mit unserem Albatros, mit dem alten und mit dem neuen, in allen Buchten sind wir schon gelandet.«

»Wir haben euch einmal gesehen mit dem Fernrohr,« sagte Lana, »als ihr um den Uhlenberg herumgesegelt seid, und da hat Großpapa die Seeflagge aufgezogen und dreimal geschossen.«

»Ach ja,« sagte ich, »das war damals!« »Wollen wir mal mit Großpapa sprechen?« rief Lana plötzlich. »Soll ich ihm mal sagen, daß du hier bist? Ach ja! Dann freut er sich! Dann freut er sich!«

Sie ergriff mich bei der Hand und zog mich nach der Hinterseite des Häuschens, und wir gingen durch die Tür hinein. Sie öffnete zunächst das Fenster nach Süden, und ich sah mich in dem Raume um. In der Mitte stieg der starke Fahnenmast durch die Spitze des Daches empor und war unten von einer runden Tischplatte umgeben; durch das Dach kamen allerlei Leinen herab, die über Rollen liefen, und der Tisch war bedeckt mit Flaggen von verschiedener Form und Farbe, während größere Fahnen der verschiedensten Art an den Wänden hingen. Lana zog nun kräftig an einer Schnur, die von der Decke kam, wodurch sich oben im Dach eine Wetterklappe öffnete und einen breiten Spalt frei machte, durch den die Signale ungehindert auf und nieder steigen konnten. Dann hängte sie einen weißen Wimpel an eine der Leinen und gab mir Anweisung, ihn empor zu hissen. »Der weht ganz oben am Mast,« sagte sie, »und heißt, daß wir sprechen wollen.« Sie befestigte dann eine rote Flagge mit weißem Kreuz an eine andere Leine und zog sie ebenfalls hoch. »Diese weht weiter unten am Mast,« sagte sie, »und heißt: Lana ist da! Wir haben alle unsere verschiedenen Abzeichen, Papa, Mama und Fräulein Kiekebusch auch.« Dann stellte sie eine Papptafel auf, die sämtliche Buchstaben des Alphabets mit den Abbildungen der dazu gehörigen Flaggenzeichen enthielt, und sah durch ein bereitstehendes Doppelfernrohr aus dem Fenster, in dessen Rahmen die Heimat meiner Knabenzeit stand, wie das Bild eines schönen Jugendtraumes, gemalt mit den Farben des Heimwehs und der Sehnsucht und der verklärenden Erinnerung. Wir standen beide am Fenster und sahen hinaus in die glänzende Welt. Die Schwalben jagten durch den Sonnenschein um den Turm, ein Schwarm Tauben schwenkte sich in rasendem Flug, bald mit den weißen Unterseiten hell aufblitzend, bald gleichsam in den Schatten ihrer dunklen Rücken versinkend, und fern über dem Felde schwammen in der hohen blauen Luft zwei Gabelweihen. Sie hatten sich in weiten Kreisen schon so hoch geschraubt, daß sie kaum noch sichtbar waren, doch tönte ihr gellendes Hiäh! noch deutlich herüber.

»Siehst du? siehst du?« fragte Lana plötzlich und nahm das Fernrohr an die Augen. Ich sah, wie in der Ferne an der Fahnenstange des Schlößchens auf dem Uhlenberge ein weißer Wimpel emporstieg und kurze Zeit darauf ein anderes rotes Zeichen darunter, das ich so eben noch mit bloßen Augen erkennen konnte. Lana lief an den Tisch, holte schnell ihr Zeichen herunter, hängte zwei andere Flaggen an und zog sie auf. »Nun sieh hin, mit dem Fernrohr, ob das rote Zeichen auf und nieder geht,« rief sie, »dann hat Großpapa verstanden.« Kaum hatte ich das ferne Signal ins Auge gefaßt, als auch schon die Wirkung kam und Lana schnell die Leine einholte und ein anderes Fähnchen ansteckte. So ging es rasch weiter; manchmal war das Signal aus zwei Flaggen, manchmal aus dreien zusammengesetzt, und zuweilen bestand es auch nur aus einer. Dann fragte sie: »Schreibst du dich mit einem t?« »Nein d,« sagte ich. Das d wurde aufgeholt und einige Male hin und her bewegt. »Das heißt, daß das Wort aus ist,« sagte Lana, »nun kommt das zweite.«

Da ich mir dies nun schon denken konnte, achtete ich auf die Tafel, wo die Buchstaben neben den Signalen verzeichnet waren, und verglich und sah, wie das Wort allmählich in die Luft stieg: »F-l-e-m-m-i-n-g.« Es erschien mir seltsam und höchst ehrenvoll, daß mein simpler Name auf so besondere und ungebräuchliche Weise durch den Luftraum wanderte. Wenn man sich zum ersten Male gedruckt sieht, erzeugt das eine ähnliche Empfindung. Ich versuchte nun weiter zu folgen, da mir aber das nächste Wort nicht bekannt war, so fand ich die Buchstaben zu den Flaggenzeichen nicht schnell genug, doch Lana half mir und nannte sie. Die Botschaft hieß: »Reinhard Flemming, hier. Gruß.« Vom Uhlenberg kam alsbald die Antwort. »Gruß. Morgen Brief.«

»Was er wohl schreiben wird?« sagte Lana, »ich denk mir was, ich denk mir ganz was Schönes. Was er mir versprochen hat an Pfingsten, als wir auf dem Uhlenberg waren. Und du gehörst auch mit dazu, das ist ja gerade das Schöne. Aber nun wollen wir zur Mama gehen.«

Das schöne, stattliche Haus und die ungewohnte Pracht seiner Einrichtung wirkten feierlich auf mich, und jene unbehagliche Stimmung befiel mich, die von dem Zimmer, das Adolfs Tante Malchen bewohnte, unzertrennlich war. Zwar schneeweiße gescheuerte Holzfußböden, die mit irdischen Stiefeln, besonders, wenn sie auch noch erdig waren, kaum begangen werden konnten, gab es hier nicht, aber der Gartensaal, den wir zuerst betraten, war mit Marmorfliesen belegt, und von den weißen Wänden schimmerte vergoldetes Ornament; in den anderen Zimmern aber schritt man lautlos über weiche Teppiche dahin, schwere dunkle Mahagonischränke blinkten im warmen Glanz ihrer Politur, die Polstermöbel waren mit Seidenplüsch und anderen kostbaren Stoffen überzogen, und an den Wänden hingen englische Kupferstiche in schwarzpolierten und ganz wirkliche Ölbilder in goldenen Rahmen. Nach der Sitte der Zeit gab es rote, gelbe und grüne Zimmer, in denen überall nur ein und derselbe Farbenton herrschte, was mir unendlich vornehm vorkam, denn in solcher Vollendung hatte ich das noch nicht gesehen. Ich dachte mir, schöner könne der Großherzog in seinem neuen Schlosse auch nicht wohnen. Zuletzt kamen wir in ein blaues Zimmer, wo Frau Wangelin an einem Erkerfenster saß und mit einer Handarbeit beschäftigt war. Ich sah gleich, daß man aus diesem Fenster auch den weiten Blick über das Land, auf die Insel Uhlenberg und auf das Haus des Herrn Wohland hatte. Die schöne Frau begrüßte mich freundlich und war gütig gegen mich. Sie war wortkarg wie ihr Vater, doch das wenige, das sie sprach, hatte einen Ton, der von Herzen kam. Ihr Blick war meist ins Weite gerichtet, wie eines, der in der Ferne die unendliche See rauschen hört. Als Herr Wohland damals an der großen Muschel horchte und dabei sinnend vor sich hin sah, hatte er ganz denselben Blick. Sie sah überhaupt ihrem Vater sehr ähnlich.

Dann fragte sie Lana: »Was wollte Großpapa?«, denn sie hatte gesehen, daß die Signale in Tätigkeit gewesen waren. »Ich weiß nicht,« sagte Lana, »aber ich denk mir ganz was Schönes. Morgen kommt ein Brief.« »So, so?« antwortete sie und sah nachdenklich in die Ferne.

Fräulein Pastorin hatte mir, ehe ich ging, noch besonders eingeschärft, ich solle nicht zu lange bleiben. Das wäre nicht fein, hatte sie gesagt. Spätestens um sechs Uhr müsse ich wieder zu Hause sein. Da Lana nun, ich weiß nicht, warum, aus dem Zimmer lief und ich mit der schweigsamen Frau allein war, die nur zuweilen eine kurze Frage an mich richtete, die rasch beantwortet war, so bedrückte mich die Vorstellung, daß ich nun verpflichtet sei, den Born meiner Unterhaltungsgabe sprudeln zu lassen, um so mehr, als dieser Quell, wie immer, mit Gewalt nicht fließen wollte. Darum begrüßte ich die Tatsache, daß eine vergoldete Bronzeuhr unter einer Glasglocke mit einer jungen Dame darauf, die beschäftigt war, mit dem Griffel der Geschichte etwas in ein Buch zu schreiben, daß also diese Uhr mit hellklingendem Ton halb sechs schlug, als eine Mahnung zum Aufbruch. Aber Aufbruch machen war doch die schwierigste aller Künste, die von viel älteren Leuten oft noch nicht beherrscht wird. Darum freute ich mich, als Lana wieder hereinkam. Da wurde es mir leichter. »Du, ich muß jetzt nach Hause!« sagte ich, »um sechs soll ich wieder da sein.« »Aber morgen nach Tisch um zwei,« sagte Lana, »mußt du wiederkommen. Nicht wahr, Mama?« Diese nickte. »Dann erzähle ich dir, was Großpapa geschrieben hat. Und jetzt bringe ich dich an die Gartenpforte.«

Ich verabschiedete mich dann, so gut ich konnte, mit meinem besten Bockstoßdiener und war froh, als ich wieder statt weicher Teppiche oder polierten Marmors schönen, knirschenden Gartenkies unter meinen Füßen hatte, und noch froher, als auch dieses abgezirkelte Kunstprodukt aufhörte und der Boden fester Gartensteige meine Schritte elastisch zurückgab. Wir gingen natürlich nicht ohne Leo, der uns draußen erwartet hatte, diesmal einen anderen Weg, der von dem Aussichtsturme aus an dem Teiche vorbei auf einer Brücke über den kleinen Bach führte und im Randgebiet des Parkes einen großen Bogen beschrieb. In der Ferne lärmten noch die Pirole, an den alten, überständigen Bäumen klopften die Spechte, hier und da sang eine Mönchsgrasmücke ihr spätes Sommerlied, oder aus dem Gestrüpp leuchtete der kecke, schmetternde Schlag eines Zaunkönigs auf.

»Was morgen der Semmelmann wohl bringt, was er wohl bringt?« sagte Lana geheimnisvoll. »Wer ist das?« fragte ich. »Kennst du ihn nicht? Er kommt doch beim Pastor auch jeden Tag.«

Ich erinnerte mich, ein- oder zweimal dort so um die Mittagszeit einen ältlichen Mann in Kniestiefeln gesehen zu haben, der einen wunderlichen, abgeschabten Filzzylinderhut trug und einen sogenannten Maurerbart. Besonders aufgefallen waren mir seine blaßblauen Augen, die mit geisterhaftem Ausdruck unter dichten Brauen hervorschauten, und ferner die geschäftsmäßige Eilfertigkeit, mit der er, einen großen Tragekorb auf dem Rücken und bei jedem Schritt seinen eisenbeschlagenen Kreuzdornstock aufstoßend, die Chaussee entlang stiefelte.

»Das ist er, das ist er!« sagte Lana, als ich diesen Mann schilderte. »Sieh mal, der geht jeden Morgen früh von der Stadt weg und in einem großen Bogen über viele Dörfer und Güter. Und bringt Zeitungen mit und auch manchmal Briefe aus der Stadt und alles, was man vorher bei ihm bestellt hat, auch Semmel und Kuchen und Konditorsachen. Darum heißt er der Semmelmann. Am Steinhuser See liegt immer ein Kahn für ihn, damit setzt er über nach dem Uhlenberg, und da gibt es Frühstück, und bei uns kommt er gerade zu Mittag und ißt mit den Leuten. Und Geschichten kann er erzählen, die sind aber alle graulich. Er kann nämlich Geister sehen und kennt alle Gespenster in der ganzen Umgegend. Manchmal im Winter ist es ja noch dunkel, wenn er geht, aber das ist ihm gleich, er sieht sie auch bei Tage. Und wenn jemand stirbt in der Umgegend, ist ihm immer schon acht Tage vorher der Leichenzug begegnet, das sagt er aber immer erst nachher, weil es doch zu graulich ist. Er fürchtet sich aber gar nicht vor den Gespenstern, denn er hat seinen Kreuzdornstock und seinen Spruch. Den Spruch sagt er keinem, der soll aber so stark sein, daß jedes Gespenst auf der ganzen Welt davon entzwei springt. Pastors Johann, der doch immer mit dem Teufel was vor hat, dem hat er mal erzählt, er hätte den Teufel gesehn, abends im Schummern am kürzesten Tag beim Teufelsborn. Es wäre sehr schmutziges Wetter gewesen, und der Teufel hätte dort gesessen auf einem Stein und mit einem Pferdekamm seinen Schwanz ausgekämmt. Mit einem Male aber hat er den Semmelmann angesehen und eine gräßliche Fratze gemacht und ihm die Zunge ausgesteckt, die ist eine halbe Elle lang gewesen und so rot wie glühendes Eisen. Dann hat er hinter sich gelangt und mit einem furchtbar großen Stein nach ihm ausgeholt. Der Semmelmann hat ihm aber schnell seinen Kreuzdornstock vorgehalten und seinen Spruch aufgesagt. Da hat er den Stein hinter sich fallen lassen und sich gewunden, als ob ihn das Feuer brennte. Dann hat er gräßlich geschrien und ist kopfüber in den Teufelsborn gesprungen, und der hat gezischt und gedampft, als wäre da ein glühendes Plätteisen hineingefallen.« Dann lachte Lana hell auf, so daß ich mich eigentlich ein wenig verwunderte.

»Warum lachst du?« fragte ich.

»Ach, Papa sagt, der Semmelmann ist ein Späukenkieker und bildet sich all solchen Unsinn bloß ein. Und über das Wort Späukenkieker muß ich immer lachen, das klingt so putzig. Und siehst du, der Späukenkieker ist es ja, der morgen den Brief bringt von Großpapa. Komm nur ja morgen um zwei zur rechten Zeit. Nachher trinkst du bei uns Kaffee. Ich will dir nur sagen: der Semmelmann bringt morgen Maulschellen und Papmützen mit. Magst du die?«

Da ich diese wohlschmeckenden Gebäcke sehr hoch schätzte, so konnte ich diese verheißungsvolle Frage mit gutem Gewissen bejahen.

Unterdessen waren wir bei der kleinen Pforte angelangt und nahmen Abschied voneinander. Sie stand noch eine Weile mit der geöffneten Tür in der Hand und sah mir nach. Als ich den Gemüsegarten erreicht hatte und mich noch einmal umsah, gab sie mir noch ein Signal, indem sie die Hand mit zwei aufgespreizten Fingern hoch hielt. Ich erwiderte es, sie nickte und lief den kleinen Hügel hinan und verschwand zwischen den Bäumen des Parkes.


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