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Nach erfolgtem Abgang der Grafen Stolberg war wieder etwas mehr Ruhe in Weimar eingezogen. Was von den einen sympathisch, von den andern mit Bedauern vermerkt wurde. Karl August seinerseits vermißte die stärkere Anregung und verhandelte mit Fritz Stolberg, um dessen völlige Übersiedlung nach Weimar, mit Würde und Titel eines Kammerherrn, zu erzielen. Gern hätte er auch Goethe in der gleichen Eigenschaft an sich gefesselt. Doch standen dem unübersteigbare Bedenken gegenüber. Durfte doch der Frankfurter Bürgersohn, nach jenem strengen Hofzeremoniell, dem auch der Regent sich beugen mußte, nicht einmal zur Herzoglichen Tafel zugezogen werden, sondern mußte an der sogenannten Marschalltafel Platz nehmen, wo außer ein paar belanglosen jüngeren Adeligen sonst nur einfache Staats- und Hofbeamte saßen. Worüber sich Karl August weit mehr ärgerte als Goethe, der über derlei »vorsintflutliche« Zopfigkeiten lachte.
Jedenfalls also, mit der Kammerherrnwürde für Goethe war es nichts. Doch sollte sich nicht ein anderer Weg finden lassen, eine so schätzbare Kraft für Weimar zu gewinnen? Zuvörderst freilich verhielt Goethe selbst sich äußerst passiv. Ihm waren seine persönliche Unabhängigkeit und Freizügigkeit viel zu lieb, als daß er sie leichtherzig hätte aufgeben mögen, um sich in irgendeiner Form zu binden. Gewiß fand er es einstweilen recht unterhaltend und anregend in Weimar, und gern verlängerte er seinen Aufenthalt an einem Orte, wo man ihn so wohl aufgenommen hatte.
Ein lebhafter Verkehr hatte sich für ihn angesponnen. Manche neue Freunde hatte er gefunden. Außer Knebel, Einsiedel, Kalb, den jungen Adeligen, war es in erster Linie Wieland, in dessen Haus er fast täglich aus- und einging und öfters seine Mahlzeiten einnahm, ein Abgott namentlich der Kinder. Aber auch andere des Bürgerstandes kamen ihm näher. Da war der bedeutende Arzt Hufeland. Da war Musäus, der Volksmärchensammler und -Nacherzähler, sowie Verfasser launiger Erzählungsbücher, seines Zeichens Gymnasialprofessor. In besonders enge Fühlung aber geriet er mit Bertuch, dem herzoglichen Geheimsekretär und Schatullenverwalter. Das war ein besonders vielseitig gebildeter und interessierter Mann, zwei Jahre älter als Goethe, sehr beweglich und unternehmend, ehemals Wielands Adjunkt bei der Herausgabe des »Deutschen Merkur«.
Alle diese Leute waren geeignet, Goethe das Weimarer Dasein in angenehmer Weise auszufüllen – ganz abgesehen von seiner besonderen Anhänglichkeit an die Personen des Herzogs, dessen Mutter und dessen Gattin. Zu diesen dreien hatte er persönlich die herzlichste Zuneigung gefaßt, die um so stärker war, als sie in hohem Maße erwidert wurde. Er fand namentlich auch die Damen liebenswert. Jede in ihrer Art, Anna Amalia wegen ihrer hohen geistigen Kultiviertheit, Luise wegen ihres so zartentwickelten Frauengemüts. Dann ferner die köstliche »Thusnelda«, die ihre so schön bewiesene Freundschaftlichkeit und rührende Hilfsbereitschaft hinter ihrem scheinbar mokanten Wesen gewandt zu verstecken wußte; mit der sich in Worten herumzubeißen aber stets amüsant war. Wenn beide einander in herausfordernden Bemerkungen überboten und sich mit gespieltem Ernst die abenteuerlichsten Schnödigkeiten ins Gesicht sagten, dann brachten sie den ganzen Hof zum Lachen, während sie sich selbst dabei aufs köstlichste unterhielten.
Ja, und dann noch ... Frau von Stein! Dieses seltsam anziehende und doch fast unnahbare Mysterium eines Weibes! Etwas Ungelöstes schwebte um sie her. Wiederholt hatte Goethe sie bereits in ihrer Stadtwohnung besucht. Und als sie von dort für mehrere Wochen nach ihrem bei Rudolstadt gelegenen Schloßgut Groß-Kochberg übersiedelte, hatte er ihr versprechen müssen, sie auch dort aufzusuchen. Trotzdem war eine Stimme in ihm, die ihn zurückhielt. Hatte Lili noch zuviel Macht über ihn, so daß er irgendwie befangen war? Fürchtete er sich vor neuen Störungen seines seelischen Gleichgewichts? Oder war in dieser Frau selbst etwas, das ihn noch nicht warm und sicher werden ließ, vielleicht gerade weil er so eigentümliche Reizungen von dort aus verspürte?
Es ging eine Überlegenheit von ihr aus, vor der er teils sich beugen mußte, teils sich kränkte. Dieses Hoheitsvolle ihres Wesens, er konnte es verwünschen und ebenso bewundern. Seine Eitelkeit fühlte sich verletzt und zugleich sein Mannesgefühl sich angestachelt. Das gab einen inneren Schwankezustand, bei dem er bald litt, bald frohlockte.
Aber gab's nicht auch in ihr wunderliche Widersprüche? Gewiß, aus allem, was sie sagte und tat, sprach eine harmonische, in sich geklärte Persönlichkeit. Dieser Eindruck stand fest. Doch diese hochgezüchtete Selbstsicherheit, die bis zu kritischer Kühle gehen konnte, wurde seltsam schattiert von fast weichmütiger Melancholie. Manchmal war ihr Wesen davon wie bedrückt. Resignation quoll aus ihr und ließ eine Sanftheit erscheinen, die Wärme über sie breitete. Dann spürte er jenes geheimnisvolle »Medium der Liebe«, dem er nicht zu widerstehen vermochte. So kam es, daß er eine neue Begegnung mit dieser rätselvoll anziehenden Frau ebenso wünschte, wie er, aus einer ungeklärten Regung heraus, davor zurückscheute.
Da bot sich Anfang Dezember eine Gelegenheit, sein Besuchversprechen wahrzumachen, und als Begleiter des jungen Herzogspaares Kochberg zu berühren. Das schuf in ihm ganz neue Eindrücke, vor denen der in ihm geweckte Zwiespalt verblaßte. Frau von Stein, als Landedelfrau und liebenswürdige Gastwirtin, zeigte sich weit freier, frischer und gelöster als je in der Hofatmosphäre. Sie war von bezaubernder Unbefangenheit und Einfachheit, und eines Humors fähig, den Goethe noch gar nicht bei ihr kannte. Als alle vier, nach eingenommener, vortrefflich zubereiteter Mahlzeit, in den Park sich hinausbegaben, fielen, angesichts der Natur und in der klar auf sie einströmenden winterlichen Luft, gleichsam die letzten Hemmungen von ihnen ab. Das junge Paar gewann seine ganze Jugendlust und Kindlichkeit zurück und steckte durch seinen ausgelassenen Frohsinn auch die beiden andern mit an. Auf trockenen Waldwegen, die sich anmutig bergauf und bergab schlängelten, war ein Gehetze und Gejage, ein Sichhaschen und Sichverstecken, bei dem auch in Frau von Stein alle Lebensgeister neu erwachten. Sie wurde gleichsam um zehn Jahre jünger, erhitzte und tummelte sich, war rasch und geübt in allen Bewegungen des Ausweichens und Davonlaufens, schrie selbst manchmal unter Lachen auf, und war dabei innerlich so aufgetan, daß es förmlich aus ihr herausstrahlte. Goethe war hingerissen.
Eine Stunde später, als sie wieder in den Zimmern sich versammelten und ein ernstes Gespräch sie beratend zusammenhielt, war Lotte von Stein nicht minder eifrig bei der Sache und verstand es sehr, ihre Meinung zur Geltung zu bringen. Unter anderem wurde abermals die Frage behandelt, wie Goethe an Weimar zu fesseln sei. Man war darüber einig, daß dies nur durch eine Berufung in den geheimen Staatsrat zu geschehen vermöge, verhehlte sich aber nicht die großen Schwierigkeiten, die von seiten der alteingesessenen Beamtenschaft, zumal des ersten geschäftsführenden Ministers, Freiherrn von Fritsch, der das besondere Vertrauen Anna Amalias genoß, zu erwarten waren. Während Goethe sich unter Achselzucken passiv verhielt, nahm Frau von Stein mit gleicher Lebhaftigkeit wie der Herzog der Sache sich an und ihr frauenhafter Scharfsinn war immer von neuem bemüht, Steinchen aus dem Wege zu räumen. Wie sie in Eifer erglühte, verschönte sich zugleich ihr Antlitz, wurden ihre Augen leuchtend und schürzten sich voll Anmut ihre errötenden Lippen. War sie nicht zum Verlieben?
Indes des Bleibens war heute nicht. Gegen Abend waren die Reisenden wieder unterwegs und rollten in der Staatskutsche auf Rudolstadt zu, wo sie bei Hofe erwartet wurden. Doch mitten im lebhaft geführten Gespräch, ließ Goethe von seinen Gedanken sich heimlich zurücktragen zu der seltsam anziehenden Frau, die ihr Interesse an ihm so überraschend kundgetan hatte.
Seitdem kam es öfters vor, daß der Herzog in Staatsangelegenheiten Goethes Rat nachsuchte. So sehr dieser sich bemühte, Zurückhaltung zu üben, gelegentlich konnte er nicht umhin, sich für eine Sache zu erwärmen. So besonders, als es sich darum handelte, die Stelle eines Oberhofpredigers neu zu besetzen. Karl August verspürte zu den thüringischen Kandidaten, die man ihm verschlug, wenig Lust. Sie waren ihm allesamt zu trocken und zu banal. Da nannte Goethe den Namen Herders, und gleich hakte der Herzog ein. Goethe wußte, in welchem Maße sein Freund sich in Bückeburg ungemütlich und niedergehalten fühlte, und wie sehr er aus der dortigen Spießeratmosphäre hinwegstrebte. Anderseits würde er für Weimar ein großer Gewinn sein und sich zweifellos mit Eifer hier einleben. Je mehr Goethe diese Gedanken und Aussichten erwog, desto mehr begeisterte er sich dafür, und setzte so seinen herzoglichen Freund bald ganz in Feuer und Flamme. Bei den jähen und diktatorischen Entschlüssen, zu denen dieser neigte, ließ er gleich den folgenden Tag Verhandlungen mit Bückeburg eröffnen, um Herder für sich zu gewinnen.
Kaum war dies in Weimar ruchbar, als sofort helle Empörung emporloderte. Was? Wo soviel bewährte Diener und pflichttreue Anwärter an Ort und Stelle für diesen Posten in Frage kamen, wollte man die ganze einheimische Bevölkerung vor den Kopf stoßen, indem man einen Fremden, mit den Ortsverhältnissen gänzlich Unvertrauten berief? Und wen eigentlich? Einen Mann, der mehr neumodischer Literat als ernstzunehmender Geistlicher war! Und worauf hin gar? Auf die Einflüsterung eines hergelaufenen Frankfurter Advokaten hin, der sich großmächtig aufspielte, und kein anderes Ziel zu verfolgen schien, als seine Clique nach Kräften zu verstärken! Spürte man jetzt bereits, mehr als lieb sein konnte, seine unheilvolle Gegenwart, so wollte er mit der Zeit wohl gar allen maßgebenden Einfluß an sich reißen, um so als allmächtiger Günstling das ihm ausgelieferte Sachsen-Weimar-Eisenach unumschränkt zu beherrschen!
Durfte man diese kecke Einmischung eines unverantwortlichen Ratgebers dulden? Das gesamte weimarische Ministerium war in äußerster Beunruhigung, und wenn etwa der junge Herzog, wie er das liebte, in dieser Sache seinen dicken Kopf geruhen wollte aufzusetzen, so mußte man ihm beizeiten und mit Entschiedenheit entgegentreten. Zunächst also entschloß sich Premierminister von Fritsch zu einer devotest aufgesetzten, aber unzweideutigen Anfrage. Als diese ausweichend und unsachlich beantwortet wurde, ging er weiter und ersuchte in aller Förmlichkeit um eine Privataudienz – die ihm natürlich nicht abgeschlagen werden konnte.
Als der kleine spitzbäuchige Mann, auf dünnen Beinchen gravitätisch einherstolzierend und einen hohen, knopfgeschmückten Amtsstock gewichtig vor sich hinsetzend, im Fürstenhause erschien und die Treppe emporstelzte, begegnete er Goethe, der mit Freiherrn von Einsiedel hinunterstieg. Fritsch bekam einen puterroten Kopf und schritt grußlos und steif vorüber, während die beiden jungen Leute höflich zur Seite traten. Sie konnten sich eines mitleidigen, spöttischen Lächelns nicht erwehren, als sie unmittelbar darauf den aufgebrachten Zornbickel, von einem Lakaien in Empfang genommen, hinter der herzoglichen Tür verschwinden sahen.
Die Unterredung zwischen Fürst und Minister verlief hart auf hart. Aber der Minister war der Stärkere. Zwar mit seiner emphatisch vorgebrachten Forderung, daß Goethe als Herders Fürsprecher zu beweisen habe, daß dieser »ein wirklich rechtgläubiger Christ« sei, drang er nicht durch. Über eine Anzweifelung solch niedriger Art, erwiderte der Fürst, sei ein Mann von dieser überragenden geistigen Bedeutung turmhoch erhaben. Hingegen mußte er erkennen, daß er der weitgreifenden Verstimmung und Verärgerung im Lande waffenlos gegenüber stehe und, wohl oder übel, darauf Rücksicht nehmen müsse. Er ließ sich also zu der Einräumung herbei, daß die Angelegenheit einstweilen » in suspenso« bleibe und nochmals ordnungsmäßig geprüft werden solle. Mit welchem halben Bescheid der Minister sich begnügen mußte. Immerhin durfte er zufrieden sein, wenigstens Aufschub erreicht zu haben.
Aufschub, dachte Karl August: damit man sich daran gewöhne, daß, etwas später, Herder doch ernannt werde!