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Mit einer Art von feierlicher Würde hatte der Kriegszahlmeister Johann Heinrich Merck die ihm angekündigten Gäste empfangen. In einer nahegelegenen Stallung waren die vier Rosse pfleglich untergebracht worden. Die beiden Grafen, der Baron und der Frankfurter Doktor, dieser vom Hausherrn unter den Arm gefaßt, hatten die Wohnung betreten, wo ihnen die Hausfrau, ein extrafeines Spitzenhäubchen auf den hochgepuderten Haaren, im langen Schleppengewande entgegentrat. Zwei wirkliche Reichsgrafen zu Besuch – das war bei Mercks noch nicht geschehen! Eine blumengeschmückte Tafel, mit bestem Frankenthaler Kaffeeservice, legte Zeugnis ab von der widerfahrenen hohen Ehre. Waren doch die vier Herren, durch Baron Haugwitz' Vermittlung, bei Hof in Audienz empfangen worden! Frau Kriegszahlmeister wußte das zu schätzen.
Merck selbst war minder von Ehrfurcht durchdrungen. Mit voller Unbefangenheit und im ganzen ziemlich wortkarg, beobachtete er seine Gäste, die ihrerseits Wert darauf legten, sich möglichst kraftgenialisch zu gebärden. Vor allem wünschten die beiden Stolberg in diesem Hause nicht als Grafen, sondern als Dichter gewürdigt zu werden. Sie wußten, wer Merck war und daß selbst ihr Freund Goethe mit hohem Respekt, vielleicht sogar ein wenig beklommen zu ihm als dem schonungslosesten seiner Rezensenten aufblickte. Da wollten sie zeigen, daß sie auch zur Zunft gehörten, mit allen neusprudelnden Quellwassern gewaschen waren und als Mitarbeiter des »Göttinger Musenalmanachs« auf der Höhe der Zeit standen.
Die schmetterndsten Tagesphrasen rasselten nur so aus ihren Mündern, von Wieland sprachen sie mit Geringschätzung, während sie sich der persönlichen Freundschaft ihres über alles gepriesenen Klopstock emphatisch rühmten. Gleich ihm waren auch sie Dichter freiheitstrunkener Bardengesänge, die sie, in korrektestem Zeitstil, »Bardiete« nannten, und Fritz Stolberg ließ es sich nicht nehmen, seine noch ganz frische »Ode an die Freiheit« hochtönend zu rezitieren.
Nur Freiheitsschwert ist Schwert für das Vaterland!
Wer Freiheitsschwert hebt, flammt durch das Schlachtgewühl,
Wie Blitz des Nachtsturms! Stürzt Paläste!
Stürze Tyrann, Du Verderber Gottes!
Damit hatte er ehedem Frau Aja schon in Schrecken gejagt. Er erlebte die Genugtuung und Freude, daß Frau Kriegszahlmeister Merck gar sich furchtsam die Ohren zuhielt. Wozu die Kraftgenies dröhnend lachten!
Auch Goethe wurde dringend gepreßt, einige seiner freien Rhythmen zum besten zu geben. Er weigerte sich. Mußte aber dem stürmischen Begehren schließlich dennoch nachgeben und die Anfangsverse von »Wanderers Sturmlied« sprechen.
Wen Du nicht verlässest, Genius,
Nicht der Regen, nicht der Sturm
Haucht ihm Schauer übers Herz!
Wen Du nicht verlässest, Genius,
Wird dem Regengewölk,
Wird dem Schlossensturm
Entgegensingen –
Wie die Lerche,
Du da droben.
Merck nickte beifällig. Doch Goethe brach ab und war nicht dazu zu bringen, weiter fortzufahren. »Halbunsinn!« murmelte er. »Dichte heut ganz andere Sachen!« Darüber empörten sich die Stolberg und widersprachen lebhaft. Christian deklamierte aus dem Gedächtnis:
Den Du nicht verlässest, Genius,
Wirst ihn heben übern Schlammpfad
Mit den Feuerflügeln!
Wandeln wird er
Wie mit Blumenfüßen
Über Deukalions Flutschlamm,
Python tötend, leicht, groß,
Pythius-Apollo.
Fritz geriet wie in Raserei vor Begeisterung. »Heil Dir, Wolfgang Apollo!« rief er. »Auch Du zogest einst aus, den Pythondrachen der Tyrannei zu töten!«
Aber Goethe blieb unerbittlich. Wie Zwang überkam es ihn, dem, was ihm jetzt als Phrasengedresche erschien, den Garaus zu machen.
»Wenn nur«, spöttelte er, »der famose Held mit den Blumenfüßen im Flutschlamm nicht versinkt oder gar sich seine schönen Feuerflügel verdreckt!«
Er schielte ein wenig zu Merck hinüber, der ihn erstaunt, doch nicht unsympathisch mit den Augen maß.
Die Stimmung schien gefährdet. Da lenkte der ewig vermittelnde Haugwitz versöhnlich ein.
»So ist nun unser Freund Goethe!« rief er lachend. »Ihr wißt es ja selbst: oft schmelzend und wütend binnen weniger Minuten!«
»Und so wollen wir ihn nehmen!« vollendete Fritz Stolberg. »Wir kennen ja sein großes, edles Herz. Das erzittert förmlich in Gerechtigkeitsfieber. Und da tut er lieber sich selbst als einem anderen weh – Doktor Wehrwolf, der Götterliebling – stets am meisten Wehrwolf wider sich selbst.«
Im Nu war Goethes Stimmung umgeschlagen. Er streckte Fritz Stolberg die Hand hin, nannte ihn, was diesem stets am meisten schmeichelte, »Bruderherz« und dankte ihm, fast überströmend, daß er so tief in seinem Herzen gelesen habe. Merck staunte abermals.
Durchs Fenster fielen breite Sonnenstrahlen. Spätnachmittag war heraufgezogen. Der schöne Maitag lockte. So ward beschlossen, noch ein wenig hinaus in die Parks zu wandern.
Unterwegs erzählte Goethe von den um etwa drei Jahre zurückliegenden Darmstädter Tagen, als er in die »Gemeinschaft der Heiligen« aufgenommen war. Karoline Flachsland, damals noch Braut des gewaltigen Herder, hatte das veranlaßt. Sie führte als empfindsame Seele den schönen Ehrennamen »Psyche« und war aufs innigste befreundet mit zwei jungen Darmstädter Hofdamen, der ganz ätherischen Luise von Ziegler, genannt »Lila«, und der mit kranker Sehnsucht ins Erhabene gewandten, früh dahingerafften Henriette von Roussillon, der von Goethe einst so innig verehrten und poetisch gefeierten »Urania«. Das war ein Schwärmen durch die Buchenhaine des Bedunger Waldes und der fürstlichen Bosketts gewesen, wo geweihte Felsgesteine und säulengetragene Rundtempelchen als Weihestätten dienten. Mit besonderer Andacht, berichtete Goethe – jetzt nicht ohne einen kleinen ironischen Beiton –, waren sie zum Herrgottsberge, dem sagenumwobenen, gewallfahrtet, und dort hatte auch er selbst auf einem Felszacken, der sogenannten »Teufelsklaue«, mit eigener Hand seinen Namen eingehauen.
»Ich werde Euch jetzt zu Lilas Laube führen«, sagte Goethe. »Vielleicht finden wir sie dort, mit ihrem rosengeschmückten weißen Lämmchen, das den Vorzug genießt, mit ihr zu essen und zu trinken.«
Aber schon, bevor sie ihr Ziel erreichten, kam Lila ihnen entgegen, sanft eingeschmiegt in den Arm von Psyche, und begleitet von einem blassen, exzentrisch gekleideten jungen Mann, der in seinem Gang etwas Geziert-Schwärmerisches hatte.
»Das ist Leuchsenring«, flüsterte Goethe seinen Freunden zu. »Ihr wißt doch, dem ich in meinem ›Pater Brey‹ ein Denkmal gesetzt habe! Ein Menschheitsbeglücker der verstiegensten Art – das Musterbeispiel eines falschen Propheten!«
»Goethe!« riefen die Damen schon aus der Entfernung und kamen ihm eilig entgegen. Bei der Begrüßung durfte er beide umarmen und auf die Wangen küssen. Aufs angelegentlichste erkundigten sie sich alsbald nach seinen dichterischen Arbeiten, während Herr Dr. Leuchsenring sich ein wenig empfindlich zur Seite hielt. Um so interessierter näherte er sich den Grafen Stolberg, deren Bekanntschaft zu machen er sich ersichtlich zur hohen Ehre rechnete.
Lila und Psyche ließen Goethe, den sie den »Wanderer« nannten, nicht aus ihrer Nähe. Ihre Freude, ihn wiederzusehen, war ungeheuchelt, und so weckten sie auch bei ihm ein herzliches Erinnern. Als sie nach einer Viertelstunde, da ihre Wege sich trennten, voneinander sich verabschiedeten, schien ihre alte Freundschaft neu besiegelt.
Goethe selbst war bewegter, als er zeigen wollte. Gerade weil er fühlte, daß die Periode der Empfindsamkeit, in der jene bewußt verharrten, für ihn abgetan war, regte sich in ihm ein leise-trauerndes Gefühl. »Fast«, dachte er, »als käme ich von einem seelischen Begräbnis! – Aber leuchtet mir denn nicht ein neuer Tag?«
Er war im Vorwärtsschreiten – und es mußte so sein!
Daheim hatte er dann eine Stunde mit Merck allein.
Während schon der Abend mit stillem Leuchten sich herniedersenkte, saßen sie vor dem Hause, im Dämmer zweier weißblühenden Kastanien, nebeneinander auf der Bank.
»Du willst also bis zur Schweiz hinunter?« begann Merck das Gespräch. – »Und immer in Gesellschaft dieser auftrumpfenden Brauseköpfe, der beiden Grafen Stolberg, und dieses doch recht mediokren Baron Haugwitz?«
»Es sind gute frische Jungen, voller Begierde, das Leben zu erfassen, und mir von Herzen zugetan«, erwiderte Goethe.
»Das ist sehr schön von ihnen«, anerkannte Merck. »Trotzdem gefällt's mir nicht, daß Du Dich ihnen gar so sehr hingibst. Ich verfolge höheren Ehrgeiz mit Dir!«
»Und das ist wiederum schön von Dir!« lachte Goethe. »Aber ich wüßte wirklich nicht, was mir aus der vergnügten und manchmal stürmisch begeisterten Reisegesellschaft, in der Du mich erblickst, an Unzuträglichkeiten erwachsen sollte! Glaubst Du nicht, daß ich mich stets ganz so, wie ich will – in der Hand behalte?«
»Das gewiß! Wenigstens hoffe ich es.« Merck wiegte sorgend den Kopf. »Immerhin brauchst Du einen starken Vorschuß an Vertrauen. Sieht man Dich Dein Leben so dahinstürmen, oft im überraschendsten Zickzack, bald verheißungsvoll und genialisch, bald auch wieder verspielt und an Tändlerisches verzettelt, so fragt man sich wohl manchmal: wo das hinführen soll? Und was schließlich bei Dir die Oberhand behalten wird?«
»Willst Du mir mein Bestes rauben, Freund: meine köstliche Unbeschwertheit und innere Schnellkraft? Denn die habe ich mir, trotz allem, was mich durchrüttelt und manchmal so schmerzhaft hin und her wirft, stets bewahrt! – Und werde ich mir auch weiter noch bewahren, weiß Gott!«
»Gewiß, ich bewundere Dich deshalb. Aber ein wahrer Freund muß unerbittlich die Augen offen halten. – Sieh, Goethe: mehr als irgendein anderer glaube ich an Dich. Aber mehr als irgendein anderer zittere ich auch für Dich! – Ich fordere von Dir nichts anderes als das Höchste. Wehe Dir, wenn Du es schuldig bleibst! Doch wem schuldest Du es mehr als Dir selbst? Niemals würdest Du, bei Deiner vom stärksten Ehrgeiz getriebenen Natur, glücklich werden können, wenn Du Dir eines Tages sagen müßtest: ich habe meine dem Schicksal geschuldete Mission nicht erfüllt – nicht so, wie ich es wohl müßte! Das würde stärker in Deinem Innern brennen, als das höllische Feuer! Denn wen Du verlässest, Genius –! Ich mag es nicht ausdenken!«
»Merck! Merck!!! Tränen in Deinem Auge? Mann, Du lebst ja in Phantasiebedrückungen!« Heiß umklammerte Goethe des Freundes Handgelenk und blickte ihm fest ins Antlitz.
»Verzeih mir!« stotterte Merck. »Verzeih meiner vielleicht übergroßen und darum närrischen Liebe! – Aber Du ahnst kaum, Goethe, wie ich leide, wenn Du mir mitunter etwas Gedichtetes bringst, das ich nicht als voll bewerten kann. – Dein Faust, ja, aus jeder Zeile spricht da Dein Genie! Und, was ich fast noch höher schätze, Dein großes Herz! Aber dann kommt wieder halb gleichgültiges, halb hingeschleudertes Vers- und Prosagekritzel – und das könnten die anderen auch machen – und mitunter sogar besser!«
»Hältst Du mich für so arm«, rief Goethe, beinahe unwillig, »daß Du mir verwehren willst, hie und da mal ein paar unbedeutende Brocken von meiner Tafel fallen zu lassen?«
»Hie und da! Vielleicht! Aber keineswegs zu oft! Sieh, Goethe, ich möchte, daß Du mit der ganzen Seelenkraft, die Du hast, Dir Dein eigenes, Dein einziges hohes Ziel vor Augen hältst und unablässig danach strebst, es zu erreichen: dem Wirklichen poetische Gestalt zu geben! Im Gegensatz zu fast allen anderen – die danach trachten, das sogenannte Poetische zu verwirklichen! Dabei kommt dann lauter verschwommenes Zeug heraus. Sieh nur die Oden Deiner Freunde Stolberg an!«
»Ich lasse jeden dichten, wie er's meint und wie er's mag!« warf Goethe hin. »Und dichte selbst so, wie ich's muß!« fuhr er, schon ernster, fort. »Wenn Du sagst, Merck, es sei meine Aufgabe, dem Wirklichen poetische Gestalt zu geben, so hast Du das sehr fein erfühlt und ich danke Dir dafür. Es bewußt und gleichsam pedantisch mir zum Ziel zu setzen, verhindert mich jedoch meine Natur. Die kann einen gewissen Schwebezustand der Dumpfheit, aus dem sie schafft, nicht entbehren. ›Macht man das, was einem so einfällt?‹ läßt der kluge Lessing Minnas Kammerzöfchen fragen. Und so geht es auch mir. Vor nichts habe ich ärgere Furcht, als – etwas zu machen!«
»Damit entsprichst Du nur dem, was ich von Dir erwarte.«
»Dann aber noch eines: ich kann nur das dichten, was mir im Innersten die Seele abdrückt! Und sieht es zwiespältig in mir aus, so muß auch der Zwiespalt ans Tageslicht. Daher soviel Widerspruchsvolles: oft Höhnisches, oft Anbetendes in meiner Poesie! Wohl trachte ich nach Harmonie. Ja, ich bete manchmal inbrünstig, daß sie mir dereinst einmal, wenn ich innerlich zur Ruhe gekommen sein werde, geschenkt sein möge. – Aber heute? Da stürmt's noch in mir – und von einem Widerspruch fliege ich in den anderen, vom höchsten Glücksgefühl in tiefste Zerknirschtheit. Die Unsterblichen, wer sie auch sein mögen, haben eben alles auf meine Brust geladen, Wonne und Leid in ganzester Fülle. Das muß ich tragen – und trage es gern! Es ist mir eine Gewähr dafür, daß nichts Menschliches meiner Seele fern bleibt.«
»So suchst Du aus der Zerrissenheit selbst Dir einen Balsam zu saugen«, neckte Merck. »Das nenne ich mir in Wahrheit einen Künstler!«
»Spotte nur!« erwiderte Goethe gutmütig. »Vielleicht steckt hier ein tiefstes Geheimnis. Empfinde ich doch, was man ›Tücke der Götter‹ nennen könnte, manchmal als Gnade. Und meine: ich müßte ihnen noch dankbar dafür sein, daß sie mich so zwiebeln – daß sie alle Freuden und alle Schmerzen ganz auf mich häufen! Durch Zerrissenheiten hindurch trage ich ein lichtes Gefühl in mir, das mich stark und stolz macht. Es ist nichts anderes als jenes heimliche Bewußtsein der Begnadetheit. – Aber klingt das nicht wie Größenwahn?«
»Aus anderem Munde gewiß – nicht aus Deinem!« erwiderte Merck stolz. »Wofern Du nur immer bedenken möchtest, daß Gnade – verpflichtet!«
»Womit wir dann wieder bei der Moral angelangt wären!« neckte Goethe zurück, indem er sich erhob. »Und das ist just das Thema, vor welchem bei mir jede Diskussionsmöglichkeit aufhört. Wenn ich dichte, so tue ich es um der Glückseligkeit willen – aber nie und nimmermehr der Moral zuliebe. Ja, ich bin so frech, hierbei in erster Linie an meine eigene Glückseligkeit zu denken – und dann erst, möglicherweise, an die der anderen! Das ist natürlich höchst unmoralisch. Aber ich denke so: je tiefer und gewaltiger ich, dichtend, mich selbst beglücke, desto eher kann ich auch in die Seelen fremder Menschen einen Glücksstrahl senden!«
»Und das ist dann auch – moralisch!« trumpfte Merck auf.
»Aber nicht als mein Zweck – sondern als Begleiterscheinung – was ich zu bedenken bitte! – Doch nun komm ins Haus. Die anderen warten.«
Auch Merck erhob sich. Der Abendstern stand, milde funkelnd und einsam, am Himmel. Leiser Luftzug strich durch die Kastanien. Ganz fern schrie ein Käuzchen.
Zwei Schatten verschwanden hinter der Haustür.