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Der nachfolgende Brief Seume's an Tiedge, seine letzte öffentlich bekannt gewordene Arbeit, wurde bald nach dem Tode Seume's in dem Taschenbuch Minerva für das Jahr 1811 (S. 73-94) veröffentlicht. Die dazu gehörigen beiden Gedichte sind schon in Th. V. (S. 185-187) mitgetheilt, daher ihr nochmaliger Abdruck hier unterbleibt.
Leipzig, den 16. Mai 1810.
Endlich, lieber Tiedge, habe ich nach einigen Jahren, die ich kränkelnd hinlungerte, wieder eine Art von Ausflucht gewagt; aber welcher Abstand! Sonst machte ich einen Spaziergang nach Syrakus, jetzt mache ich eine Reise nach Weimar; und das Letzte ist dennoch ein größeres Wagstück als das Erstere, so ändern sich die Zeiten.
Das Wetter war den Tag vor meiner Abreise vortrefflich, so herrlich, wie nur der Mai sein kann, und Jedermann wünschte mir Glück; aber ich bin der Nasenstüber vom Schicksal schon so gewohnt, daß ich sein Lächeln nicht sehr achte. Ich darf den Kopf nur zum Fenster hinausstecken, so regnet es gewiß, und ich glaube fast, der Himmel fällt einmal eine Viertelstunde vorher ein, ehe ich hineinkommen soll. Sonst schnallte ich meinen Tornister und ging, jetzt mußte ich erst zwei vierfüßige Thiere und ein zweibeiniges in Bewegung setzen, ehe ich armes Menschlein gehörig fortgeschroten werden konnte. Gohlis, Raschwitz und Störmenthal waren bis jetzt das Nonplusultra meiner Fahrten gewesen, und es war mir doch, als ob meine Brust sich freier und froher dehnte, als ich links vom Heerwege ab auf die Anhöhen der Dörfer hinaus kam. Ich hatte mir vorgenommen, in meinem Geburtsörtchen Poserne bei meiner Schwester Mittag zu halten. Links in der Tiefe lag im tiefen Nebel, ehe ich in die Gegend von Lützen kam, das Schloß Knauthain, wo ich oft vor manchem Aristarchus als Knabe im Schulexamen stand und mir zuerst praktisch die ersten Keime meiner nachherigen Gleichmüthigkeit erwarb, weil ich schon damals begriff, nicht Alles sei Gold, was gelbrothen Glanz hat, und nicht Alles Weisheit, was ihr Schild trägt. Ich ging in Gedanken den Inhalt meines ersten Schulbeutels durch und freute mich, daß ich noch so vieles Brauchbare darin fand, weit mehr, als die hochwohlweisen Universitätskörper wol glauben. Mein Blick hielt durch den Nebel an der alten Kirche fest, die von den frommen Bischöfen von Merseburg mit manchen Heiligthümern beglückseligt ist; ich setzte mich in Gedanken einige Minuten in dem heiligen Haine des großen nordischen Kanut, der der Gegend umher den Namen gegeben zu haben scheint, wie noch aus einigen Dörfern erhellt. Sodann blieb meine Seele auf den alten Dorfkirchhof geheftet, wo wir seit langen, langen Jahren meinen Vater begraben; ich glaube, es sind sechsunddreißig, denn ich war damals ein zwölfjähriger Knabe. Mein Blick hing im Geiste an den dichten Schwarzdornen, die über das Fleckchen fast undurchdringlich hergewachsen waren, wie ich in der letzten Periode meiner rüstigen Beweglichkeit noch gesehen hatte. Der Schauer der Natur faßte mich; das Rückenmark fing an, in dem Nacken zu glühen, und die Wimper fing an, feucht zu werden. Ich warf mich in den Winkel des Wagens, zog den Mantel der Windseite zu und überließ mich ohne Widerstand der Fortwirkung dessen, was in mir erregt worden war. Einige Tropfen mochten wol dem Auge entglüht sein, augenscheinlich auch mit ein Document meiner jetzigen Schwäche im Nervensystem – denn ich glaube nicht, daß ich überzeugungsweise in meinem Alter ein Empfindler werde –, als ich von außen den Regen ziemlich stark an die Kutsche schlagen hörte. Diese Tropfen des Himmels trockneten sonderbar genug, ich überlasse Ihrer Weisheit den psychologischen Grund, die meinigen in dem Auge. Es war kalt und trocken gewesen, die Landleute beteten laut um Regen, die Früchte standen meistens klein und spärlich. Die Milde des Himmels mochte mein Mitgefühl auf eine andere Weise in Beschlag genommen haben, das ist wol das Ganze. Das Individuum ging im Allgemeinen augenblicklich verloren und fand sich bald verändert und gebessert wieder. Es ward zwar nicht heiter, es blieb kalt und regnete wol über eine Stunde fort, aber meine Seele bekam bei dem ersten Hinausblick doch einen ganz andern Spiegel.
(Folgt hier das Gedicht: »Es hatten die Raben geächzet« etc. etc. Th. V. S. 185.)
Es möchte das Ansehen haben, als ob man die Sänger des Maies, nicht die Nachtigallen, die noch lieblich genug schlagen, sondern die eigentlichen Maipoeten, unter die ich leider auch gehöre, diesmal etwas auf die Finger schlagen müßte, wenn sie laut werden; denn der Himmel hat uns bisher so sehr mit Nordwind, Ostwind, und was zwischen diesen beiden bläst, heimgesucht, daß ich in dem Zwerchfelle wenigstens zwanzig Centner Blei zu tragen glaube. Das ist, mit Erlaubniß des Himmels, nicht ganz billig gegen uns arme Siechlinge und Sterbelinge verfahren, und wenn es noch länger so fortgeht, laufe ich noch Gefahr, in einem solchen Paroxysm von Bauchgicht den letzten dummen Streich zu machen. Jeder Wagenstoß drohte mir die Symphysis zu sprengen, unter den entsetzlichsten Schmerzen. Das Bedürfniß nöthigte mich oft hinaus, und der Sturm schickte mich immer etwas fieberhafter wieder hinein in den Kasten. Dabei ward die Luft bald wieder so zehrend und trocknend für Lunge und Leber, daß mein Vetturino, der sich meiner brüderlich annahm, mir aus jedem Brunnen den ledernen Reisebecher zur Labung füllen mußte, denn von dem Gebrausel von Styx, Kocyt und Phlegethon, das sie Bier zu nennen beliebten, konnte ich keinen Tropfen genießen, und Wein, vom alten Vater Johann und seiner Tochter Constantia bis zum Potsdamer Herlingsgewächs, wäre mir Gift gewesen.
Trotz der unfreundlichen Luft von außen und den Quälgeistern von innen schlugen mich nach und nach die Nachtigallen in den Büschen doch in eine ganz leidliche Stimmung, als ich mich meiner Wiegengegend näherte, wo mich jeder Gegenstand an irgend einen Knabenstreich erinnerte. Ich verließ den Ort in meinem siebenten Jahre, aber in den drei ersten Jahren der frühesten Erinnerung lag für mich eine schöne Welt beschlossen; so glühend sind die Farben der ersten kindischen Gemälde in der Seele. Als ich das letzte Mal hier war, vor ungefähr dritthalb Jahren, begruben wir meine Mutter; seitdem ist mein Leben nur Kampf mit der Krankheit gewesen, und das Gerücht hat mich hier und da schon über den Acheron geschickt. Unwillkürlich verwickelte mein Gefühl das Bild meiner Mutter in jeden Gedanken, den ich hier dachte, Gewohnheit und beständiges Hiersein hatte nichts verwischt, und es ward mir schwer, sie als hingegangen zu denken. Jeder Stuhl erinnerte mich an ihr freundliches Antlitz, und ein Blick nach dem nahen Kirchhofe machte mir das Auge heißer. Ich eilte in den Garten, der Empfindung zu wehren, und besahe die jungen Pflanzungen der Kinder meiner Schwester, die höchst erfreut waren über das Lob ihres Fleißes und ihrer Ordnung; und einige Nachtigallen auf blühenden Apfelbäumen feierten wetteifernd vielleicht die schönsten Stunden ihres Lebens. Es ist etwas Eigenes um den Zauber der Kindheit. Ehemals war mir Alles so groß, so weit, so herrlich, so feierlich; jetzt ist es mir so klein, so enge, aber doch so heimisch, so traulich, daß ich mit aller meiner Welt von Petersburg bis Syrakus hier wol wieder Knabe werden könnte.
(Folgt hier das Gedicht: »Dort steht noch im Dorf in der Mitte« etc. Th. V. S. 185 ff.)
Meine Schwester begleitete mich mit ihren Kindern in dem Wagen weit weit hinaus in die Flur, wo sie Fenchel stecken und Möhren graben wollten. Die Magd mußte Spaten und Gabeln nachtragen. Alles geschah mit Fleiß und Freude. Mein kleiner Neffe, ein Bube von neun Jahren, konnte sich nicht zufrieden geben, weil keine Schmerlen für mich da gewesen waren. Man hatte die letzten, die man nicht länger halten konnte, nur vor einigen Tagen verzehrt, weil man an meiner Ankunft zu zweifeln anfing; ich mußte also mit Gewalt versprechen, rückwärts wieder zu kommen, wo ich mein Lieblingsgericht finden sollte. Es entfuhr mir im Scherz, daß ich sagte: »Höre Du, Vetter Fritz, Du denkst wol eine reiche Erbschaft zu thun, wenn ich sterbe; da irrst Du Dich gewaltig. Ich verzehre Alles richtig und werde kaum meine Schulden bezahlen können.« – »Ei was,« versetzte der Knabe schnell mit glühenden Augen, »leben Sie nur und werden gesund und befinden Sich wohl; wir haben genug und brauchen und wollen nichts mehr und werden arbeiten lernen.« Es that mir sehr wohl, in der Familie noch so viel gute Gesinnung und gute Zucht zu finden. »Das ist noch vom Großvater und von der Großmutter,« dachte ich; »gebe der Himmel, daß es abwärts so fort geht!«
Ich verließ meine väterliche Flur sehr zufrieden und wohl und blieb Beides, so lange der Wagen nicht warf. Bei Plotha kam ich aus dem Labyrinth von Dörfern wieder heraus auf den Heerweg. Die Besitzung gehört einem meiner Leipziger Freunde, dem Herrn G. Winkler, der zuweilen seine Puppe daraus macht, die er nach der Lage des Orts niedlich genug ausgeputzt hat. Während die Pferde vesperten, wandelte ich einsam in den Gärten herum und dachte, wie herrlich es sein müßte, wenn Dieser und Jener und Diese und Jene eben jetzt mit hier wären; aber der leidige Mercur hält mit seinem Stecken und Stabe seine Geweiheten die schöne Zeit fest auf dem ledernen Sessel. Da sehen Sie sogleich die liebe Erbsünde wieder! Kaum kann der Siechling die Nachtmütze wieder zum Fenster hinausstecken, so fängt er stracks wieder an, nach vielen Genüssen zu geizen. Nun rollte ich zum Nachtquartier nach Naumburg in den Hecht zum Herrn Eichhof, ordnete meine Mahlzeit und schlich zum Besuche zum Domprediger Krause, der bald eine apostolische Wanderung nach Königsberg machen wird. Der Mann wird mit Recht im Vaterlande geschätzt und geliebt und wünscht von Seiten zeitlichen Vortheils keine Verbesserung seines Zustandes; aber evangelische Gründe und die Wirkung einer größern Summe des Guten haben ihn vermocht, den ehrenvollen Antrag nicht abzulehnen. Möge er bald dem Vaterlande und sich selbst ebenso erfreulich zurückkehren wie unser Landsmann Krug!
Im Hechte hatte man meine Ordonnanz wegen der Wassersuppe so pünktlich befolgt, daß ich während der ganzen langen, langen Zeit meiner Krankheit kein so unschuldiges Kochsal in Erfahrung gebracht hatte, so wenig Butter und so winzige Körnchen Salzes hatte man in der Nachbarschaft von Kösen dazu genommen. Mit dem Spargel und dem Fische hatte ich dafür desto mehr Ursache, als Diätetiker und Schmecker zugleich zufrieden zu sein, weil man dabei nicht ebenso genau nach meinem Recepte verfahren war. Ist das nicht ein Jammer, daß Unsereiner, ein Kerl, der sonst Kraut und Rüben roh verzehrte, als wär' es Studentenfutter, jetzt in seinen alten Tagen mit so schlechtem Anstande und Erfolge den Küchenphilosophen machen muß? Den folgenden Morgen kutschirte ich über die Saale, den schweren Berg hinauf über das Schlachtfeld nach Weimar. So gut ich die Gegend kenne, und ich kenne sie ziemlich gut, ob ich gleich nicht ihre völlige Nomenclatur weiß, hatten die Preußen den ganzen Vortheil der Stellung in den Händen oder konnten ihn in einigen Stunden sogleich haben. Wehe ihnen, daß sie diese Stunden unbenutzt verstreichen ließen! Es gehörten viele und große Sünder dazu, an einem einzigen Tage das Glück und die Ehre der Nation so gewissenlos zu vergeuden. Es ist kaum begreiflich, wie vereinzelt und verwirrt ein sonst so achtungswürdiges Ganze hier zu Werke ging. Wer den Verlust der Schlacht voraussagen wollte, mußte auch wissen, daß man eben so und nicht besser und zweckmäßiger handeln würde. Es ist überall erster Hauptgrundsatz im Kriege, so viel als möglich in dem Moment der Entscheidung alle Hände und Köpfe in gemessene Thätigkeit zu bringen; hier scheinen die Deutschen gerade das Gegentheil gethan zu haben. Der Erfolg rechtfertigte auch die Grundsätze der Kunst. Nicht die Ueberlegenheit der französischen Waffen hat gesiegt, sondern die Schwäche des deutschen Geistes ist geschlagen worden. Daß man Kösen hatte besetzen lassen, war freilich wol kein Meisterstreich, indessen war dadurch noch nichts Letales geschehen. Wären die Franzosen bei Hassenhausen zurückgeworfen worden, wie sie konnten und mußten, und hätte man ihnen oben bei Jena die Ersteigung der Saalgebirge verwehrt, wie man sollte und konnte, so würde man sich links schon zum Rückzug entschlossen haben, und der Verlust des Magazins bei Naumburg, freilich schon beträchtlich genug, wäre das Ganze gewesen. Schwerlich wäre man in die Ebenen von Sachsen vorgerückt, wenn man eine entschlossene starke Armee hinter sich hatte, und Verweilen im Saalthale und den engen Gebirgspässen hätte sehr gefährlich werden können. Um uns zu rechtfertigen, müssen wir das Schicksal anklagen; ich will aber nicht sagen, was ich von dieser Anklage halte.
Als ich in Weimar mein Reisebündel im Gasthofe zum Erbprinzen gehörig geborgen und für meinen Leichnam auf den Abend und die Nacht Alles gehörig besorgt hatte, wandelte ich über den Markt hin, die Esplanade hinauf, vor Thaliens Tempel vorbei, zu Vater Wieland. Die Hauptabsicht meiner Reise war, wie Sie wissen, den alten Herrn zu sehen, der sich immer so patriarchalisch freundlich meiner angenommen hat, und den ich mit jedem neuen Wiedersehen höher schätze und lieber gewinne. Seine Siebenundsiebzig sind nur insofern zwei böse Sieben, als sie wahrscheinlich nicht länger halten als andere Zahlen und dann nicht wiederkommen; übrigens ist er heiter und munter, sprüht nicht selten von Witz, wie man ihn nur in der schönsten Zeit erwarten konnte, scherzt lebhaft wie ein Zwanziger, nur züchtiger und feiner, und die Grazien scheinen noch alle ihre Gaben neu und frisch über das Antlitz ihres Lieblings ausgegossen zu haben. Ich war gesonnen, außer einigen meiner Freunde dort Niemand zu sehen; doch konnte ich nicht umhin, der Prinzessin Karoline das Versprechen zu halten, das sie mich ehemals hatte thun lassen, sie zu sehen, so oft ich nach Weimar käme, ohne mich um irgend eine Art von Toilette zu bekümmern. Die letzte Erlaubniß war damals nothwendig, da ich als Fußgänger lauter Streifpartien mit meinen Reiseperquisiten in der Tasche machte. Jetzt erlaubt mir meine Gesundheit durchaus nicht, mich gehörig zu kleiden. Die Großfürstin Maria hatte indeß die Güte, mich sehen zu wollen, und meinte, ich sollte kommen, wenn auch der Großpapa der Cyniker, barocken Andenkens, gegen mich ein Antinous wäre. Mein Gott, sehr gern, dachte und sagte ich; nur konnte ich nicht Form und Anstand so beleidigen, etwas zu wünschen, was von meiner Seite nicht schicklich gewesen wäre. Ich sahe die Großfürstin zum ersten Male, Wieland war mein Begleiter, und ich vergaß Einiges zu sagen, was ich ihr wohl hätte sagen können und sollen; z. E. wie viel Herzliches mir ihre Mutter, die Kaiserin, an sie aufgetragen, als ich in Petersburg war; wie ich am Tage der Schlacht von Jena in dem Posthause zu Düben auf meiner Rückkehr von einer Herbstpromenade in meiner Sorglosigkeit über eine Stunde dort saß, ohne zu wissen, daß sie oben im Hause war, ob ich gleich die großen Wagen im Hofe sahe. Schon nachdem sie längst fort und ich über die Mulde war, machte mir der Gelbrock darüber den Rapport. So geht mir's; ich bin immer mit gewissen Herren gar mächtig weise, wenn sie vom Rathhause kommen. Die Großfürstin war die Güte und Anmuth selbst. Es ist eine wohlthätige Erscheinung, solche Frauen in einem Fürstenhause zu finden, wie die beiden jungen Damen sind. Ich müßte mich sehr irren, wenn sie nicht Herzensfreundinnen in dem besten Bürgersinne wären. Noch muß ich Ihnen bekennen, man hält mich fälschlich für einen Fürstenfeind; ich habe sogleich mehr Achtung vor dem Guten und Schönen und Wahren, wenn ich es an Fürstenkindern finde, weil ich sehr wohl weiß, wie schwer die Verworfenheit der Menschen es ihnen macht, ächt gut und vernünftig zu werden und zu bleiben. Daß mir die Fürsten und ihre Machtvollkommenheit nicht das Heiligste, Höchste im Leben sind, wird mir ebensowol erlaubt sein, als daß ich nicht an die Unfehlbarkeit des seligen Papstes glaube. Es ist keine eigene Fürstenkrankheit, die Wahrheit nicht vertragen zu können; die übrigen Menschenkinder sind ebenso sehr und vielleicht noch mehr damit behaftet und blicken furchtbar ungeberdig, wenn man nur Miene macht, an ihrer Allweisheit zu zweifeln. Daß man mit Wahrheitsagen kein Glück macht, ist freilich in der Regel, beim Kaiser von China so gut wie bei dem letzten Dorfschulzen von Meißen; das scheint nun aber einmal in der armen menschlichen Natur zu liegen und auch seinen psychologischen Grund zu haben, der nicht gar zu schlimm ist. Die Erörterung wäre hier viel zu weitläufig. Meine eigene Empfindung stieg in Weimar bis zur Wehmuth, wenn ich das Vorige mit dem Jetzigen verglich. Herder und Schiller waren schlafen gegangen, beides Männer, deren Achtung und Freundschaft ich genossen hatte; seit meinem letzten Besuche war auch die vortreffliche wahrhaft fürstliche Frau Amalie nicht mehr, war auch unser Fernow gestorben. Solche Sokratische Zirkel sind wol selten gefeiert worden, werde ich wol nie wieder feiern wie bei der Herzogin Mutter, wo Anmuth und Würde, Heiterkeit und Ernst, Witz und Laune, Sitte und Anstand, Kenntniß ohne Schulstaub und Scherz ohne bittern Stachel in der kleinen Gesellschaft herrschten. Wer das Glück gehabt hat, daran Antheil zu nehmen, spricht davon als den schönsten Stunden seines Lebens; zu den schönsten des meinigen gehören sie gewiß.
Noch führte mich Freund Bertuch zur Frau von S..., einer Dame, der ich für die thätige Theilnahme an dem Schicksal unseres Freundes Fernow in der letzten hilflosen Zeit seines Lebens danken mußte. Fernow war ein Mann, dessen wahre Verdienste nur sehr spät gewürdiget wurden, und der die Früchte der gewonnenen Achtung selbst nicht lange genießen konnte. Seine ganze Jugend war ein Kampf mit den Umständen, in dem Vaterlande und in Italien; nur einige Jahre dauerte sein schönes Leben unter dem Schutze seiner Gönnerin, der Herzogin Mutter, der Freundschaft des Musageten Goethe und der reinen Achtung aller Bessern, die ihn kannten. Er brachte bekanntlich seinen Tod schon mit von den Alpen. Seine Freundin und Wohlthäterin will uns eine Skizze seines Lebens und Charakters aus der Zeichnung seiner vertrauteren Freunde, Kügelgen's, Reinhart's, Böttiger's und Anderer, geben. Ich selbst bin so sorglos gewesen, seine Briefe zu verlieren, deren ich wenigstens ein halbes Dutzend von Rom und Weimar aus hatte, die nicht ganz unwichtig waren; denn er hatte nicht die Gewohnheit, viel über nichts zu schreiben.
Hier sahe ich noch zum Abschied auf einige Minuten Falk, den ich in seinem Wohlaussehen kaum erkannte, so wie er aus dem knight of the woful countenance seinen alten Syrakuser nicht herausfand. Ich achte den Satyr sehr hoch, der in einer so furchtbaren Krise einen so braven Charakter standhaft durchträgt, und es macht dem Herzog wahre Ehre, daß er den Werth eines solchen Mannes auch öffentlich anerkennt und schätzt. Falk weiß, daß ich ihm nie mit einem Worte geschmeichelt, daß ich ihm vielleicht nie eine Silbe Angenehmes gesagt, weder zu Hause noch auf dem Markte; aber es thut mir wohl, wenn man einen wackeren Charakter nach meinem Sinne so wacker durchträgt wie Falk und Iffland; eine Erscheinung, die jetzt leider nicht sehr oft vorkommt.
Nun fuhr ich ebenso wieder nach Hause. Diese Reise sollte zugleich auch eine Probe sein, ob und wie ich das Fahren würde vertragen können. Ich finde, es geht noch leidlich genug; und Sie sind gar nicht sicher, daß ich Sie nicht ehestens in Ihrem Tempe zu Töplitz überfalle. In Poserne aß ich, um Alle zufriedenzustellen, die herrlichen Schmerlen, die mir mein Neffe gefangen und meine Schwester selbst köstlich zubereitet hatte, auf dem Edelhofe, wo sie selbst die gnädige Tante des Hauses nach allen Prädicamenten lobte. Zum Nachtische wurden alle Reminiscenzen der Jugend genossen; kein verächtliches Gericht, wenn sie gut und gut gehalten sind. Bald wird die Zeit kommen, wo wir alten, ehrlichen Kauze ganz davon leben müssen. Wohl uns, daß wir eine reichliche Conditorei in diesem Artikel angelegt haben! Freilich werden wir die Sache nicht so raffinirt betrieben haben wie einer meiner Bekannten, der in seinen bessern Tagen zu der Secte der Libertiner gehört zu haben scheint, die schon in der Apostelgeschichte vorkommt, der eine schöne Pfirsche, die er nicht genoß, blos deswegen mit so großem Vergnügen betrachtete, weil sie ihm in Miniatur die beste Reminiscenz einer vortrefflichen Kallipyge gab. – Trahit sua quemque voluptas. Wir haben uns hoffentlich andern Vorrath gesammelt.
Sie können mich, laut unserm Vertrage, nur als griechischen Lector bei dem Prälaten in Osseg ansagen, doch nur auf vierzehn Tage, auf länger mache ich mich nicht verbindlich. Da will ich denn einige Theokritische Idyllen oder eine Aristophanische Schnurre erklären, mit der Bedingung, daß ich neun Zuhörer bekomme, die mich verstehen; denn bis zur Doppelzahl will ich meine Forderung nicht treiben. Kaum hat Numa Pompilius so sehnlich verlangt nach seiner geliebten Nymphe im heiligen Hain, als mich verlangt nach der heilenden Egeria, deren Wunderkraft gerühmt wird von Skandinavien bis über die Syrten hinab. Da nun die Aesculape die Wasser von Töplitz als Vorbereitung zur Weihe verordnen, folge ich desto eher, da dies mir wenigstens auf einige Tage den Genuß einiger meiner Lieben verschafft, unter denen Sie gewiß nicht der Letzte sind. Grüßen Sie mit Herzlichkeit unsere vortreffliche Freundin! Es wird Ihnen gewiß nicht einfallen, dieses für eine Reisebeschreibung zu nehmen; es soll nur ein kleines Document sein, daß Ihr Freund noch nicht ganz todt ist und in der That noch zuweilen eine Art von regsamer Lebenskraft in sich verspüret, die sich vielleicht wieder festsetzen und ihn aufrichten kann. Gott erhalte Sie Alle!