Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Drittes Kapitel

Und das Ziel des Lebens zu erreichen, hieß für Schloimale nichts anderes als in die Meeresabgründe des Talmuds niederzutauchen, ihn so weit als möglich mit allen Leistungen seiner Erklärer zu Ende zu studieren. Etwas zu werden, hieß für ihn, ein Jude zu werden, und zwar kein gewöhnlicher, sondern ein thoragelehrter, der im ganzen Talmud zuhause war – ein Rabbi! Etwas Größeres, Besseres und Erstrebenswerteres konnte ihm gar nicht in den Sinn kommen. Zu seiner Zeit und in seiner Gegend war den Juden die Thora ja das Beste. »Toire is di beste ßchoire« ging es in dem Schlaflied, das ihm seine Mutter mit rührender, süßer Stimme gesungen hatte. Ein Büblein von vier, fünf Jahren, das noch nicht recht reden konnte, lernte schon in der Schule, wo es gewöhnlich den ganzen Tag lang saß. War es schwach oder trotzig, so trug es der Belfer auf seinen Schultern hin und trug oft auf einmal mehrere kleine Kinder so wie junge Lämmer. Manchmal war am Morgen zugleich mit den Stimmen des Viehs, das aufs Feld getrieben wurde, weit durch alle Gassen hin das jämmerliche Geschrei der »heiligen Herde« zu hören, deren Schäflein da geführt und getragen wurden, an Händen und Füßen zappelnd – Kinder, die man aus dem schönen süßen Morgenschlaf geweckt und aus ihrem Bettlein genommen hatte, durchglüht und feucht vom Schweißtau der Kindheit mit roten Wangen. Wenn das Kind die Thora zu lernen begann, hielt es schon als ein kleiner Jude Gottes eine eingelernte Rede vor den Gästen des Festes, das die glücklichen Eltern dafür veranstalteten. Zur Barmizwe gab es wieder ein Fest und wieder eine Rede.

Alle diese Dinge mußte Schloimale selbst durchmachen und hatte sie ja als Kind erlebt, genau wie alle jüdischen Knaben. Ihre Tage und Kinderjahre vergingen mit Lernen, mit ewigem Lernen.

So war die Kindheit. Wurde der Knabe ein Jüngling, dann trat er an den Talmud heran und konnte nicht eher heiraten, als bis er eine Prüfung abgelegt hatte. Vor der Verlobung wurde er examiniert, und wenn er in einer andern Stadt wohnte, so schickte man ihm scharfe Examinatoren. Bei der Hochzeit zeigte der Bräutigam seine Gelehrsamkeit, hielt eine scharfe, hirndurchbohrende Rede und bekam dafür Geschenke – das Drusche-Geschenk. Für einen hervorragend begabten Jüngling wurden Phantasiepreise gegeben. Hatte er kein Geld, so verschlug das nichts, er war eben selber Geld wert! War er nicht gerade aus guter Familie, so machte das auch nichts, so trug er eben den Adel in seiner Person.

Schloimale hatte viel erzählen gehört, wie es armen jungen Leuten gegangen war, die um ihrer Gelehrsamkeit willen ihr Glück gemacht hatten. Wohlhabende Männer, reiche Pächter, vermögliche Dorfleute suchten oft für ihre schönen, starken Töchter arme Jünglinge aus der Jeschiwe heraus, die vom dauernden Sitzen am Talmud mager und hager, blaß und schwach und scharfsinnig gelehrt waren. Die erwählten Eidame, die »seidenfeinen Bürgerlein«, wie sie hießen, wohnten zu Kest, manchmal auch zu dauernd versprochener Kest, aßen und tranken und bekamen Kinder im Hause ihres Schwiegervaters, so lange es ging. Wenn die Kest endlich aufhörte, gingen ihre Frauen unter das Joch und wurden die Erhalterinnen des Hauses: Sie wurden Krämerinnen, Wirtinnen, Marktfrauen und ähnliches. Ihre Männer saßen mit freiem und ruhigem Kopf an der Thora und im Dienste Gottes, die Frauen speisten und kleideten sie und hofften dafür, »nach hundert Jahren« einen Teil oder die Hälfte ihrer Seligkeit, wie sie eben abgemacht hatten, zu bekommen. Die Frau arbeitete und sorgte für das Diesseits, der Mann für das Jenseits. Beide arbeiteten, jeder an seiner Sache und verdiente sich redlich beide Welten. Um noch sicherer zu gehen und das Jenseitskapital zu vermehren, verließ manchmal ein Mann in seinem eifrigen Streben Frau und Kinder, machte sich in die Fremde auf und lernte Tag und Nacht als »Abgesonderter« in einer Klous. Das war keine Kleinigkeit – ein »Abgesonderter«! Und gar die schrecklichen »Abgesonderten«, die Schloimale in seiner Heimat im Beßmeddresch gesehen hatte! Sie unterbrachen niemals ihr Lernen, redeten kein profanes Wort und verständigten sich nur durch Winke und unartikulierte Laute: »I, i! E, e!« Daß sie nicht wußten, wie eine Münze aussah, war ja selbstverständlich, aber sie wußten nicht einmal, was die Beßmeddresch-Uhr zeigte. Wollten sie es wissen, zupfte eine ihrer Hände jemandem am Ärmel und ein Finger der andern deutete nach dem Zifferblatt und von ihren Lippen kam ein »Nu-me-u-ha?« Ehre ohne Ende wurde ihnen erwiesen.

Das hieß voreinst Dienst des Schöpfers, und so erwarb man Ehre, in der guten alten Zeit, als Schloimale ein Kind war.

Reichtum genügte dazumal nicht, um jemandem Namen zu verschaffen und ihm die Zuneigung der Welt zu gewinnen. Dazu mußte man ein jüdisches Herz haben und Thora obendrein. Dafür hatte ja Schloimale seinen seligen Vater zum Beweis, der nicht um seines Reichtums willen – den hatte er nicht – in der Stadt ein führender und angesehener Mann war.

Und gar ein Rabbi! Wie hoch ein solcher stand! Er war der erste, der beste unter allen Leuten. Der Rabbi, den Schloimale seit seiner Kindheit im Städtlein vor Augen hatte, war kein gewöhnlicher Mensch, er war von hoher Stufe. Er war ja wohl so wie alle andern aus Fleisch und Blut und hatte dieselben Bedürfnisse, aber er war doch anders, er war nicht wie alle andern in den Tand dieser Welt versenkt. Er war wie aus dem Talmud selber, er wußte ja alles. Er war klug wie die Welt, war immer versonnen und in erhabene Gedanken vertieft. Seine Augen strahlten wie Edelsteine, sie blickten so freundlich und herzlich wie die eines reinen, unschuldigen Kindes. Die Gottesglorie selbst ruhte auf seinem hellen Antlitz. Er verließ niemals seine Höhen, wie es ihm und der Gemeinde ziemte, und ließ sich nie zu Dingen herab, die nach Verdienen aussahen. Er ging nicht zu Feiern und Gastmählern und umschwänzelte die Großen und Reichen nicht, neigte und demütigte sich nicht vor den Mächtigen, um die Ehre der Thora, seine Ehre und die Ehre seiner jüdischen Gemeinde nicht zu entweihen. Gab es irgend eine wichtigere Sache, die die Gesamtheit betraf, so mußte man zu ihm kommen, ihn um Rat fragen und sein Wort hören.

Einen solchen Rabbi brauchte die damalige Gesellschaft und konnte ihn auch finden. Gesellschaft und Rabbi mußten einander wert sein und waren es!

Der von Natur aus stolze Schloimale, dem der Untergang des Vaterhauses bitterer als der Tod war, spürte plötzlich die erwachte Kraft in sich, die ihn antrieb und anspornte, sein Ziel zu erreichen, um sich selbst und die Seinigen wieder zur Höhe zu bringen. Die Leidenschaft packte ihn, sich einen Namen zu schaffen und hier, in seinem Städtlein, seine Größe zu zeigen. Alle sollten wissen, wer Schloimale war, und Respekt vor ihm haben. Aber um dieses Ziel zu erreichen, gab es keinen andern Weg als den, sich mit Leib und Seele in den Talmud zu versenken. Lust und Leidenschaft zum Lernen ergriffen ihn.

Ja, das war Leidenschaft, böse Lust. In jenem Augenblicke, da Schloimale sich den Nutzen zum Vorsatz nahm, geschah in ihm eine Veränderung zum Schlimmen. Als er daran dachte, seine gesunkene materielle Lage zu erheben, erniedrigte er dadurch seinen hochstehenden Geist, seine Seele. Das war nicht mehr der frühere kindlich reine Schloimale, der Herz und Sinn und Liebe für das Schöne und das Gute hatte, ohne jeglichen Zweck, rein und bloß darum, weil es schön und gut war, weil es ihm gefiel! Jetzt verlor es für ihn den eigenen Wert. Die Hauptsache an einem Dinge war jetzt sein Zweck, die Nützlichkeit. Auch beim Lernen war der Zweck das Wichtigste – das Rabbinat, die Ehre, Geld und Gut, nach welchen Dingen er jetzt so heftig begehrte. Ja, die Thora war wirklich »die beste Ware«!

Elend, Armut, Erniedrigung, schweres, unerträgliches Leid und Ärger bewirkten, daß Schloimale tatsächlich klug wurde, wie so viele andere praktische Leute bei uns auf allen Gebieten, seien es Kaufleute, seien es Gelehrte, seien es Geldmenschen, seien es Klous-Leute. Man kann ihnen allerdings ihren Fehler nicht übel nehmen, daß ihr Tun oft zu weit geht, daß ihr Hirn zu viel klügelt; denn sie sind ja schließlich Menschen, die leben und aus der Enge hinaus und ein menschlicheres Dasein führen wollen. Sie sind zwar zu bedauern, aber das Unrecht bleibt ein Unrecht!

Bemitleidenswert war Schloimale in jener entscheidenden Minute, als ein Mensch wie er, mit warmfühlendem Herzen, mit kindlich-naiver Seele, plötzlich ein kluges, praktisches, interessiertes Männlein wurde! Erstarrt blieb er plötzlich mitten im Felde, wo er spazieren ging, stehen, seine Stirn war gerunzelt, das Gesicht von frisch im Hirn auftauchenden Gedanken umwölkt. Seine Seele war irgendwo ganz weit – wo waren die Felder und Wälder hier hin, wo die Schönheit und Anmut, die Wunder Gottes, die noch vor kurzem seinem Herzen so nahe standen! Er dachte jetzt an Zwecke und bedauerte es sehr, daß er zu Lebzeiten des Vaters beim Lernen recht faul gewesen war und die Zeit mit nutzlosen Spaziergängen verbracht und sich weiß der Teufel mit wem herumgetrieben hatte. Wäre er gescheiter gewesen und im Beßmeddresch gesessen und hätte gelernt, statt seine Spaziergänge zu machen! Wie weit wäre er schon in den Talmud hineingekommen, und was die Hauptsache war – er wäre seinem Ziele näher gewesen und höher gestanden als seine Gefährten. Von heute an, dachte er bei sich, muß ich klüger sein. Die schöne Natur, seine Geliebte, bisher sein Trost und sein Leben, war ihm nun fremd, als ob er sich von ihr trennen wollte, ihre Anmut war falsche Schminke, ihre Schönheit ohne Wirklichkeit und Bestand. Er sann und sann – und plötzlich setzte er sich in Bewegung und ging rasch weiter.

Wird die Veränderung in dir von Dauer sein? Wirst du das erreichen, dem du nachjagst? Es ist zu bezweifeln. Heute aber bist du unglücklich – ach, daß sich Gott deiner erbarme, Schloimale!

*

Kapulje hatte die Überlieferung, daß am Schabbes-Nachme die Hochzeiten stattfanden und die Bräutigame, die Beßmeddresch-Rekruten, von nah und fern kamen. An ihrem Tun, an ihrer Kleidung, an ihrem Essen und ihrem Gehen war zu erkennen, daß sie von neuer Aufzucht waren. Die Änderung ihrer Lage, das Selbständigwerden, ob es nun ein vollständiges oder nur ein teilweises war, die Änderung der Kleidung, von den Schuhen an den Füßen bis zum Hut auf dem Kopfe, die Änderung der Eßgewohnheiten, und manchmal noch dazu die Änderung des Wohnortes – das alles machte den jungen Ehemann ganz wirr, so wie ein Küchlein, das sich aus dem Ei pickt und eine neue Welt, größer und ganz anders als die, in der es zusammengedrückt und verschlossen lag, vor sich sieht. Anders die Stadt und anders die Menschen und alles, was ihn umgab, und auch er selbst war fremd und verändert. Er befühlte Kleider, wie er sie vor der Hochzeit nicht benutzt hatte. Er betrachtete die goldene oder silberne Uhr, wunderte und freute sich, lächelte und spielte gleichzeitig und sah sich als einen Schmetterling, der sich aus einer so abscheulichen Larve in dieses schöne Farbenspiel verwandelt hatte. Um das Zerstörungs-Verbot nicht zu verletzen, behandelte er die Kleider ehrerbietig und setzte sich nicht eher, als bis er die Rockschöße aufgehoben hatte, um sie nicht zu zerdrücken.

Ein solch neugebackener Ehemann war eine besondere Gattung, ein ganz besonderes Wesen, das weder zu den jungen Leuten, noch zu den Männern gehörte. Zu den jungen Leuten paßte er nicht, denn er hatte ja eine Frau, und zu den Männern konnte er nicht kommen, die hatten Frau und Kinder und einen langen Bart, während er ein junger Fant war, der sich vor seiner Frau schämte und nicht einmal das mindeste mit ihr sprach! Und darum zeigte er sich hier bescheiden und dort hochmütig und blieb so meist zwischen zwei Stühlen sitzen. Er aß Kest beim Schwiegervater, hatte eine schöne Frau und eine schöne Wohnung – war aber hungrig und unbefriedigt und saß den ganzen Tag im Beßmeddresch! Und wenn er mit seinem vollgepfropften Talles-Beutel zum Frühstück kam, dann reichte ihm seine Frau, und zur Reinheitszeit seine Schwiegermutter, auf einem wohlanständigen Tablett eine Tasse Zichorie und zwei Hörnlein, von denen man nicht satt werden konnte. Er verzehrte die Semmeln, ohne etwas von ihnen zu bemerken, während er sich nach einem Stück groben, schwarzen Brotes mit Butter oder auch ohne Butter sehnte. Sein Magen war leer, sein Herz voll Verlangen. Gegen seinen Willen mußte er ein heiteres Gesicht machen; er bentschte, küßte die Mesise und ging hungrig ins Beßmeddresch, setzte sich dort einsam und still hin, bis die Zeit zum Mittagessen herankam.

Einer von diesen jungen Leuten des Schabbes-Nachme, den Kapulje glücklich gemacht hatte, war der Schwiegersohn eines der reichsten und angesehensten Männer der Stadt. Dieser Schwiegersohn verbrachte seine Zeit im Beßmeddresch und beschäftigte sich wie üblich mit Lernen. Nach dem Morgengebet blieb er zurück und saß im Talles und in den Twillen vor dem Talmud, der auf dem offenen Pult vor ihm lag, und summte vertieft seine Lernweise. Er hielt sich vornehm, trug schöne Wäsche und feine Gewänder und geputzte Schuhe. Die jungen Leute im Beßmeddresch sahen ihn neidisch an, wünschten sehnlichst, mit ihm vertraut zu werden, wagten es aber aus Respekt nicht, näher heranzukommen. Aber manchmal hatten sie einen klugen Einfall und kamen mit dem Talmud zu ihm, um ihn über eine Stelle zu befragen, die ihnen schwierig war, oder sie fragten ihn um die Zeit, was ihm immer angenehm war und freudige Antwort hervorrief, da es ihm sehr großes Vergnügen machte, die goldene Uhr aus der Tasche zu ziehen.

Und so stolz er den anderen gegenüber war, so demütig verhielt er sich gegen Schloimale. Vom ersten Augenblick an, da er ihn sah, fühlte er sich zu ihm hingezogen, und je mehr er ihn erkannte und seinen Geist begriff, desto stärker verlangte es ihn, mit ihm vertraut zu werden, und so dauerte es nicht lange und sie wurden Freunde, wie es bei Jünglingen geht, die im Sturme dem Zuge ihres Herzens und ihrer Augen folgen.

Diese Freundschaft war dem Herzen Schloimales erquickendes Labsal, brachte ihm vor den andern Ehre und flößte außerdem seinem Herzen frohe Hoffnung für die Zukunft ein. Sein Freund erfüllte ihn mit Zuversicht und sagte ihm Heirat, Liebe und Freundschaft, Reichtum und Ehre und ewig gedeckten Tisch voraus, alles mit halben Worten, da der Mund nicht sprechen konnte und der Kluge an Andeutungen genug habe – und Schloimale träumte von den Wünschen seines Herzens, von einer schönen Braut und von einer glücklichen Zukunft, von herrlichen Dingen, die er gar bald haben würde. Die Freude des Festes, die Laubhütte, der Duft des grünen Laubes auf ihrem Dache, der Eßreg, der Lielew, die Weidenzweige trugen auch dazu bei, seine Seele froh zu stimmen, das Wasserschöpffest in den Festnächten, die Psalmen, die von vielem Volk unter Gesang, Jubel und Tanz in der Schiehl gesagt wurden – all das steigerte seinen Geist aufs höchste und brachte ihm seine Kindheit zurück. Und in einer dieser fröhlichen Nächte wurde ein Bund zwischen beiden Freunden geschlossen und sie kamen überein, gemeinsam zu lernen, Schloimale wollte die Stadt nicht verlassen, hier bleiben und auf Gott bauen.


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