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Am anderen Morgen um halb neun Uhr lag Wahmkow schon mit einem starken Fischerkahn an der Landungsbrücke bereit. Ich hatte mich zwar zum Entsetzen von Mamsell Kallmorgen erboten, zu segeln mit Herrn Wohlands vortrefflichem Boot, das unseren Albatros weit übertraf, doch sie hatte gemeint, das ginge nicht und ginge nicht. »Das muß schon Fischer Mussehl seine große Boot sein, die nich so wiwagt, un Wahmkow muß rudern, das is ein furchbar verständigen Mann un kann allens. Na, wenn ich da bloß an denk, wie ihr hier früher ümmer gesegelt habt in die kleine Nußschal, die ganz schief lag, un mal waren sonne Bülgen, da versackte die Boot ümmer ganz ein, un bloß die Köpfen von die beiden Jungs kuckten noch 'raus. Igittegittegitt!« Und Herr Wohland, obwohl er ein früherer Seemann war, gab ihr diesmal recht, denn für die Sicherheit seines Enkelchens war ihm keine Vorsicht zu groß, und auch Leo mußte natürlich die Reise mitmachen. Auch in dem, was Wahmkow anbetraf, hatte Mamsell Kallmorgen recht, denn er war einer jener Tausendkünstler, wie man sie öfter auf dem Lande findet; er verstand sich auf die Jägerei, den Gartenbau und den Fischfang und wußte mit dem Zugmesser auf der Zugbank, diesen ursprünglichen ländlichen Handwerksgeräten, künstliche Sachen herzustellen, wie der beste Rademacher. »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann!« sagt Tell, die Zugbank ist aber noch mehr wert und erspart oft auch noch den Tischler und den Maschinenbauer, und man darf wohl sagen, daß die ersten Maschinen von der ländlichen Zugbank ihren Ursprung genommen haben. Ebenso verstand sich dann Wahmkow auch auf das Rudern und trieb hochaufgerichtet den schweren Kahn stetig mit seinem Ruder vor sich her, eine Kunst, die gelernt sein will.
Wir umfuhren zunächst die Nordspitze der Insel und nahmen dann unsern Kurs nach Süden. Meine Absicht war, in derselben Bucht auf dem Rosenwerder zu landen, wie damals, als wir unser Robinsonsleben antraten, nachdem wir durch heftiges Schaukeln der Jolle einen Orkan aus Westsüdwest vorgetäuscht und Notschüsse abgefeuert hatten. Die Rettungsbucht hatten wir sie nachher getauft. Das Wasser war fast spiegelglatt, und die Bilder der Insel wie die der waldigen Seeufer standen, nur wenig von einem leichten Flimmer verzerrt, dunkel in der klaren Flut, durch einen schimmernden Lichtstreif vom Lande getrennt. Möwen und Seeschwalben tummelten sich in der Luft mit segelndem Flügelschlag und schossen zuweilen auf den klaren Spiegel nieder, daß das Wasser aufspritzte, oder schwammen in der Ferne, kaum eintauchend, leicht wie Schaumflocken. Einmal schnitten wir einer Schar schwarzer Wasserhühner den Weg zum Rohre ab, und als wir näher kamen, standen sie auf und liefen mit klatschenden Flügelschlägen gleichsam über das Wasser dahin, erst in der sicheren Ferne wieder einfallend, wo jedes in der Fahrt des Weiterschwimmens einen langen Streifen hinter sich her zog.
Wir ließen den Uhlenberg hinter uns und kamen an die flache Fischerinsel mit ihrem breiten Rohrgürtel. An dem schmalen Kanal, der beide Inseln trennt, standen zwei Reiher auf und schwankten mit schwerem Flügelschlag um die Waldecke. Haubentaucher mit wunderlichen breiten Köpfen sahen von ferne auf uns hin und verschwanden plötzlich, nur einen Kreis sich langsam erweiternder und verschwimmender Ringe zurücklassend. Plötzlich, nach längerer Zeit, an einer Stelle, wo man es ganz gewiß nicht vermutete, waren sie wieder da. In allen Rohrbuchten und Rändern trieben sich Scharen von Wasserhühnern herum, und ihre Rufe schallten unablässig über den See. Auf dem breiteren Kanal, der die Fischerinsel vom Rosenwerder trennt, schwamm eine Familie von neun großen Sägetauchern, die Mutter voran, wie eine Flottille von kleinen Schiffen in der Ferne vorüber.
»Dat sünd Fischer Mussehl sin Frünn,« sagte Wahmkow, »dei verstahn dat Fischen lik so gaud as hei. Dei dükern all tauglik, un denn maken sei ünner Water ollig 'n Käteldrieben up dei Fisch. Na, un nu dei ierst, dat's sin Hauptfründ.« Damit zeigte er auf einen großen Raubvogel, der vor uns zwischen Rosenwerder und dem Seeufer wie suchend hin und her schwankte. Plötzlich rüttelte er eine Weile auf der Stelle, zog die Flügel an und stürzte dann senkrecht in das aufspritzende Wasser, das über ihm zusammenschlug. Aber gleich war er wieder da, schüttelte das Wasser von den Flügeln, stieß einen Freudenschrei aus und zog mit einem stattlichen Fisch in seinen Fängen dem Uhlenberge zu. Es war ein Fischadler, der dort in einer hohen Buche schon seit Jahren seinen Horst hatte.
»Dat wir'n Fisch von gaud drei Pund,« sagte Wahmkow, »dat kann hei grar noch lasten. Mennigmal mallührt em dat äwer, wenn dei Fisch tau grot is un hei sick so fast inklaut hett, dat hei dei Fäng' nich werre loskriegen kann. Fischer Mussehl hett mal vör Johren einen funnen, dei swemmte up't Water und wir dot. Un as hei em rut trecken wull, dor güng dat so swor, un toletzt keem dor'n Brassen mit rut von so'n Pundter säben, dei wir ok dot, harr äwerst noch so väl Kraasch hatt, dat hei den Adler ierst versöpt harr. Dat kümmt dorvon, wenn einer tau happig is. Nimm di nix vör, denn sleit di nix fehl!«
Bald hatten wir die Insel Rosenwerder zur Seite. Einige niedrige, bewaldete Hügelzüge liefen hier halbinselartig in den See vor und bildeten zwei Buchten. Ich deutete auf die erste und kleinere und begann Lana die Gegend zu erklären. »Die Bucht des blauen Vorgebirges,« sagte ich, »wo wir dem Fischfang oblagen. Dort stand zuweilen ein kapitaler Barsch. Jetzt biegen wir in die Rettungsbucht ein. Hier geriet unser braver Albatros durch einen Orkan aus Westsüdwest in große Bedrängnis, und wir feuerten Notschüsse ab, doch erreichten wir glücklich das Land. Daher der Name Rettungsbucht.«
Wahmkow trieb den Kahn mit kräftigen Ruderschlägen auf den Ufersand; er scharrte darüber hin und stand fest. Wir stiegen mit Leo aus, und während sich unser Fährmann behaglich aus seinem Schweinsblasenbeutel die Pfeife mit dem nach Tonkabohnen duftenden Tabak stopfte, Feuer pinkte und bald den süßlichen Duft des echten »Schippertobaks, dat Pund tau vier Schilling« vergnüglich in die Lüfte blies und uns freundlich, aber etwas ironisch grinsend nachschaute, machten wir uns auf den Weg.
»Hier,« sagte ich, »knieten wir nieder und küßten überwallenden Herzens zum Dank für unsere Rettung den Boden. Adolf sagte, es wäre Blödsinn, aber er mußte es doch, denn das gehörte sich so und steht in vielen Geschichten. Hier auf diesem kleinen Hügel pflanzten wir unsere Fahne auf und ergriffen Besitz von dem neuentdeckten Lande. Adolf sagte, es wäre Blech, feuerte aber doch, als ich eine kleine Rede gehalten hatte, drei Schüsse aus seiner Flinte ab. Nach dieser Zeremonie zogen wir weiter und entdeckten das Land. Hier auf dieser kleinen Wiese, die ein murmelndes Bächlein anmutig durchrieselt, pflegten wir frühmorgens die so erfrischenden Taubäder zu nehmen, ehe wir in den See gingen.« »Dabei schoßt ihr wohl Kopf heister?« fragte Lana, die solche Dinge schnell begriff. »Wir schossen Kopfheister,« antwortete ich feierlich, »oder wälzten uns im Grase, wie die Alligatoren in Arkansas.« Ich wußte zwar nicht, ob es Alligatoren in Arkansas gibt, und wußte auch nicht, ob sie sich im Grase wälzen, aber es klang so wundervoll echt. Es ist auch nicht unmöglich, daß der Titel des Gerstäckerschen Romans »Die Regulatoren in Arkansas« bei dieser klangvollen Wortverbindung Gevatter gestanden hat. Lana hörte meinen wunderlichen und gestelzten Redensarten zwar mit großer Andacht und Aufmerksamkeit zu, zuweilen glitt aber doch das schnelle Lachen über ihre Züge, das früher schon die Ausdrücke »Späukenkieker« und »Zipperlein« bei ihr erzeugt hatten.
»Hier,« sagte ich dann, als wir um eine Buschecke kamen, »bot sich uns der unerwartete Anblick einer menschlichen Ansiedelung, ein Blockhaus, umgeben von tropischen Pflanzen und Gemüsefeldern. In seiner Nähe bildete eine aufgestaute Quelle einen kleinen Wasserfall und murmelte melodisch. Mit Freuden ergriffen wir Besitz von dieser offenbar verlassenen Ansiedlung.« Ich zeigte mit einer großartigen Handbewegung auf das Wrack unserer einst mit Hilfe isern Hinrichs so kunstreich und mühsam erbauten Behausung. Denn ach, ein Wrack war sie nur noch zu nennen, ihr Anblick war trübselig und trauervoll. Auch die tropische Umgebung von Georginen, Stockrosen, Sonnenblumen, Feuerbohnen, Kapuzinerkresse und dergleichen war natürlich dahin und hatte hier, wie aus den Gemüsebeeten, einem heftigen Unkraut Platz gemacht. Wäre dort nicht eine Menge von mannshohen Königskerzen aufgeschossen, die eben begannen, ihre gelben Lichter anzuzünden, und wie stattliche Trauerleuchter diese Hüttenleiche umstanden, so wäre der Anblick noch trübseliger gewesen.
Wir gingen heran und besahen uns das verfallene Schlößchen einstiger Robinsonsfreuden. Es war bewohnt, denn auf der einen Bank, neben der Haustür, sonnte sich eine große Zauneidechse, ein Männchen, wie die leuchtend grünen Seitenstreifen zeigten. Es starrte regungslos auf uns hin, doch als wir näher kamen, stürzte es sich plötzlich herab und raschelte davon.
Stürmische Regengüsse hatten die mühsame Eindeckung des Knüppeldaches von festgestampftem Lehm und doppelten Grassoden zerstört und zum großen Teile weggeschwemmt, und die Sonne schien durch leere Latten hinein. Unsere schöne Wandbekleidung von alter Tapetenleinwand hing in Fetzen herunter, aus den Ritzen der Blockwände war das Moos gefallen, und der Wind strich hindurch. Inwendig war Moder und Grauen. Unsere beiden Bettgestelle waren noch da, aber das Heu darin bestand aus einer schwammigen, verschimmelten Masse, und welkes Laub und Unkraut bedeckten den Fußboden. Den großen schwarzen Nacktschnecken aber, die überall ihre silberglänzenden Spuren gezogen hatten, schien es ein Paradies zu sein.
Lana sah sich alles sehr aufmerksam an, dann kräuste sie das Näschen ein wenig vor dem Moderduft, der dort herrschte, und sah von der Seite zu mir auf. »Armer Robinson, armer Freitag!« sagte sie.
»Es gab eine Zeit,« antwortete ich, »da war es ein Wigwam für Häuptlinge; in diesen Wäldern gab es seinesgleichen nicht. Regensicher war sein Dach, und vor den Stürmen schützten seine Wände. Sie waren ausgekleidet mit köstlicher Tapetenleinewand, die einst einen Festsaal geziert hatte, würziger Waldwiesenduft umhauchte seine Betten, und süße Ruh und holde Träume wohnten darin.«
»Ach, Reinhard, was kannst du einmal für Schnäcke machen!« sagte Lana, halb bewundernd, halb belustigt. Ich war nun aber einmal im Zuge und ließ mich nicht beirren. »Hier,« sagte ich und zeigte auf einen bewachsenen alten Maulwurfshaufen vor der Hütte, »erlegte ich von meinem ambrosischen Lager aus mit nie fehlender Büchse einen Fuchs, der nächtlich unser Wigwam umschlich. Er gedachte uns einen Hasen zu rauben, der an den Sparren des Daches hing. Ich hatte ihn am selben Tage zur Strecke gebracht auf der Prärie des Westens. Hier in diesem Gebüsch fand ich den roten Räuber am nächsten Tage verendet. Ihm blieb nichts übrig, als mit verglasten Sehern zuzuschauen, wie wir am Abend den Hasen, nach Weise der Südseeinsulaner, in einem Erdloche zwischen erhitzten Steinen brieten und verspeisten. Ein köstliches Mahl, nur der Höcker des Bisons, im eigenen Fell und eigenen Saft geschmort, geht darüber.«
Lana lachte belustigt, und wir machten uns auf nach der Prärie des Westens. Lana war überall ein wenig enttäuscht, denn sie hatte sich alles viel wilder, einsamer und schauerlicher vorgestellt; bei dem freundlichen Sonnenschein des hellen Julitages war aber das idyllische Waldeiland überall so anmutig und heiter, und die Ausblicke auf Steinhusen und andere menschliche Ansiedelungen an den Seeufern waren so häufig, daß die Vorstellung weltabgeschiedener Einsamkeit nur schwer aufrecht zu erhalten war.
Ich erzählte ihr darum, indem ich den gestelzten Romanstil fallen ließ, noch einmal den ferneren Verlauf unserer Abenteuer, wie wir durch den unermeßlichen Regen, der das Dach aufweichte, aus unsrer Hütte vertrieben wurden und beschlossen, die letzte Nacht unseres Robinsondaseins auf dem Heuboden der verwahrlosten, aber regensicheren Hütte auf der Fischerinsel zuzubringen, wo wir dann die Gelegenheit fanden, das Komplott der beiden Einbrecher Driebenkiel und Nehls, die sich dort in der Nacht ein Stelldichein gegeben hatten, so erfolgreich aufzudecken.
Als wir dann zum Landungsplatz zurückkehrten, waren wir gerade »eine Piep Toback lang« fortgewesen, Wahmkow klopfte seine Pfeife aus, und wir machten uns wieder auf den Weg. Wir wollten heute die Insel von derselben Seite betreten wie damals, als wir unser Kanoe an einer Stelle, wo der Rohrgürtel schmaler war, ans Land trieben und es dort, nach echter Indianerart, im Versteck liegen ließen. Wahmkow sollte dann um die Insel herumfahren und uns an dem Landungsplatz der anderen Seite, an dem das Hexenhaus lag, erwarten. Er hielt das zwar für Unsinn, fügte sich aber unserer Anordnung und trieb den schweren Kahn in schneller Fahrt in den raschelnden Rohrgürtel hinein, bis er scharrend auf den Ufersand stieß. Wir sprangen vom Bug aus an das Land, und ich half Wahmkow, den festgefahrenen Kahn wieder zurückschieben, und dann sahen wir ihm zu, wie er sich durch das Rohr zurückarbeitete, auf der freien Fläche wendete und mit stetigen Ruderschlägen dem Kanal zustrebte, der auf die andere Seite führte. Auf dem flachen, eintönigen Inselchen war nicht viel zu sehen, und der Gürtel von Erlen und Weiden, der es umgab, ließ nur zuweilen durch eine Lücke über den Rohrwald hinweg einen Blick in die Ferne tun. Nur der Uhlenberg in der dunklen Majestät seiner Bekrönung mit uralten Eichen schaute stets über die Wipfel zu uns hin. Die Wiese war gemäht und das Heu beseitigt, es lagerte wohl schon wieder auf dem Boden des Hexenhauses. In dem weichen Sammet der geschorenen Fläche ging es sich aber sehr gut, besser als damals vor einem Jahre, als Adolf und ich durch das hohe, nasse Gras stolperten, um den Schutz der alten Hütte aufzusuchen. Wir sahen sie vor uns liegen mit dem bretterverschlagenen Giebel der Rückseite und dem zerzausten Dach, die Seitenwände halb versunken in buschigem Gestrüpp und fast mannshohem Unkraut. Wir gingen am Ufer entlang, um den Anblick ihrer Vorderseite zu gewinnen, die an einer offenen Landungsstelle dem See zugekehrt war. Dabei sahen wir zur Seite durch eine Lücke in den Erlenbäumen den Kopf Wahmkows, der ebenfalls der Landungsstelle zustrebte, über das fast mannshohe Rohr gleichmäßig dahinschweben. Immer am Ufer herum kamen wir so weit, daß wir den Anblick der Vorderseite gewannen mit der alten, schiefhängenden Tür, deren Klinke nicht mehr einschnappte, den kleinen, tückischen, schwarzen Fensteraugen, die auf uns hinstarrten, dem uralten, düsteren Holunderbaum zur Seite und dem riesenhaften Unkraut ringsumher, ein Bild wüster Vernachlässigung und Verwahrlosung. Als wir näher traten und ich die Tür öffnete, die sich mit einer wunderlich kreischenden verrosteten Hexenstimme in ihren klapprigen Angeln drehte, entstand ein Luftzug, und die vielen ausgetrockneten Flaschenkorke, die sich dort seit Jahren auf dem schmutzigen Estrich angesammelt hatten, huschten in gespenstischem Leben durch den leeren Raum, wie sie das bei solcher Gelegenheit immer zu tun pflegten. Leo streckte sich draußen hin und wartete auf uns. In dem häßlichen, schmutzigen Raume hatte sich wenig verändert, nur war er vielleicht noch etwas häßlicher und schmutziger als früher, oder schien mir das nur so im Vergleich zu Lanas zierlicher und sauberer Gegenwart. Auf dem schwarzgeräucherten Herde in der Ecke lag die unberührte Asche eines noch nicht lange erloschenen Feuers; die alte, wacklige Bank war noch da, im übrigen war der Raum leer, denn auch die Leiter fehlte, die sonst zu der viereckigen Öffnung in der Decke und zum Heuboden führte. Diese Öffnung war aber nicht dunkel wie sonst, denn von der Lücke des arg zerzausten Daches aus, die wir schon vom Uhlenberg aus gesehen hatten, schien das Licht hindurch. Auch hatte es dort natürlich durchgeregnet, der Fußboden zeigte darunter einen großen, feuchten Fleck, den Algen und Moos und giftig aussehende Kräuter begrünt hatten. Heu schien gar nicht mehr oder doch nur in geringer Menge auf dem Boden zu sein, denn durch die lose aneinander gelegten Schleete, die die Decke bildeten, schien hier und da das Licht. Bei dem Zustand des Daches war es ja am Ende auch nicht zu verwundern, daß der Boden zu seinem früheren Zwecke nicht mehr benutzt wurde. Lana kannte durch meine Erzählung die Lage, in der wir uns damals befunden hatten, ganz genau, wie wir uns dort, um im Trockenen zu schlafen, ins Heu gewühlt hatten und auf meinen Rat die Leiter zu uns heraufgezogen hatten, weil das in den Abenteurergeschichten immer so gemacht wird, wie sich dann die beiden Verbrecher nachts in der einsamen Hütte ein Stelldichein gaben, um den Plan des Einbruchs auf dem Uhlenberge zu verabreden, und wir sie belauschten, wie dann der eine davon, Jochen Nehls, der angetrunken war und nicht nach Hause rudern mochte, wegen des strömenden Regens auf dem Heuboden übernachten wollte, was nur dadurch verhindert wurde, daß die Leiter nicht da war und auch der Regen schließlich nachließ, und wie wir dadurch aus tödlicher Angst und Gefahr befreit wurden.
Lana sah sich alles mit der größten Aufmerksamkeit an, und diese Einrichtung schien endlich ihren vollen Beifall zu haben. Sie blickte wieder von der Seite zu mir auf und sagte: »Armer Robinson, armer Freitag! Da habt ihr wohl schöne Angst gehabt?«
»Na, ein bißchen!« sagte ich, »aber nachher war's schön, als die Kerls wirklich weg waren, und der Mond schien, und wir wieder auf dem Rosenwerder am Feuer saßen und Pläne machten.«
Plötzlich fuhr ich zusammen, und ein kaltes Grauen lief mir den Rücken herunter. Ich glaubte auf dem Boden ein Geräusch vernommen zu haben, einen leisen, schnaufenden Ton und ein Knistern, als ob sich dort jemand bewege. Es konnte ja der Wind sein, der frischer geworden war und mit den losen Rohrhalmen des zerfetzten Daches spielte, aber dennoch beschlich mich eine wunderliche Empfindung von der Nähe einer unbekannten Gefahr. Es war ein Geräusch gewesen, wie es jemand macht, der plötzlich aus dem Schlafe erwacht und sich aufrichtet, um zu lauschen. Und während ich auf weiteres horchte, schoß mir mit Blitzesschnelle allerlei durch den Sinn, die Gegenwart ganz frischer Asche auf dem Herde, der greuliche Affenkopf, den ich gestern vom Uhlenberg aus in der Dachluke gesehen zu haben glaubte, und besonders die fehlende Leiter. Konnte die nicht ein anderer zu sich heraufgezogen haben, gerade wie wir es damals auch gemacht hatten? Wenn dort eine Gefahr war, durfte ihr Lana auf keinen Fall ausgesetzt werden; ich ergriff ihre Hand und zog sie mit mir; die alte schiefe Tür begleitete unseren Ausgang mit einem quietschenden Hexengelächter. Der treue Leo erhob sich freundlich wedelnd und folgte uns geduldig wie immer. »Was ist, was ist?« fragte Lana verwundert. »Ich weiß nicht,« sagte ich, »aber mir war so, als wären wir da nicht allein. Ich will Wahmkow fragen, was der dazu meint.«
»Das ist ja prachtvoll graulich!« sagte Lana, machte aber doch unwillkürlich raschere Schritte.
Unser Fährmann lag schon an der Landungsstelle und hatte sich eben eine neue Pfeife angebrannt. »Na, all werre dor?« fragte er. »Wat is an denn' ollen gruglichen Katen ok tau seihn. Nu is dat Dack jo ok all twei un ward nich mihr flickt. Dat olle Ding weit jo blot nich, na wecker Siet hen dat ümfallen sall, süß wir dat jewoll all lang in'n Dutt schaten.«
Ich teilte ihm meine Beobachtungen mit, er aber lachte nur kurz auf. »Du warst jewoll nu ok'n Späukenkieker,« sagte er. »Meinst du, dat dor nu ein anner Robinsöhn spält, so as ji? Wenn sick dor wat rögt hett, denn is dat 'n Mohrt (Marder) wäst ore 'n Ilk (Iltis). Un dei Asch – gistern hebben s' dor dat Heu afhalt mit den groten Kahn, dor warden sei sick woll'n Füer anmakt hebben, so as sei dat ümmer dauhn. Na, un den Kahn heww'k äwern See führen seihn gisterabenb, dor leeg dei Lerre baben up, dei hebben s' mitnahmen, wil dat sei dor doch nich mihr brukt ward. Vorläden Harwst un Winter hett jo dei Regen un dei Snei dörch dat kaputte Dack dat ganze Heu taunicht makt, un is all tau Meß worden. Na, un denn kann dat jo ok sien, dat ein von dei Lür dor noch mal rupstägen is un hett sick dat noch mal anseihn, un dor mag hei jewoll ok dörch dei Lunk in dat Dack käken hebben. För dat gruglige Apengesicht, dor ward hei sick äwer woll schön för bedanken.«
Nun, was sollte ich tun? Das einzige, was mir zukam: Ich wurde sehr kleinlaut und schämte mich. Lana aber, das muß ich leider gestehn, machte sich einer treulosen Handlung schuldig, sie lächelte listig und schabte mir hinter Wahmkows Rücken Rübchen, oder »ätschte mich aus«, wie wir es nannten.
Als wir schon ein gutes Stück in den See hinaus und zur Seite des Uhlenbergs gekommen waren, sahen wir in der Ferne den Späukenkieker über den See zum Fischerhause rudern, in dem kleinen Kahne, den er zum Übersetzen zu benutzen pflegte. »Na, dei hett sick hüt äwer lang uphollen,« sagte Wahmkow, »un up den Steg an'n Uhlenbarg, dor sünd jo ok Lür. Dat is jo Herr Wohland sülwst un min Fritz, dei maken dei Jöll trecht, wat isse denn los?«
In diesem Augenblick sahen uns die Leute auf dem Landungsstege, wie es schien mit freudiger Überraschung. Herr Wohland legte beide Hände an den Mund und rief den Späukenkieker, der das Fischerhaus schon fast erreicht hatte, mit lauter Stimme an, daß es weit über den See schallte: »Wool, wool!« Als dieser sich umsah, machte Herr Wohland ihm Zeichen und deutete mit übertriebenen Gebärden auf unseren Kahn hin. Der Späukenkieker begriff und suchte durch heftiges Verneigen sein freudiges Verständnis auszudrücken. Bald darauf stand er auf dem Steg des Fischerhauses und schien durch groteske Gebärden und durch Schwingen seines magischen Kreuzdornstockes anzudeuten, daß er uns segne und beglückwünsche.
Wahmkow aber hatte seine brennende Pfeife auf den Boden gestellt und legte sich schärfer ins Ruder, daß das Wasser am Bug aufrauschte und der Kahn zwei lange, scharfe Streifen hinter sich ließ, mit einem Gewirbel kleiner Strudel zwischen sich, und so erreichten wir den Landungssteg bald. Herr Wohland ging dort zwar in Filzschuhen, aber ganz mobil herum, die Erregung, in der er sich offenbar befand, mochte ihn wohl seine Schmerzen vergessen lassen. Aus jeder Rocktasche ragte ihm ein Pistolenkolben hervor, und in der Jolle lagen zwei Gewehre und zwei Entermesser, eine Waffe, die ihm wohl noch aus seiner Seemannszeit her vertraut war. Kurz, es war die Ausrüstung zu einem Kriegszuge vorhanden. Auch Wasser war da, der böse Hund, offenbar sehr froh, zu außergewöhnlicher Zeit von der Kette befreit zu sein. Er tauschte mit seinem Freunde Leo die Zeremonien kameradschaftlicher Begrüßung aus, und dann wedelten beide wohlwollend.
Um es kurz zu machen: Der Semmelmann, der ja am gestrigen Nachmittag seinen Weg nach dem Uhlenberg zum zweiten Male hatte machen müssen und erst bei beginnender Dunkelheit den Rückweg antreten konnte, hatte den schrecklichen Driebenkiel gesehen. »Nich sin Gedanken,« hatte er gesagt, »nee, em sülwst. Wo ein Minsch mal wat utfreten hett, dor gahn sin Gedanken ümmer werre hen un seihn so ut as hei, un wer dei Oogen dorvör hett, so as ick, dei süht ehr. Wo oft heww ick em so all seihn. Dorvon heww ick äwer nie nix seggt, dat is ne Oart Späuk un deiht keinen wat, und wenn ick dat minen Krüzdurnstock vörholl, denn is dat weg. Gifterabend ätver in'n Schummern, as ick grar in fo'n weicken Mahlsand gah, wo dei Schritt nich tau hüren sünd, dor kümmt dor ut bei grote Dannenschonung ein Kierl rut mit'n groten Stock inne Hand un geiht twintig Schritt vör mi äwer den Weg. Un kriegt mi mit eins tau seihn un verfiehrt sick un dreiht den Kopp weg un seggt nich Gun Abend un geiht na den Fautstieg rin, wo dat na dat Äuwer bi dei Fischerinsel hen geiht. Un as ick dor ran keem, keek ick em na, un warraftig, dat wir Driebenkiel sine Gangoart; dat wir noch hell naug, un ick seeg dat ganz dütlich. Un donn dreiht hei sick üm un donn seeg ick dat Apengesicht un den Murerbort un dei flusigen Hoor, ganz so as früher, blot anner Tüg harr hei an, dorvon harr ick em nich gliek kennt. Un donn bögt hei af un geiht na't Holt rin.« Als Herr Wohland uns diesen Bericht etwas kürzer und mit etwas anderen Worten mitgeteilt hatte, machte Wahmkow eine Einwendung: »Wenn hei nu eben ierst ut dat Fängnis utbraken is, wo kann hei denn 'n Bort hebben un lange Hoor, dei warden dor doch so kort scheert as dei Schaap üm Johanni.«
»Richtig!« sagte Herr Wohland, »aber was tut er? Der verdrehte Kerl. Gleich damit hin zu Mamsell Kallmorgen. Jammert und weint. Hat es ja ümmer gesagt. Will weg von die schreckliche Insel. Mudrach soll kommen mit seinen Kurakter und sei'n feurigen Säbel. Und Fischer Mussehl mit seine große Boot. Ach, da sünd ja die Kinder ein. Un sünd nach die Fischerinsel. Die hat er nu längst schon zu Mus gehauen. Mit sei'n Kuhfuß. Un Wahmkow auch un Leo auch, alle zu Mus.«
Herr Wohland hatte dann mit Fritz Wahmkow trotz seiner Schmerzen den Kahn ausgerüstet, um nach der Fischerinsel zu fahren, denn man konnte doch nicht wissen, wozu es gut war. Nun kamen meine Beobachtungen zur Geltung und das wunderliche Gefühl, das mich in der alten Fischerhütte befallen hatte. Herr Wohland beschloß, auch jetzt noch hinzufahren mit Wahmkow und seinem Sohn, um die Hütte und die Insel zu untersuchen, und sie nahmen außer Wasser auch Wahmkows ausgezeichneten Teckelhund Bergmann mit, der sich an der Landungsstelle angefunden hatte, sowie eine kleine Leiter, die schnell vom Hause geholt ward. »Du bleibst hier!« sagte Herr Wohland zu mir, als er merkte, wie gern ich mich angeschlossen hätte. »Befehlshaber der weiblichen Garnison! Beschützer der Damen! Wirst schon sehen! Liegen noch zwei geladene Pistolen auf meinem Tisch, die nimm dir! Die Weiber wollten sie nicht anfassen. Haben Säbel! Fassen sie an wie Feuerzangen.« Dann lachte er kurz und kletterte mühsam in die Jolle. Unter den kräftigen Ruderschlägen der beiden Wahmkows und dem gegenseitigen Abschiedsgebell der drei Hunde schoß das scharfgebaute Fahrzeug schnell davon. Wir sahen ihm nach, bis es hinter einem Waldvorsprung verschwand, und gingen dann mit Leo dem Hause zu.
Lana ergriff plötzlich meine Hand und sagte: »Sei mir wieder gut!« Ich sah sie verwundert an. »Du bist mir doch böse,« sagte sie, »von wegen« – und sie machte ganz verschämt die Gebärde des »Rübchenschabens«. »Ach bewahre!« beteuerte ich großartig, beinahe hätte ich »P!« gesagt wie der »borstige Igel«. Dieser hätte auch wohl gleich eine Geschichte bereit gehabt von seinem Onkel Emil, die das vorurteilsfreie Gemüt dieses Mustermenschen und seine erhabene Gleichgültigkeit gegen Beleidigungen in ein glanzvolles Licht gesetzt hätte.
Lana war zufrieden. Sie ergriff meinen Arm mit beiden Händen, schmiegte ihre Wange daran und ging so eine Weile dankerfüllt neben mir her.
Dann sprachen wir von dem neuen Abenteuer. »Ich glaube überhaupt,« sagte ich, »daß Wahmkow recht hat und daß Driebenkiel da gar nicht steckt. Es wäre ja auch zu dumm von ihm, dahin zu gehen, wo jeder ihn gleich suchen würde.«
»Ich hab aber doch Angst!« sagte Lana und schmiegte sich fester an meinen Arm. Um sie zu beruhigen, entwickelte ich so ausspintisierte Gedankengänge und tat eine so tiefe psychologische Kenntnis der Verbrecherseele kund, daß ich über meine eigene Weisheit in nicht geringe Verwunderung geriet. Das schien aber auf Lana nicht viel Wirkung zu machen.
»Wenn nur Großpapa erst gesund wieder hier wäre,« sagte sie, »und wenn er dich doch mitgenommen hätte!«
Diese Wendung, die ich als eine außergewöhnliche Anerkennung meiner Kriegergaben auffaßte, tat mir wohl, und ich konnte nicht umhin, Lana für ein sehr anständiges kleines Mädchen zu halten, mit dem Hand in Hand zu gehen für einen tapferen Comanchen nicht entehrend sein konnte. So kamen wir an das Haus und fanden es verschlossen, was sonst am Tage nie der Fall war. Alles rings war still und verlassen, kein Hundegebell meldete unsere Ankunft, nur Mamsell Kallmorgens große gelbbunte Katze war da, miaute sanft und kratzte bei der Küchentür an dem Schieber des Katzenloches, der geschlossen war. Die Besatzung dieses Kastells fühlte sich offenbar im Belagerungszustand, hatte alle Tore verriegelt, die Zugbrücken aufgezogen und die Fallgatter heruntergelassen. In diesem Augenblicke wurde aber der Schieber sachte geöffnet, die Katze verschwand mit nachringelndem Schweif im Innern, und die Öffnung schloß sich wieder. Wir gingen rasch an die Tür, ich klopfte stark an und rief: »Mamsell Kallmorgen, wir sind da, Reinhard und Lana!« Auf das Klopfen folgte sofort ein halb unterdrücktes: »Huch!« im Innern und hinterher ein Getuschel. Zuletzt verstand ich, wie Stina sagte: »Dor is nümms nich tau seihn!« Wir standen zu nahe an der Tür, als daß man uns vom Fenster aus gewahrwerden konnte, zumal dann, wenn man sich nicht ganz nahe heran traute; darum trat ich mit Lana zurück ins Freie und rief noch einmal: »Hier sind wir!« Dann hörte ich, wie Stina rief: »Sei sünd dat, sei sünd dat!« »Würklich?« rief Mamsell Kallmorgen, aber mit unterdrückter Stimme, in der sich Angst und Erleichterung wunderlich mischten. »Mein Retter von Gott gesandt un mein kleine süße Lana. Denn laßt ihr man rein. Aber vergeßt die Säbels nich. Un die Tür man bloß 'n ganz bischen aufmachen!« Wir hörten dann, wie der Schlüssel im Schloß gedreht und der Riegel zurückgeschoben wurde; das Festungstor öffnete sich nur so weit, daß wir hintereinander gerade hindurch konnten, und so traten wir ein. Die Garnison des Kastells nahm uns in Empfang, Stina und Frau Wahmkow, jede mit einem Säbel ausgerüstet, den sie richtig trugen wie eine Feuerzange, als wären sie im Begriff, ein widerwärtiges Tier, eine Maus oder eine Kröte, damit aufzunehmen, und Frau Wahmkow rief angstvoll: »Wo is min Mann, wo is min Mann bläben?«
Ich wandte mich mit meiner Antwort zugleich an Mamsell Kallmorgen. »Wahmkow ist mit Herrn Wohland und Fritz Wahmkow zur Fischerinsel gefahren, sie wollen dort alles absuchen und werden wohl bald wiederkommen,« sagte ich beruhigend. Mamsell Kallmorgen saß in ihrer weißen Küche auf einem weißen Stuhl an ihrem weißen Küchentisch, und auf diesem lag allerlei Gewaffen, in dessen Handhabung sie geübter war als in der Führung alter Kavalleriesäbel: ein kleines Küchenbeil, ein Zuckerhammer und ein ungeheures Aufschneidemesser. Jedesmal, wenn ihr Blick diesen kriegerischen Apparat streifte, malte sich ein leises Grauen in ihren Zügen.
»Auf die Fischerinsel is der gräßliche Kerl ja gar nich, wenn er da gewesen war, denn wär't ihr nich hier. Da is er schon weg, der hat sich längst aus'n Uhlenberg verstochen. Da sünd ja so gräsige alte Dornrümels und so'n schauderhaftes dichtes Gestrüpp, da könnt sich ja 'n ganz Regiment Soldaten ein verstechen, un kein ein könnt ihr finden. Un in das alte graugelige Steingrab, da is ganz gewiß so'n Leichenkeller ein, so as in alte Erbbegräbnissen, un wo's da rein geht, wenn einer das weiß, denn weiß das Driebenkiel. Un da sitzt er nu bei den toten König un lauert, bis es Nacht wird, un denn ... Igittegittegitt!« Sie wollte fortfahren, noch weitere schöne Möglichkeiten auszumalen, aber ich unterbrach sie, indem ich sie aufforderte, mir den Hausschlüssel zu geben, damit ich mir die Pistolen holen könne. Herr Wohland hätte mich zum Befehlshaber dieses Kastells ernannt, was Lana bestätigte, und mir diesen Auftrag hinterlassen.
»Gut,« sagte sie, »wenn Herr Wohland das gesagt hat, mich muß es ja denn recht sein; wenn du aber dir un andere Leute mit Schießgewehr unglücklich machst, ich hab denn keine Schuld. In meine Küch' kommst du mir aber mit die Schießdinger nich, ich hab so schon Angst genug. Sonne Dinger gehn ja ümmer los, wenn sie nich sollen, un wenn sie sollen, denn wollen sie nich. Sonne Jungs wie du, die müssen noch gar kein Gewehr inne Hand kriegen, sonst geht es so wie mit Hans Bernitt in Kalbow ...« Nun, die Geschichte kannte ich schon, und ich schnitt sie schnell ab, indem ich betonte, daß Herr Wohland mit den Leuten wohl bald zurückkommen würde und ich bis dahin meinen Auftrag ausgeführt haben müßte. »Gut, gib ihn den Slüssel, Stina,« sagte Mamsell Kallmorgen, »un wenn er dann ßu Mittag staats schönes warmes Essent 'ne Kugel in die Maag hat – meine Schuld is das denn nich! Herr du meines, Mittag, es is ja die höchste Zeit, da hab ich in meine Angst ja noch gar nich an gedacht, Stina, setz doch mal gleich die Balljong auf. Und denn schlacht die Aals un mach ihr ßurecht un hab dir da nich wieder so bei. Nee, machen Sie das man lieber, Wahmkowsch, Sie haben da bessern Verstand von. Stina kann lieber die jungen Hahns ßurecht machen ßu's Bratend, gerupft sünd sie ja schon. Die haben sonne spickenfette Brust, ganz süße kleine Hahns sünd das. Na, un denn nachher den Gurkensalat. Mit die Plinsen hat es noch Szeit bis ßuletzt, un Getoffels sünd ja auch noch nich geschält, das mach ich heut selbst, so fix kann das sonst doch keiner. Herr Gott, es is ja die höchste Szeit! Klein Lana, magst nich gern bischen Pfeffer pümpeln in den blanken Mörser? Aber halt deine Nas' da nich über, sonst beißt dir das in dein'n klein süßen Nüte.« Mit einem Male war die Besatzung des Kastells in der eifrigsten Tätigkeit. Die Säbel waren achtlos in die Ecke gestellt und jeglicher an seiner Arbeit. Besonders bemerkenswert waren die wunderbaren Spiralen, die sich wie durch Zauber von den Kartoffeln kräuselten, und die Schnelligkeit, mit der die fertigen Knollen eine nach der anderen in den Wassereimer plumpten. Ich aber zog mit meinem glücklich eroberten Schlüssel ebenfalls an die mir zugewiesene Arbeit, und hinter mir ward alles wieder verschlossen und verriegelt, nur das Katzenloch wurde geöffnet, damit ich den Schlüssel der Hauptfestung durch dies Türchen wieder abliefern konnte.
Auf dem bezeichneten Tische fand ich die beiden Donnerbüchsen, deren eigentlicher Beruf schon seit vielen Jahren die Wanddekoration war. Wenn auch ihr Aussehen etwas Urgroßväterliches hatte, so mußte man doch sagen, daß sie an Seelengröße den neueren Gewehren dieser Art weit, überlegen waren, denn sie schossen Kugeln vom Umfang einer Walnuß, und in den schwarzen Schlund des gewaltigen Laufes konnte nur ein gefestigtes Herz ohne stillen Schauder blicken. Sie waren noch mit riesigen Steinschlössern versehen, welche geheimnisvolle Maschinerie einem Gewehr etwas besonders Gefahrdrohendes verleiht, und ihre blanken Messingbeschläge funkelten Tod und Verderben, kurz, sie waren prachtvoll. Solche Pistolen mußte Rinaldo Rinaldini geführt haben oder Karl Moor oder der berühmte Seeräuber Kapitän Kidd. Ich klappte die Stahldeckel zurück und überzeugte mich, daß Pulver auf der Pfanne war, dann brachte ich die eine dieser Handkanonen in dem Ausschnitt meiner Weste unter, hängte das ungeheure Pulverhorn um, das daneben lag, steckte den Kugelbeutel und eine alte Zeitung in die Tasche und, mit dem anderen Feuerrohr in der Hand, verließ ich diesen Ort, wohlausgerüstet für einen langwierigen und andauernden Kriegsbetrieb. Und die Verse eines Lieblingsgedichtes summten mit durch den Kopf:
»Ein kurzer Arm, ein langes Schwert
Muß eins dem andern helfen!«
und wie es weiterhin heißt:
»Um Gott, Herr Vater, zürnt mir nicht.
Daß ich erschlug den groben Wicht,
Derweil Ihr eben schliefet«,
und so in Jung-Rolands Heldenstimmung zog ich auf die Wache. Als ich vor die Türe trat, fiel in der Ferne ein Schuß in der Richtung der Fischerinsel; es war nicht der scharfe Knall einer Büchse, sondern der dumpfere eines Jagdgewehres. Ich erschrak ein wenig und horchte angestrengt wohl eine Minute lang, aber alles blieb still. Das beruhigte mich, denn war dort ein Kampf im Gange, so mußte ihn der erste Schuß schon entschieden haben, sonst wären wohl sofort noch mehrere gefolgt. Als ich an den Kücheneingang kam, stand Lana als Wache am Fenster, pümpelte eifrig in einem goldglänzenden Mörser und schien ganz hingerissen zu sein von meiner kriegerischen Ausrüstung. Ich war tatsächlich bis an die Zähne bewaffnet, denn der lange Kolben der einen Riesenpistole ragte aus meiner Weste bis über das Kinn hervor, die andere trug ich der Bequemlichkeit halber über die Schulter gelegt, und in den unteren Regionen baumelte das ungeheure Pulverhorn und geriet mir zuweilen zwischen die Beine. Ich schob den Schlüssel durch das Katzenloch und trat meine Patrouillengänge um das Haus an, von Zeit zu Zeit mich vor dem Fenster wieder sehen lassend.
Wenn ich außer Sicht war, suchte ich mir wohl einen hellen Fleck an der Rinde eines Baumes aus und zielte sorgfältig und lange darauf, um mich zu üben.
Für mein Leben gern hätte ich einen Probeschuß abgefeuert, um die Handkanone dann nach allen Regeln der Kunst wieder zu laden, allein ich wagte es nicht, weil das die Garnison des Küchenkastells in tödlichen Schrecken versetzt haben würde.
Der Schuß aber, den ich von der Fischerinsel her gehört hatte, ging mir nicht aus dem Sinn und erfüllte mich zuletzt mit solcher Unruhe, daß ich das nächste Mal, anstatt das Haus und die anderen Gebäude zu umkreisen, schnell an den Landungssteg hinunterging und vom Steg aus über den See hinausschaute. Er bot ein Bild des tiefsten Friedens. Glattes glänzendes Wasser, das die waldigen Ufer wiederspiegelte, in das der leichte Wind matt schimmernde Streifen hineinschliff, und mittägliche Stille, die in sich selbst versunken über dem Ganzen träumte. Ich spähte eine Weile aufmerksam nach der Gegend, wo die Fischerinsel lag, aber nichts zeigte sich. Es war dort so einsam wie auf dem See Glimmerglas in den fernen, wilden Wäldern des Westens. Ich ging bis an das äußerste Ende des Steges und blickte noch einmal aufmerksam das Ufer entlang. Da schob sich hinter der rohrumgebenen Waldecke, die das südliche Ende der Insel Uhlenberg bezeichnete, langsam und sachte etwas hervor, bis es sich schließlich von dem Rohrstreifen ablöste und ein Wasserstreif dazwischen lag. Es war die Jolle, und drei Personen saßen darin. Ich hielt mich keinen Augenblick länger auf und lief, so schnell es mir meine kriegsmäßige Ausrüstung erlaubte, den Berg hinauf, bis ich in Sicht des Küchenfensters kam, wo Lana noch stand. Am liebsten hätte ich nun einen Freudenschuß in die Luft geballert, allein mit männlicher Kraft bezwang ich dies Gelüst und rief nur: »Sie kommen, sie kommen!« so wie man ruft, wenn der König mit seiner jungen Gemahlin in die Residenz einzieht und die Spitzenreiter sich im Staub der Ferne zeigen, und lief dann eilig wieder hinab. Die Jolle hatte unterdessen schon den halben Weg vom Waldvorsprung bis zur Landungsstelle zurückgelegt, und die Insassen waren deutlich zu erkennen. Als Herr Wohland, der am Steuer saß, mich erblickte, hielt er etwas in die Höhe, was mir aussah wie eine dünne tote Katze, und über den See kam sein helles Lachen, in das Wahmkow und sein Sohn mit grunzenden Tönen einstimmten. Darin schien mir etwas Beleidigendes zu liegen. In diesem Augenblick kam Lana mit Leo den Abhang herabgelaufen und gesellte sich zu mir, und unter dem Begrüßungsgebell der drei Hunde legte die Jolle an. Als ihre Insassen mich näher ins Auge faßten in meiner kriegerischen Ausrüstung, sahen sie alle drei sehr freundlich aus, ich wußte eigentlich nicht recht warum, jedenfalls aber waren die Empfindungen, die ich den rauhen Seelen dieser Männer einflößte, weder mit Furcht noch mit Respekt verwandt.
Herr Wohland warf den toten Marder, den er vorhin hochgehalten hatte, auf die Landungsbrücke und stieg dann, von den beiden Männern unterstützt, mühsam aus. Ich mußte meine pomphafte Kriegsausrüstung zu den übrigen Waffen legen, und dann stieg er, auf meine Schulter gestützt und von Lana angefleht, von ihr dasselbe anzunehmen, langsam mit uns den Abhang hinauf. Als er dann endlich wieder in seinem bequemen Lehnstuhl saß und die Füße auf den Wiegeschemel gestreckt hatte, erzählte er: »Ganze Geschichte Unsinn! Verdammte Späukenkiekerei! Schaff den Kerl noch ab! Macht einem bloß die Leute verrückt!«
Sie waren also auf der Fischerinsel angelangt, Fritz hatte die Leiter zum Hexenhaus getragen und war dann als Schiffswache in die Jolle zurückgekehrt. Wahmkow hatte zunächst die Umgebung der alten Hütte untersucht und nichts Verdächtiges gefunden. Dann waren sie hinein gegangen. Herr Wohland hatte eine kleine Ansprache an den Boden gehalten, in der er, im Hinweis auf die zwingende Überredungsgabe einer doppelläufigen Jagdflinte und zweier Doppelpistolen, sowie ebenso vieler Entermesser, einen etwaigen Insassen der oberen Regionen aufgefordert hatte, mal ein bißchen 'runterzukommen, für welchen Zweck er ihm zu mehrerer Bequemlichkeit eine Leiter zur Verfügung stellen wolle. Nichts hatte sich gerührt. Dann hatte Wahmkow ihm zugeflüstert: »Herr Wohland, so as dei Hunn' sick hebben, is dor baben kein Minsch. Sall ick Männe mal rupschicken?« Er hatte dann leise die Leiter angelegt und den vor Aufregung zitternden Teckel am Nackenfell ergriffen, war dann einige Stufen hinaufgestiegen und hatte das mutige Hündchen auf den Boden gesetzt. Männe war sofort davongestürzt: Gebell, Fauchen und Prusten und ein fortstürzendes Etwas, das durch das Loch in der Eindeckung verschwand und sich offenbar auf das Dach rettete. Wahmkow holte den wütenden Männe, der unablässig durch die Dachlücke bellte und große Neigung zu haben schien, nachzuklettern, und als sie dann um die Hütte herumgingen, fanden sie am First, in eine Lücke des Daches geschmiegt, einen Marder, den Wahmkow auf Herrn Wohlands Rat sofort herunterschoß. Das Tier kollerte die schräge Dachfläche herab und ward von dem wütenden Teckel fast aus der Luft aufgefangen und lustig durchgeschüttelt, wobei Wasser sich durch ein fürchterliches Gebell und die wütigsten Kettenhundsprünge beteiligte. So war das Geheimnis des Hexenhauses gelöst, und während sich Herr Wohland, dem das Gehen schon sehr sauer fiel, in die Jolle zurückzog, gingen Wahmkow und sein Sohn um die ganze Insel herum, alles durchsuchend und vor allem darauf achtend, ob irgendwo im Rohr die Landungsspuren eines Kahnes zu finden wären. Eigentliche Verstecke gab es auf der mit einem schmalen Erlen- und Weidengebüschrand versehenen Wieseninsel nicht, und irgendwelche verdächtige Spuren wurden nicht gefunden. So konnte denn die Expedition nach kurzer Zeit nach der Insel Uhlenberg zurückkehren.
Unterdes herrschte in der Küche Waffenstillstand und fieberhafte Tätigkeit, so daß zur bestimmten Zeit, um ein Uhr, das Essen aufgetragen werden konnte, dem sich die kleine Gesellschaft nach den mannigfachen Abenteuern des bewegten Tages mit besonderem Behagen widmete. Herr Wohland saß immer so bei Tisch, daß er von seinem Platze aus durch das große Fenster nach Borna sehen konnte, und ein Doppelfernglas stand dann immer neben ihm. Als wir nun zum Schluß der Mahlzeit die wundervollen Plinsen mit Dank gegen die Vorsehung und Mamsell Kallmorgen beseitigt hatten, hob er plötzlich das Glas und sah aufmerksam hinaus. »Deine Mama ist da,« sagte er. »Will mit uns sprechen. Mach du, Lana. Verstehst es ja wie'n Alter.« Dabei fuhr er mit der Hand herab und rieb sanft sein schmerzendes Bein. Lana lief hinaus, um auf den Turm zu steigen. Nach einer Weile begannen die Signale zu spielen, und Herr Wohland, der alle Zeichen auswendig kannte, sah aufmerksam zu. Zuweilen knurrte er vor sich hin, ob vor Schmerzen in den Füßen oder wegen der Nachricht, die er ablas, war nicht recht zu erkennen. »Kann ich mir denken,« sagte er schließlich. »Hat Angst. Verdammter Späukenkieker. Hat geschwatzt.«
Bald darauf kam Lana in großer Aufregung hereingelaufen. »Mama ...!« begann sie. »Ich weiß!« rief Herr Wohland, »sag: Ich komme!«
Sie zog etwas verzweifelt mit den Schultern, kehrte aber gehorsam wieder um.
Dann griff Herr Wohland nach dem Klingelzug, der vor seinem Platze von der Decke niederhing, und nach einer Weile kam Stina herein. »Sast Lana inpacken helpen,« sagte er, »reist gliek af. Un segg Wahmkow: Sall sick trecht maken. Äwersetten na'n Fischer. Klock drei dor sin. Nahst sall hei na dei Stadt. Versteihst du? Na dei Stadt! Sall sick halw drei mellen. Bi mi. Af!« Stina verschwand, und Lana kam wieder. Sie wurde auf ihr Zimmer geschickt, um sich zur Abreise vorzubereiten.
Herr Wohland humpelte mühsam an seinen Schreibtisch am Fenster und fing emsig an zu schreiben. Ich kam mir ziemlich überflüssig vor und wollte mich eben sachte davondrücken, da sagte Herr Wohland plötzlich: »Kannst mitfahren. In die Stadt. Wenn du magst?« Er setzte mir dann auseinander, daß er Wahmkow mit einem Briefe zur Polizei schicke, wo er sich erkundigen solle, ob dort über eine Entweichung Driebenkiels aus dem Zuchthause etwas bekannt sei. Nötigenfalls sollte auf Herrn Wohlands Kosten an die Zuchthausverwaltung telegraphiert werden, damit Gewißheit in die Angelegenheit käme. Dabei könnte ich Wahmkow behilflich sein. Wir sollten mit dem Wagen, der Lana um drei Uhr vom Fischerhause abholte, bis zum nächsten Gute mitfahren, das bekanntlich zu Borna gehörte und wo Herrn Wohland zu jeder Zeit Wagen und Pferde zur Verfügung standen. Wir könnten dann vor fünf Uhr in der Stadt sein und spätestens um neun wieder hier, denn mehr als zwei Stunden würden unsere Besorgungen dort nicht wegnehmen.
Mir gefiel dieser Plan natürlich sehr gut, und Herr Wohland wandte sich eifrig seiner Schreiberei wieder zu, da schnaufte es plötzlich auf dem Gange, und es wurde bescheiden, aber fest an die Tür geklopft. Auf Herrn Wohlands unmutiges: »Herein!« trat Mamsell Kallmorgen ein, hochrot und in höchster Aufregung. »Herr Wohland, Sie sünd ümmer nobel ßu mich gewesen,« sagte sie, »un was den Szalehr betrifft, sonne Stell' gibt's nich in's ganze Land, abersten ich kann un kann hier nich mehr bleiben. Mein klein süße Lana wird ja nu auch schon abgeholt, un ich will auch weg von diese gräßliche Insel. Wo nu das Allergräsigste passiert is, wovon ich mir schon geängst hab Tag un Nacht. Un der Späukenkieker hat ihm doch gesehn. Vor Späuk hab ich keine Angst, abersten vor die Labendigen. Un wenn er auch auf die Fischerinsel nich sticht, wer weiß, wo daß er sich verstochen hat un lauert, bis es Nacht wird. Igittegittegitt. Un Herr Mudrach soll kommen so as damals. Wenn Wahmkow heut nammetag nache Stadt fährt, denn kann er ihm ja gleich mitbringen. Wenn Herr Mudrach nich kommt, denn sterb ich noch diese Nacht vor Angst.«
Sie war, während sie sprach, Herrn Wohland immer näher gerückt und stand nun vor ihm, während ihr die Tränenperlen eine nach der anderen über die Backen liefen, und plötzlich schien ein großer Entschluß über sie zu kommen und eine ungeheure Gefühlswelle über ihrem Haupte zusammenzuschlagen, denn plötzlich lag sie mit einem hörbaren Bums auf den Knien, erhob ihre gefalteten Hände und rief: »Auf meine Knie lieg ich vor Sie, Herr Wohland, und ich bitt Ihnen un fleh' ßu Sie, lassen Sie Herrn Mudrach kommen, un lassen Sie mir gehn. Ich will inne Stadt ßiehn. Da is die Polleßei, die einen beschützt, da is ein Mann, der ümmer bereit is un ümmer da un ümmer derjenige welcher, da is Ruhe un Frieden un nich ümmer die gräßliche Angst. Un in die erste Szeit, da kann ja Wahmkowsch einspringen, die is ja früher Herrenköchin gewesen un 'ne orntliche Frau, na un Stina, die hab ich ja auch 'n bischen beigebracht. Un wenn Sie denn eine neue Mamsell gefunden haben, Herr Wohland, denn wünsch ich man, daß sie Sie das Essent kocht mit ebensoviel Liebe un Gemüt, as ich das ümmer getan hab, ümmer un ümmer. Ob sie Sie aber auch sonne schöne Mettwurst ...« hier schien das Gefühl sie zu übermannen, und sie schluchzte laut auf, »... sonne wunderschöne Mettwurst machen kann, das laß ich ungesagt! – Den Reßept soll sie haben!«
Herr Wohland hatte während dieser dramatischen Szene, die für ihn den Gipfel der Unbehaglichkeit bedeutete, fortwährend geknurrt und gebrummt und abgerissene Wörter ausgerufen und mehrfach die Hände erhoben, um anzudeuten, daß sie aufstehen solle; jetzt rief er energisch: »Aufstehn! Hinsetzen! Eher sag ich kein Wort. Hoch!« Das wirkte. Mamsell Kallmorgen wollte sich erheben, aber sie konnte es nicht, denn sie trat sich auf den Rock und nagelte sich durch ihre eigenen Zentner auf dem Fußboden fest. Erschrecklich war es anzusehen, wie sie mit den gewichtigen Folgen guter Selbstverpflegung in fruchtlosem Kampfe stand. Ich sprang schnell zu, umfaßte sie, stemmte mich halb niederkniend mit der Schulter unter ihre Achsel und wuchtete sie mit Aufbietung aller meiner Kräfte glücklich hoch.
»Mein Retter, von Gott gesandt,« sagte sie zärtlich und sank in einen Stuhl, zu dem ich sie führte. Dort saß sie und schnappte nach Luft, die Tränen aber liefen immer noch ebenmäßig über ihre Wangen herab.
Herr Wohland suchte ihr nun ruhig auseinanderzusetzen, was er geplant hatte, und meinte, wenn man auf diese Weise erführe, daß Driebenkiel noch immer sicher hinter Schloß und Riegel säße, was er für ziemlich gewiß halte, so würde sie sich doch am Ende wohl beruhigen, und dann brauche schließlich auch Mudrach nicht zu kommen.
Davon aber wollte sie nichts wissen.
»Und wenn sie das alle sagen, daß er hinter sieben eisernen Türen in sein Prisong sitzt un mit sieben eisernen Ketten arme Wand festgemacht gemacht is, un wenn unse Großherzog selbst mich das sagen läßt, davon werd ich doch meine Angst nich los. Un Herr Mudrach muß kommen heut abend, sonst sterb ich noch diese Nacht. Un ich fühl ja nu schon, wo meine Szustände kommen. Un wenn ich meine Szustände krieg, Herr Wohland ... Herr Wohland, ich bün noch nie nich auf die Knie gefallen vor ein Menschen, bloß vor meinen Herrgott inne Kirch, aber wenn's nich anders is, un wenn Sie anders gar kein Erbarment haben un wenn ich auch ... wenn es mich auch furchbar schwer wird, wieder in die Höchte zu kommen, Herr Wohland, denn ...« Damit war sie merkwürdig jugendlich aufgesprungen, hatte ein paar Schritte vorwärts gemacht und war zum zweiten Male im Begriff, auf ihre Knie niederzubumsen, als Herr Wohland mit Donnerstimme schrie: »Halt! Kerl soll kommen! Morgen reisen Sie! Himmelkreuzdonnerwetterschockschwerenot! Ab!«
Ihre Tränen hörten plötzlich auf zu fließen, sie faltete die Hände, und mit einem Tone, sonderbar gemischt aus Wonne, Wehmut und Vorwurf, sprach sie: »O, Herr Wohland!«
Dann wandte sie sich zu mir: »Mich is nich ganz extra, mein lieben Jung, mich is so snurrig in die Knie, komm, stütz mir'n bischen«. Sie legte den Arm auf meine Schulter, und ich führte sie hinaus. Als wir draußen den Gang bis zur Haustür hinter uns hatten, war sie plötzlich wieder ganz mobil und sagte mit gedämpfter, aber tiefer Entrüstung: »Kerl, hat er gesagt, was'n furchbaren Mann. Un so'n gräsigen Fluch hab ich in mein ganzes Läbent noch nich gehört. Na, was ich sagen wollt: Du kommst ja nu mit nache Stadt, un du wirst ihm jawoll auch sehen. Un denn sagst du ßu ihn: Da wär einer, der hätt gesagt, er war ümmer da un ümmer bereit un ümmer derjenige welcher, un nu wär es soweit. Un wenn er dann fragt, wer ihn das sagen läßt, dann sagst du: Mamsell Christiane Kallmorgen, un er möcht auch ja un ja die Eisens nich vergessen.« Und dann richtete sie sich auf, so hoch sie konnte, und sprach mit unnatürlich tiefer Stimme: »Christiane, ich wache vor dir! Ach Gott, nee, das sag ihn bloß nich, das hab ich ja man bloß geträumt un hab mir damals ja schon gewundert, daß er mein'n Nam' wußt. Na, un nu will ich hingehn un meine Sachen packen un will dafür sorgen, daß Herr Mudrach heut abend sein schönes Essent kriegt. Was meinst du zu'n Abgerührten? Der hat ihn damals so fein gesmeckt. Wir haben ihm ja erst gestern gehabt, na aber er doch nich. So was klarrt ihm seine Alwine woll nich ßurecht. Un heute abend bringst du ihm mit, un dann hab ich meine beiden Retters wieder in's Haus, ganz so as damals – wenn ich da man bloß an denk, dann is mich das Herz so leicht as so'n Vogel!«
Um halb drei Uhr stellte sich Wahmkow bei Herrn Wohland ein, um seine Instruktionen zu holen. Dieser hatte noch einen besonderen Brief an den ihm persönlich bekannten Polizeisenator geschrieben und gab Wahmkow in meiner Gegenwart die nötigen Anweisungen. Lana war bei Mamsell Kallmorgen, um Abschied zu nehmen, und war heftig beim Abtrocknen, als sie zurückkam, und nach einer Weile setzten wir drei über nach dem Fischerhause. Ein leichter Jagdwagen hielt schon dort. Wir fuhren zum nächsten Gute, wo ich Abschied von Lana nahm, und bald rollten Wahmkow und ich auf einem gewöhnlichen Sackwagen mit schnellen Pferden der Stadt zu.
Wir hatten Glück in der Erledigung unserer Geschäfte, denn als wir beim Stadthause vorfuhren, fanden wir Mudrach dort anwesend. Man war dort vollständig unterrichtet; das Gerücht, daß Driebenkiel in der Gegend des Steinhuser Sees gesehen worden sei, hatte am frühen Vormittag die Stadt durchlaufen und war auch zur Polizei gedrungen. Man legte anfangs geringen Wert darauf, da man von der Strafanstalt keine Nachricht hatte, was sicher der Fall gewesen wäre, wenn ein so bemerkenswerter Spitzbube dort schon vor vielen Stunden ausgebrochen wäre, beschloß aber doch, den Semmelmann einem Verhör zu unterziehen. Dieser aber war schon vor einer Stunde zu seinem täglichen Rundgang aufgebrochen.
»Da hatte ich denn,« sagte Mudrach, »die sozusagen ganz famoste Idee, unserm Herrn Polizeisenator vorzuschlagen, in diesem kriminalistischen Fall an die Strafanstalt eine telegraphische Depesche zu schicken. ›Alabonnöhr, Mudrach,‹ sagte er, ›Sie sind ein Juwel.‹ Natürellemang, da wußten wir ja nun bald, daß er sozusagen ganz komfortabel in seiner Zelle sitzt und von Ausbrechen keine Rede ist.«
So war denn die Hauptsache unsres Auftrages schnell erledigt; ich erbot mich, das Weitere zu besorgen, und Wahmkow fuhr zu einem Gasthof, um die Pferde auszuspannen und einige kleine Aufträge auszuführen, ohne die niemand, der vom Lande in die Stadt fährt, entlassen wird. Um sieben Uhr sollte von dort aus die Reise wieder zurückgehen. Ich hatte nun Gelegenheit, Mamsell Kallmorgens Bestellungen bei Mudrach anzubringen und mit dem nötigen Eindruck vorzutragen. Er lockerte sich dabei ein paarmal mit dem Finger die enge Halsbinde, aber seine Augen leuchteten in einem stolzen Feuer und nahmen den bekannten Blick an, der durch Wände und Mauern, über Wiesen, Wälder und Felder in die Ferne dringt.
Schließlich aber ließ er die Vorhänge seiner Lider halb herab und kraute sich sehr bedenklich seinen Nacken.
»Urlaub?« sagte er, »und heut noch und wo möglich morgen den ganzen Tag, wo doch sozusagen gar nichts vorliegt und die Sache gar nicht mehr kriminell ist? Der Dienst, der Dienst, mein junger Freund, wo bleibt der Dienst? Ja, nämlich sozusagen. Weißt du, was es bedeutet, eine Residenz einen ganzen Tag ohne Schutz zu lassen? Natürellemang, da sind ja noch die Kollegen, aber ...« und er steckte die Hand in den Busen und sah mit seinem furchtbarsten Blick vor sich hin, als wolle er an einem Beispiel zeigen, wo einzig das richtige Auge des Gesetzes zu suchen sei.
Da zog ich den Brief des Herrn Wohland an den Polizeisenator hervor und bat ihn, damit sein Heil zu versuchen. Dies schien ihm nur mäßig einzuleuchten, denn er zuckte mächtig die Achseln, während er den Brief mit gesenkten Lidern betrachtete, und ging scheinbar wenig hoffnungsvoll damit ab. Nach kurzer Zeit kam er zurück, hatte die Hand in den Busen gesteckt und sah erhaben aus: »Ich habe meinen Urlaub schlank durchgesetzt,« sagte er, »so quasi im Handumdrehen, sozusagen stante pede. Nämlich, meine Anwesenheit dort wird zur Beruhigung der aufgeregten Population dienen, dies ist der Status quo. Ich stehe somit zur Disposition, mein junger Freund, eventualiter sofort, sozusagen«.
Ich teilte ihm den Namen des Gasthofes mit, von dem aus um sieben Uhr die Fahrt abgehen sollte, und gewann nun noch über eine Stunde Zeit, um meine Eltern aufzusuchen, von den Abenteuern der letzten vierzehn Tage zu berichten und über die Kräftigung meines Organismus die beifälligsten Urteile entgegenzunehmen.