Mendele Moicher Sforim
Schloimale
Mendele Moicher Sforim

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Fünftes Kapitel

In der Schanerabbe-Nacht bewölkte sich der Himmel, Sturm und Regen und Schneekälte brachen herein. Das Wetter veränderte auch die Menschen, das umdüsterte Aussehen des Himmels verdüsterte auch ihre Gesichter, die Festfreude schwand – Trauer und Sorge erwachten! Auch in Schloimale sah es jetzt anders aus und die schönen Andeutungen und Zukunftsverheißungen dünkten ihm weniger sicher. An jenem Tage lernte er gemeinsam mit seinem Freunde, wie sie verabredet hatten. Sie hatten den Traktat Chagiga angefangen und sein Freund blieb gleich zu Anfang, wie ein Vogel an der Leimrute, an zwei gleichgeschriebenen Worten kleben, da er weder Bibel noch Grammatik jemals gelernt hatte; er geriet in Verwirrung, begann an allen Gliedern zu zappeln, stotterte und schwatzte und wand sich nach allen Seiten und schrie – aber nichts half. Er suchte Unterstützung bei Raschi. Aber da standen wieder die gleichgeschriebenen Worte. Er riß sich von der Leimrute los und rettete sich zu Toißwes. Da fiel er in die Grube und verstrickte sich ins Netz. Schloimale redete auf ihn ein, erklärte es ihm mit dem Finger und trieb ihn wie einen Ochsen auf den richtigen Weg – sein Freund schämte sich, war hartnäckig, schwatzte und hörte nichts – da ging die Bruderschaft in Stücke. Schloimale war wieder einsam und traurig und seine Träume hatten ein Ende!

Schloimales Kopf war jetzt auf Karriere gerichtet. Das Ziel bohrte unaufhörlich an seinem Gehirn, er sann nur, wie er auf die Jeschiwe kommen könnte – o Gott, wie sollte er das anfangen? Das Städtlein war ja abgeschlossen wie Jericho, niemand kam und niemand ging. Die Leute versahen sich schon rechtzeitig mit Nahrungsmitteln, setzten Borscht zu, hackten Kraut. Sie kletterten in alte warme Leibchen, in zerfetzte, geflickte, wattierte Röcke und verkrochen sich wie die Bären zum Winterschlaf. Von Reisen war keine Idee. Was sollte er tun? Sich zu Fuß auf den Weg machen? Aber der Weg nach Ss . . . k war ihm nicht recht bekannt. Dazu stand noch zu befürchten, daß ihn Platzregen oder nasser Schnee überfielen und den Weg zerstörten. Sollte er also warten, bis jemand zufällig führe? Das schien ihm schrecklich, er fürchtete etwas zu versäumen, die Jeschiwe könnte ihm vor der Nase weggenommen werden, um Himmels willen, was sollte dabei herauskommen, was sollte aus seinem Hochkommen werden?!

Einmal am frühen Morgen, als die Sonne wie jemand mit zahnschmerzgeschwollenem, verbundenem Gesicht unfreundlich durch graue Wolkenfetzen blickte und die ganze Familie noch unter den warmen Decken in ihren Betten schlief, verließ Schloimale heimlich und still Haus und Stadt und machte sich auf gut Glück nach Ss . . . k auf. Das Bündel unter seinem Arm bestand aus dem Twillen-Beutel und ein paar jämmerlichen Kleinigkeiten seiner Kleidung. Der Weg war schmutzig und aufgerissen. Seine Schuhe liefen voll Wasser und pfiffen, sie bespritzten und verschmierten den Rock bis hoch zum Hute hinauf. Aber die Karriere schwebte vor seinen Augen und führte ihn wie die Feuersäule immer weiter, bis er keine Kraft mehr hatte und kaum noch die Füße bewegen konnte.

Eine Fuhre, ein einfaches Wäglein, hatte er sich nicht nehmen können – er besaß ja bloß ein paar harte Dreier, um sich auf der Reise und während der ersten Zeit in Ss . . . k zu erhalten, bis ihm Gott »Tage« geben würde. Sollte er warten, bis zufällig ein Wagen daherkäme, um auf den Kutschbock zu klettern oder zusammengequetscht und eingerollt irgendwo hinten als armer überzähliger Passagier mitzukommen, wie es in Polen und Reußen Brauch war? Da hätte er den Messias erwarten können. Das Städtlein Kapulje liegt, wie männiglich bekannt, irgendwo in einem abgelegenen Winkel, weit ab von der Landstraße, da war keine Postkutsche zu sehen und kein Glöcklein zu hören, außer ganz selten einmal die Glocken der Kreishauptmanns-Kutsche.

Im allgemeinen war es kein dummes Städtlein, es war still und ruhig und gesetzt – man saß an der Thora und tat seinen Dienst. An der Thora: In der Klous, im Beßmeddresch, wo man die Zeit recht gemütlich beim Lernen und beim Plaudern verbrachte, viel besser als die Leute in ihren Klubs – wenn man beide Dinge in einem Atem nennen darf. Dienst: das bedeutete Schenke und Laden – also Geschäft. Nicht daß man etwa hohe Flüge unternahm, Weltenumstürze ins Werk setzte und in die weite Ferne – nach Moskau, Leipzig, Krakau, Lemberg – jagte! Nein, es handelte sich um kleine Schenken und Läden für die eigenen Leute aus der Stadt oder für die derben Kerle, die Bauern, aus den umliegenden Dörfern, die gewöhnlich am Sonntag auf Ochsenwagen zur Stadt gefahren kamen und Säcke voll Kartoffeln, Rüben, Krautköpfen brachten, manchmal auch einen gebundenen Hahn, einen ausgeräucherten, alten Kerl. Im Herbst, zur Channeke-Zeit brachten sie Gänse, Schaf- und bearbeitete Lammfelle. Und wenn ein Bauer zur Stadt kam, mußte er was trinken, dann nahm er in der Schenke einen Schluck und noch ein paar Schluck zu sich, aß ein paar altbackene Beugel dazu und brach dann heiter und ein wenig angeheitert zu einem Gang zwischen den Läden auf, um einzukaufen; der eine brauchte Salz, der andere Teer, Schwefelhölzlein, Knaster, der ein großgeblümtes, rotes Tüchlein für seine Alte, jener ein rosa Bändlein für den Zopf seines Mädels. Kurz, es war ein ruhiges Städtlein, wo die Leute miteinander Handel trieben, wo alles still und gemütlich und ohne Aufregung seinen Weg ging.

Eine Ausnahme machten natürlich die Tage an den Märkten im Sommer, wenn der Handel schon ein wenig größer und lärmender wurde. Dann tauchten neue Gesichter auf, kleinstädtische Physiognomien, mit seitwärts oder hinten sitzenden Hüten, Mützen, Kappen von den absonderlichsten Formen. Da tasteten Hände nach allen möglichen Dingen in den Wagen, da sah man schlaue Äuglein und Nasen, die sich verzogen und irgend etwas abfällig beurteilten, da sah man seltsame Schöpfe, knarrende Bastschuhe und riechende, tüchtig geschmierte Bauernsandalen; die Weiber mit offenem Hals und nackten Schultern, mit Glaskorallenschnüren behängt, in groblinnenen bestickten Hemden, saßen meist unbeweglich auf dem vollgepfropften Wagen unter Kränzen Zwiebeln, Körben Eiern und einem neugeborenen, an allen Vieren gebundenen Kälblein, das nach dem Euter lechzte und schmachtete, während die arme Wöchnerin, mit den Hörnern hinten an den Wagen gebunden, zum Verkauf stand. Sie sollte irgendwo Milch geben, und ihr armes Kind geschlachtet werden!

Aus dem Tal jagte und stürmte plötzlich ein Rudel Pferde daher, mit erhobenem Schweif, mit den Hinterbeinen stampfend und das Hinterteil bäumend. Die Burschen lärmten mit knallenden Peitschen hinter und neben ihnen daher und stellten sie auf dem Pferdemarkt auf. Um sie herum gab es Gewimmel und Gedränge. Fachleute untersuchten die Zähne der Pferde, schätzten, feilschten, stritten, patschten die Pferde auf den Rücken, fuhren ihnen über die Kruppen. – Grischka der Zigeuner war auch da, sein Gesicht glänzte und schwitzte vor Anstrengung, der Hut saß ihm auf dem Hinterkopf. Grischka führte ein Pferd herum, ein hochgewachsenes Tier mit rundem, fettem Leib, braun glänzendem Fell und feurig brennenden Augen. Lejser-Hersch, der Stadt-Wasserführer, sah diese Ware und geriet außer Rand und Band. »Ach!« seufzte er. »Was für ein Pferd das ist! O du Bettler, Lejser-Hersch, du Bettler! Danach soll's dich nicht gelüsten, das ist nichts für deinen Beutel! Aber die Gemure sagt ja: ›Probieren geht über Studieren‹ – nein, nein – aber vielleicht doch? . . . He, Grischka! Sag mir, Bruder, was kostet's?« Ein Wort gab das andere und der Schluß war, daß Grischka der Zigeuner ein guter Kerl war, aufsaß und im Galopp hin und her ritt. Das Pferd stampfte mit den Hufen, bäumte sich, ein Teufelskerl. Die beiden feilschten, baten und beschworen einander flehentlich, schlugen endlich mit lautem Handschlag ein und steckten einander ihre Rockzipfel zur Abmachung fast bis unter die Nase, beglückwünschten einander, begossen das Geschäft mit Branntwein, Lejser-Hersch nahm von seinem guten Kaufe Besitz und führte ihn freudestrahlend nach Hause.

Die Sommersonne briet und bedeckte die erhitzten Gesichter mit Schweiß, so daß man eins trinken mußte. Kein Tropfen Wasser in den versiegten Fässern! Überall Lärm und Tumult. Hier gab es einen Auflauf, als bekomme man Ungeheuer zu sehen. Auf dem Dach einer Zeltbude mit seltsamen wilden Gestalten von Menschenfressern, schrecklichen geflügelten Drachen, Hexen, Teufeln, stand ein Komödiant in breiten Pluderhosen mit buntem Flitterwerk. Er trompetete und forderte das Publikum auf, einzutreten und das Puppenspiel anzusehen. Er schlug Purzelbäume und riß Witze. Die angesammelten Burschen und Dirnen, Männer und Weiber sperrten den Mund auf, drängten nach und konnten sich vor Lachen nicht halten.

Vom andern Ende des Marktes ertönte plötzlich ein Geschrei, ein Gelärm, ein Getümmel, daß die Menschen zusammenströmten. Lejser-Hersch und der Zigeuner stritten hier. Lejser-Hersch war nach einigen Stunden wieder zu dem Pferd gekommen, da hatte er es nicht mehr erkennen können. Das sollte ein Pferd sein? Das war ein Gespenst – in den Zigeuner sollte eins fahren! –, wo war das Bäuchlein, wo war der Leib?! Das hier war ein altes, klappriges, dürres Vieh.

»Der Zigeuner hat mich beschwindelt!« schrie Lejser-Hersch und führte seine Sache vor der Menge. »Was so ein Zigeuner kann! Der Betrüger hat dem Pferd unter das Fell geblasen, so wie man eine Blase aufbläst, hat ihm die Zähne gefeilt und ihm Kräuterwerk mit Schnaps eingegeben, davon war es betrunken, hat eine schöne Gestalt bekommen und ist stark und schnell wie ein Geist geworden!« Die Menge verurteilte den Zigeuner und prügelte ihn nach dem Maße seiner Sünde.

Mitten auf dem Marktplatz sammelten sich die Menschen um einen eben Gekommenen. Er spielte die Drehorgel und hielt sich für einen großen Musiker, der Konzert gab. Er drehte und drehte, die Orgel schallte und die Musik drang weit umher. Ein Äfflein in Kleidern tanzte auf den Hinterbeinen. Ein kleines Mädchen in Hosen hüpfte und sprang durch einen Reifen und ein stummer, blasser Knabe ging mühsam auf den Händen, mit dem Kopf nach unten und den Füßen nach oben. Die Leute waren vor Verblüffung ganz außer sich. »Solche Künste hat man ja noch nie gesehen und nie gehört!«

Aber die Zeit blieb nicht stehen und rückte immer weiter, Stunde um Stunde, bis langsam die Abendschatten sich zu verbreiten begannen. Der Markt sang seinen Abschiedshymnus. Irgendwo in einem Wagen grunzte ein gebundenes Schwein aus einem Sack hervor. Es war hungrig und wollte nicht den ganzen Tag ohne Fressen liegen. Von ferne antwortete ihm eine Kuh, die es auch über hatte, so lange an den Hörnern festgebunden zu stehen. Gefesselte Hähne schlugen auf dem Wagen umher, krähten voller Wut – so lange Zeit waren sie von ihren Frauen getrennt! Und alle wurden von einem Chor ausgestreckter Kälber begleitet, die mit hohen, tieferen und tiefen Stimmen muhten, je nach ihrem Alter. Die Sonne ging zur Ruhe und die Leute begannen heimzufahren. Der Markt war aus.

Hunde strichen auf dem Platze umher, wühlten und suchten nach irgend einem Bissen. Gefräßige, ewig hungrige Stadtkühe spazierten herum und sammelten Reste: Ein Häuflein Stroh, ein Hälmlein Heu. Knaben mit Stöcken, die ausgesandt wurden, um nach guten Funden zu suchen, scharrten im Miste, ob vielleicht jemand was verloren hätte, das wollten sie aufheben. Auf den Herden in den Häusern brannte das Feuer. Das Abendbrot wurde gekocht. Die Männer in den Schiehlen beteten Minche. Die Nacht brach herein – es wurde ruhig und still.


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