Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erstes Kapitel.

Wiltstocken Castle war ein viereckiges Gebäude mit einer runden Bastion an jeder Ecke; jede dieser Bastionen lief in ein türkisches Minarett aus. Die nach Südwesten gelegene Seite bildete die Vorderfront und wurde von einem maurischen Bogen unterbrochen, in den eine Glastür eingelassen war; diese konnte, wenn es erforderlich schien, durch eine schmiedeeiserne Gittertür mit phantastischen Arabesken geschlossen werden. Der Torbogen wurde von einem Portikus im Baustil des Palladio eingefaßt, der sich bis zum Dache erhob und von einem in der Mitte geöffneten Giebel überragt wurde. In seiner auf diese Weise gebildeten Nische stand die schwarze Marmorfigur eines Ägypters aufrecht da und starrte unentwegt in die mittägliche Sonne hinaus. Zu ebener Erde breitete sich eine italienische Terrasse aus mit zwei großen Steinelefanten an beiden Enden der Balustrade. Die Fenster des oberen Stockes waren, wie die Eingangstür, in maurischem Stil gehalten; die Hauptfenster im Erdgeschoß aber bildeten viereckige Öffnungen mit steinernem Mittelpfosten.

Von unwissenden Beschauern wurde dieses Schloß für schlechtweg großartig gehalten; Architekten aber oder solche Leute, die Bücher über Architektur gelesen hatten, verurteilten es als eine unbezeichenbare Mischung aller möglichen Stilarten von denkbar schlechtestem Geschmack. Das Gebäude stand auf einer erhöhten Stelle, die von hügeligem Waldland umgeben wurde, von dem dreißig Morgen eingefriedigt waren und den Namen ›Wiltstocken Park‹ trugen. Eine halbe Meile südlich lag die kleine Stadt Wiltstocken, die von London in zweistündiger Eisenbahnfahrt zu erreichen war.

Der größte Teil der Einwohner von Wiltstocken war konservativ gesinnt. Zum Schlosse blickten sie mit ehrfurchtsvoller Bewunderung auf; einige von ihnen hätten zu jeder Zeit ein halbes Dutzend ihrer besten Freunde glatt geschnitten, um einer Einladung zum Diner oder öffentlich eines Grußes der Miß Lydia Carew teilhaftig zu werden, einer Waise und zugleich der Besitzerin aller dieser Herrlichkeiten.

Miß Carew war eine eigenartige Persönlichkeit. Sie hatte das Schloß und den Park von einer Tante geerbt, die das an Eisenbahnen und Minen reiche Vermögen ihrer Nichte ohne einen zugehörigen Landsitz für unvollständig erachtete. Lydia hatte außerdem von Verwandten, denen arme Familienmitglieder verhaßt waren, derartig zahlreiche Legate erhalten, daß sie jetzt in ihrem fünfundzwanzigsten Jahre die unabhängige Besitzerin eines Jahreseinkommens war, das dem jährlichen Verdienst von fünfhundert Arbeitern gleichkam – und sie stand außerdem von außen her unter keinerlei Druck, irgend etwas als Entgelt dafür leisten zu müssen. Abgesehen von dem Privilegium, eine unverheiratete Dame mit bemerkenswert großen Mitteln zu sein, genoß sie noch den Ruf umfassender Bildung und ungewöhnlich hoher Kultur. In Wiltstocken erzählte man, sie kenne achtundvierzig lebende Sprachen und sämtliche tote, sie wüßte auf sämtlichen bekannten musikalischen Instrumenten zu spielen, sie wäre eine künstlerisch vollendete Malerin – und sie hätte sogar Gedichte gemacht. Soweit die Wiltstockener in Betracht kamen, mochte dies auch auf Wahrheit beruhen, insofern sie sicherlich mehr wußte als jene.

Ihr Leben hatte sie auf Reisen mit ihrem Vater verbracht, einem Mann von lebendigem Geist und träger Verdauung, mit einem unabhängigen Einkommen und einem gewissen Sinn für Soziologie, für Wissenschaft im allgemeinen und für die schönen Künste. Über diese Stoffe hatte er auch einige Bücher geschrieben, durch die er sich einen bedeutenden Ruf als Kritiker und Philosoph erworben. Sie waren das Ergebnis von vielem Sehen, Beobachten von Landschaften und Gebäuden, Besuchen von Sehenswürdigkeiten und Theatern, von Spekulieren und Nachdenken. Zu allem diesen – mit Ausnahme des Spekulierens – hatte seine Tochter ihr Teil beigetragen und – je reifer sie, und je hinfälliger er wurde – mehr als ihr Teil. Da er die Jagd nach der Gesundheit mit dem Streben nach Vergnügen vereinigen mußte und außerdem sehr reizbar und unverträglich war, hatte er sie zur Selbstbeherrschung und Ausdauer durch härtere Lehren herangezogen, als es jene waren, kraft derer sie mit den Werken griechischer und deutscher Philosophen bereits bekannt wurde, lange ehe sie das Englisch, in das sie sie übersetzte, ausreichend verstand.

Als Lydia ihr einundzwanzigstes Jahr erreicht hatte, begann ihres Vaters Gesundheit ernstlich nachzulassen. Er wurde immer mehr und mehr von ihr abhängig; sie nahm daher an, daß er auch mit seinen Anforderungen an ihre Zeit anspruchsvoller werden würde. Aber das Gegenteil trat ein. Eines Tages in Neapel hatte sie mit einer englischen Gesellschaft, die sich dort aufhielt, eine Verabredung zu einem Ausritt getroffen; kurz vor der festgesetzten Stunde aber ersuchte er sie um eine Übersetzung eines längeren Auszugs aus einem Lessingschen Werk. In Lydias Innerem waren seit kurzer Zeit einige an ihr eigenes Ich gerichtete Fragen über die Berechtigung des väterlichen Jochs aufgetaucht, und sie zögerte vielleicht volle zwei Sekunden, ehe sie ihre Bereitwilligkeit zum Ausdruck brachte. Carew sagte nichts; hingegen fing er bald darauf einen Diener ab, der der englischen Gesellschaft ein Entschuldigungsschreiben zu überbringen hatte; er las die Zeilen und begab sich dann zu seiner Tochter zurück, die bereits nachhaltig mit ihrem Lessing beschäftigt war.

»Lydia,« sagte er mit einem gewissen Zögern, das sie für Schüchternheit hätte halten können, wenn anders diese Regung bei ihrem Vater, falls er sie anredete, überhaupt glaubhaft erscheinen konnte, »Lydia, ich möchte nicht, daß du deine Angelegenheiten dieser literarischen Spielerei halber zurücksetzest.«

Mit der vagen Furcht, die die Begleiterscheinung einer neuen und unerklärlichen Erfahrung ist, sah sie zu ihm auf. Er aber war mit der Art und Weise, wie sie die Angelegenheit aufnahm, nicht zufrieden und setzte noch hinzu: »Es ist weit wichtiger, daß du dich einmal eine Stunde lang amüsierst, als daß mein Buch weiterkommt – viel wichtiger!«

Lydia dachte noch einen Augenblick nach und legte dann ihre Feder beiseite.

»Ich kann mich bei dem Ausritt nicht amüsieren, wenn irgend etwas ungetan bleibt.«

»Und ich werde mich über deine schriftlichen Arbeiten nicht freuen, wenn du deswegen deinen Ausflug aufgibst,« entgegnete er. »Es ist mir lieber, du nimmst daran teil.«

Lydia gehorchte schweigend. Sie kam auf den seltsamen Einfall, daß sie der Angelegenheit einen liebenswürdigen Abschluß geben könnte, wenn sie ihren Vater durch einen Kuß erfreute. Doch war sie an eine Demonstration dieser Art nicht gewöhnt; und so blieb denn ihr Impuls auch ohne weitere Folgen. Sie verbrachte den Tag zu Pferde; dann unterzog sie ihre letzten rebellischen Gedanken noch einmal einer Prüfung und vollendete abends ihre Übersetzung.

In der Folgezeit kam Lydia ihre Macht, die sie sich durch ihre andauernde Unterordnung unmerklich angeeignet hatte, immer mehr zum Bewußtsein. Anfangs furchtsam, dann aber mutiger – je mehr sie sich dem väterlichen Gängelbande entwöhnte – begann sie ihren eigenen Neigungen zu folgen, indem sie den Stoff zu ihren Studien selbst auswählte, ja sogar gewisse neuerliche Entwicklungsstufen in der Musik und Malerei gegen die konservativen Anschauungen ihres Vaters verteidigte. Er stimmte ihrer unabhängigen geistigen Tätigkeit in vollem Umfange zu und warnte sie zu wiederholten Malen, ihren Glauben auf ihn nicht mehr als auf irgendeinen anderen Kritiker zu stützen. Eines Tages aber erklärte sie ihm, das hauptsächliche Reizmittel der Meinungsverschiedenheiten mit ihm läge in dem Vergnügen, schließlich herauszufinden, daß er doch recht hätte.

»Das freut mich sehr, Lydia,« entgegnete er ernst, »denn ich glaube dir. Nur sollten Dinge dieser Art lieber unausgesprochen bleiben. Sie scheinen zu der Kunst des Gefallens zu gehören, die auszuüben du vielleicht bald in Versuchung geraten könntest, insofern sie allen jungen Leuten bequem, einträglich, liebenswürdig und als ein Zeichen guter Erziehung erscheint. In Wahrheit aber ist sie gewöhnlich, feige, egoistisch und unaufrichtig. Bei einem Ladeninhaber ist sie eine Tugend – bei einem freien Weib ein Laster. Es ist weit besser, echtes Lob ungesprochen zu lassen, als sich dem Verdacht der Schmeichelei auszusetzen.«

Nicht viel später verbrachte sie auf seinen Wunsch eine Saison in London, verkehrte dort in der verfeinerten englischen Gesellschaft und lernte sie in den Grundzügen als einen Tempel zur Anbetung der Reichen und als einen Markt zum Jungfrauenhandel kennen. Da sie sowohl mit diesem Kultus als auch mit jenem Handel bereits anderweitig bekannt geworden war, fand sie mit Ausnahme der englischen Eigenart, die hierbei in Anwendung gebracht wurde, nichts, was ihr Interesse wecken konnte; auch die Neuheit hatte bald ihren Reiz verloren. Zudem wurde sie durch die ungewollte Fähigkeit, Zuneigung bei ihrem eigenen Geschlecht zu erwecken, in ausgiebigem Maße behelligt. Impulsive junge Mädchen vermochte sie sich ehrfurchtsvoll vom Leibe zu halten; hingegen verfolgten sie ältere Damen, besonders zwei Tanten, die sich während ihrer Kindheit niemals um sie gekümmert hatten, mit sklavischer Zärtlichkeit und suchten sie durch ein Gemisch von dringlichen Bitten und Verlockungen dazu zu bringen, sich von ihrem Vater zu trennen und für den Rest ihrer beiderseitigen Leben mit ihnen zusammenzubleiben. Lydias Zurückhaltung fachte ihren sehnsüchtigen Wunsch, sich das junge Mädchen als Schoßkind anzuschaffen, zu heller Flamme an. Um sie los zu werden, kehrte sie mit ihrem Vater auf den Kontinent zurück und brach jegliche Verbindung mit London ab. Die beiden Tanten erklärten sich aufs tiefste beleidigt, und man sagte, daß Lydia sich ihnen gegenüber recht unklug benommen habe. Als sie aber das Zeitliche segneten, und ihre Testamente bekannt wurden, stellte es sich heraus, daß sie sich in ihren Bemühungen, Lydia zu bereichern, trotz alledem gegenseitig übertrumpft hatten.

Als Lydia fünfundzwanzig Jahre zählte, trat das erste bedeutsame Ereignis ihres Lebens ein. Ihr Vater starb in Avignon. Nicht einmal bei dieser Gelegenheit vollzog sich eine Annäherung zwischen ihnen. Eines Abends saß sie ihm gegenüber am Kamin und las ihm vor, als er plötzlich sagte:

»Mein Herz hört zu schlagen auf, Lydia. Adieu!«

Gleich darauf starb er. Es gelang ihr nur schwer, den Tumult zu unterdrücken, der sich im Hause auf ihr Klingelzeichen hin erhob. Sämtliche Insassen fühlten sich zu größter Bestürzung verpflichtet und nahmen es recht unangenehm auf, daß sie sich ihnen weder dankbar noch irgendwie geneigt zeigte, ihr Benehmen nachzuahmen.

Carews sämtliche Verwandte stimmten darin überein, daß er ein höchst unpassendes Testament hinterlassen habe. Es war ein kurzes, fünf Jahre vor seinem Tode datiertes Testament des Inhalts, daß er seinen ganzen Besitz seiner geliebten Tochter Lydia hinterließ. Indes hatte er ihr auch einige Privatbestimmungen vermacht. Eine von diesen erregte in der Familie die größte Empörung und enthielt den Wunsch, seine Leiche nach Mailand überführen und dort verbrennen zu lassen. Nachdem Lydia mit der sterblichen Hülle ihres Vaters dessen Anordnung gemäß verfahren war, kehrte sie zur Regelung ihrer Angelegenheiten nach England zurück, wo sie unter den fleißigen Arbeitstieren des Kanzlei- und Erbschaftsgerichts manche hoffnungslose Leidenschaft entfachte und ihre Anwälte angenehm überraschte durch einen Geschäftssinn und eine Geduld gegenüber der umständlichen Rechtspflege, die unvereinbar mit ihrem Alter und Geschlecht schienen. Sobald alles geordnet war und sie sich wieder vollkommener Ruhe erfreuen konnte, kehrte sie nach Avignon zurück und entledigte sich dort ihrem Vater gegenüber der letzten Verpflichtung. Diese Verpflichtung bestand in der Eröffnung eines Briefes, den sie in seinem Schreibtisch gefunden hatte. Die Aufschrift lautete: ›Für Lydia. Sie soll dies Schreiben mit Muße lesen, wenn über mich und meine Angelegenheiten die endgültigen Anordnungen getroffen worden sind.‹

Der Brief lautete folgendermaßen:

   

»Meine liebe Lydia!

Ich gehöre zu der großen Zahl enttäuschter Menschen. Handelte es sich nicht um Dich – ich würde mich wie die übrigen meines Schlages als ein gründliches Fiasko bezeichnen. Erst vor wenigen Jahren kam mir der Gedanke, daß ich, wenngleich ich mit manchem eitlen Ehrgeiz Schiffbruch gelitten hatte, – über den Du Dir, da der Schiffbruch nun einmal besiegelt ist, nicht mehr den Kopf zu zerbrechen brauchst, – daß ich trotz alledem als Vater einiges Nützliche geleistet habe. Bei dieser Gelegenheit wurde es mir auch bewußt, daß Du aus unserm gemeinsamen Leben keinen andern Schluß ziehen konntest, als daß ich Dich mit unwandelbarem Egoismus als meinen Amanuensis und Schreiber ausgenutzt habe, und daß Du mir demzufolge für Deine Kenntnisse nicht mehr verpflichtet bist, als ein Sklave seinem Herrn für die Kraft, die angestrengte Arbeit seinen Muskeln verliehen hat. Damit Du nun nicht unter einem derartigen scheinbar unheilvollen tyrannischen Einfluß leiden und auf den Gedanken unrechtmäßigerweise erduldeten Unglücks verfallen sollst, will ich mich jetzt Dir gegenüber rechtfertigen.

Ich habe Dich nie gefragt, ob Du Dich Deiner Mutter erinnerst. Hättest Du diesen Gegenstand jemals berührt, ich würde mich Dir gegenüber offen ausgesprochen haben. Da Dich aber ein kluger Instinkt ihn immer vermeiden ließ, so gab ich mich damit zufrieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen, bis Umstände wie der jetzige jegliche weitere Zurückhaltung überflüssig machten. Wenn sich bei Dir jemals Bedauern darüber regen sollte, daß Du von der Frau, die Dir das Leben gegeben hat, so wenig wußtest, so schüttele dies Bedauern ohne Reue von Dir ab. Sie war eine Egoistin, die weder ihren Gatten, ihr Kind, noch Freund oder Diener mit sich unter einem Dach halten konnte. Ich spreche vollkommen leidenschaftslos. Alle meine persönlichen bitteren Empfindungen gegen sie sind, während ich jetzt schreibe, ebenso erstorben, wie dann, wenn Du meine Zeilen lesen wirst. Ich bin sogar dazu gelangt, gewisse charakteristische Eigenschaften, die Du ererbt hast, mit milden Augen anzusehen; ich darf daher mit Aufrichtigkeit sagen, daß ich seit der Zeit, wo der Zauber, in dem ich sie heiratete, von mir wich, ihr niemals freundlichere Gefühle entgegengebracht habe, als es jetzt der Fall ist. Sechs lange Jahre habe ich aus unserm Zusammenleben das Beste gemacht, während sie das Schlechteste daraus machte; und dann haben wir uns voneinander getrennt. Ich gestattete ihr, unsere Trennung nach außen so zu erklären, wie es ihr am besten gefiel, und setzte ihr fünfmal soviel Geld aus, als sie jemals mit Recht erwarten durfte. Auf diese Weise bewog ich sie, Dich ungestört in meinem Besitz zu belassen; ich hatte Dich der Vorsicht halber bereits nach Belgien geschafft. Der Grund dafür, daß wir England zu ihren Lebzeiten niemals aufgesucht haben, liegt darin, daß sie meine frühere Handlungsweise und meine Feindseligkeit vielleicht öffentlich zu einer Rechtfertigung hätte benutzen können, um Dich mir abspenstig zu machen – und daß sie es sogar bestimmt getan haben würde. Mehr brauche ich über sie nicht zu sagen; es tut mir leid, daß ich sie überhaupt habe erwähnen müssen.

Ich will Dir jetzt erklären, was mich dazu trieb, Dich für mich zu sichern. Natürliche Zuneigung war es nicht: damals liebte ich Dich nicht. Ich wußte auch, daß Du mir sehr zur Last fallen würdest. Da ich Dich aber einmal in die Welt gesetzt und dann meine Verbindung mit Deiner Mutter abgebrochen hatte, so sah ich mich gezwungen, dafür zu sorgen, daß Du unter meinem Mißgriff nicht leiden solltest. Nur gar zu gern hätte ich mich selbst zu der Überzeugung gebracht, daß sie – wie man allgemein erzählte – die zu Deiner Erziehung die denkbar geeignetste Persönlichkeit wäre; ich aber wußte besser, wie die Dinge lagen, und faßte den Entschluß, mich meiner Verantwortlichkeit so gut ich konnte zu entledigen. Mit der Zeit wurdest Du mir sehr nützlich; und wie Du ja weißt, habe ich aus Dir tatsächlich Nutzen gezogen – ohne Bedenken, aber niemals, ohne auf Deinen eigenen Vorteil bedacht zu sein. Für das, was ich lediglich für Kopierarbeit erachtete, war stets ein Sekretär vorhanden. So viel Du auch für mich gearbeitet hast, ich darf wohl mit Überzeugung sagen, daß ich Dir niemals eine Aufgabe ohne erzieherischen Wert zugeteilt habe. Ich fürchte, die Stunden, die Du bei meinen Geldangelegenheiten verbracht hast, sind Dir im höchsten Grade drückend erschienen. Jetzt brauche ich Dich deshalb wohl nicht mehr um Verzeihung zu bitten: mittlerweile mußt Du aus eigener Erfahrung erkannt haben, wie sehr die Besitzerin eines großen Vermögens geschäftlicher Kenntnisse bedarf.

Als ich mich an Deine Erziehung machte, dachte ich nicht daran, daß ich den Grundstein zu irgend welcher persönlichen Bequemlichkeit für mich legte. Lange Zeit hindurch warst Du nur ein gutes, folgsames Mädchen und – wie unwissende Leute es nannten – ein Wunder der Gelehrsamkeit. In Deiner Lebenslage wäre wohl ein Kind gewöhnlichster Begabung beides geworden. Nach und nach aber gelangte ich dazu, Dein Dasein mit einer inneren Freude zu betrachten und zu verfolgen, die ich aus der Betrachtung meines eigenen Ichs nie schöpfen konnte. Es ist mir niemals gelungen und es wird mir auch jetzt nicht gelingen, die zärtliche Neigung, die ich für Dich fühle, zum Ausdruck zu bringen – noch das Triumphgefühl, das sich meiner bemächtigt, wenn ich jetzt herausfinde, daß die von mir als undankbar und unliebsam übernommene Pflicht mein Leben und meine Arbeit vor der Vergeudung bewahrt hat. Meine literarische Arbeit, die uns beide ausgiebig beschäftigt hat, bewerte ich jetzt nur nach dem Anteil, den sie zu Deiner Erziehung beigetragen hat; Du machst Dich mir gegenüber keiner Pietätlosigkeit schuldig, wenn Du zu der Erkenntnis gelangst, daß ich wohl viel Korn von Spreu gesondert, viel Menschen ausgesiebt und doch kein Gold gefunden habe. Ich bitte Dich, Dich dann daran zu erinnern, daß ich meine Pflicht Dir gegenüber bereits lange erfüllte, ehe sie erfreulich oder selbst hoffnungsreich wurde. Und wenn Du älter geworden bist und von den Freunden Deiner Mutter erfahren hast, inwiefern ich ihr gegenüber meine Verpflichtungen nicht erfüllt habe, dann wirst Du mir vielleicht insofern Gerechtigkeit widerfahren lassen, als ich die Welt um Deinetwillen wieder ausgesöhnt habe, indem ich Gewohnheiten und Bekanntschaften aufgab, die – ganz gleich wie andere sie beurteilt haben mögen – so lange sie andauerten, genug beigetragen haben, mir das Leben unerträglich zu machen.

Wenngleich ich mir über Deine Zukunft keine Sorgen zu machen brauche, so muß ich doch oft darüber nachdenken. Ich fürchte, Du wirst nur gar zu bald zu der Erkenntnis gelangen, daß die Welt der gebildeten Frau noch keinen Platz und keine Betätigungs-Sphäre angewiesen hat. In meinen jungen Tagen, als der Verkehr mit meinen Altersgenossen mir noch eine Notwendigkeit war, versuchte ich meine höhere Bildung abzutun, meine Prinzipien zu lockern und mir die allgemeine Geschmacksrichtung anzueignen, um mich der Gesellschaft der einzigen für mich erreichbaren Menschen anzupassen. Denn da ich einmal unter täppischen Toren zu leben hatte, so wollte ich selbst lieber ein solcher Tölpel sein als ein Mann. Diese meine Bemühung hat mich unglücklicher gemacht, als irgendeiner der Mißgriffe, die ich je in meinem Leben begangen habe. Ich selbst zu sein, das war recht einsam; nicht ich selbst zu sein aber war der Tod mitten im Leben. Ich warne Dich, Lydia: Laß niemals die Versuchung an Dich herantreten, Dich durch einen moralischen Selbstmord der Welt anzupassen.

Ich erwarte und erhoffe es, daß Du Dich eines Tages verheiratest. Dann wird sich Dir die Gelegenheit zu einem Mißgriff bieten, der niemals wieder gut zu machen ist – und gegen diese Möglichkeit vermag Dich keiner meiner Ratschläge noch Dein eigener Scharfsinn zu schützen. Du wirst wohl kaum so leicht einen Mann finden, der den Wunsch nach Befreiung von der Verantwortlichkeit, unsern Lebenslauf auszudenken und anzuordnen, befriedigen kann – diesen Wunsch, der uns alle den Führer ersehnen läßt, dem wir unumschränkt vertrauen können. Ich möchte Dich angesichts Deines großen Reichtums noch daran erinnern, daß Du Deine Gattenwahl nicht infolge einer Art Eifersucht auf Dein eigenes Einkommen auf solche Männer zu beschränken brauchst, die selbst zu reich sind, um nach Geld heiraten zu müssen. Ich hoffe, daß kein gewöhnlicher Abenteurer irgend welchen Reiz auf Dich ausüben kann; und solche Männer, die etwas wert sind, werden vor deinem Reichtum eher zurückschrecken, als daß er sie allenfalls anzieht. Die einzige Sorte, vor der ich Dich nachhaltig warnen muß, ist diejenige, der ich selbst angehören soll. Verfalle nie auf den Gedanken, daß ein Mann sich als passender und angenehmer Freund erweisen muß, weil er viel Bücher kritischen Inhalts gelesen hat– daß er den Einfluß der Kunst ebenso empfinden muß wie Du, weil er die Klassifikation der Namen und Kunstschulen, wie sie Dir geläufig ist, selber kennt und gelten läßt – oder daß er, weil er mit Dir in der Wahl der Lieblingsschriftsteller übereinstimmt, sich ihre Worte notwendig ebenso erklärt, wie Du sie verstehst. Hüte Dich vor Männern, die mehr gelesen als gearbeitet haben, oder die die Lektüre der Arbeit vorziehen. Vergiß nicht, daß die Frau niemals glücklich sein kann, wenn der Mann immer zu Hause sitzt. Hüte Dich vor Malern, Poeten, Musikern und Künstlern aller Art – mit Ausnahme ganz großer Künstler – hüte Dich vor ihnen sogar als Gatten und Vater. Selbstzufriedene Arbeiter, die ihr Geschäft gut kennen – ganz gleich, ob sie Finanzminister sind oder Bauern – solche Leute empfehle ich Dir als die im großen und ganzen erträglichste Klasse von Männern, mit der ich zusammen gekommen bin.

Weitere Versuche, Dir Ratschläge auf den Weg zu geben, will ich unterlassen. Ebenso schnell wie meine Ermahnungen mir in den Sinn kommen, folgen auch schon Erwägungen, die mich von ihrer Unzulänglichkeit überzeugen.

Du wirst Dich vielleicht fragen, warum ich Dir das, was ich hier niederschreibe, nicht schon früher gesagt habe. Ich habe es versucht, und es ist mir mißlungen. Wenn ich mir recht über mich selbst klar bin, so habe ich diese Zeilen in erster Linie deshalb hingeschrieben, um meinem sehnlichsten Wunsch, Dir meine Zuneigung verständlich zu machen, Befriedigung zu verschaffen. Das seltsame Gefühl, das der überbildete Mensch empfindet, wenn er sich zu dem Geständnis herbeilassen soll, daß er etwas mehr als ein gelehrtes Stück Stein ist, diese peinliche Regung bewahrt mich davor, Dich mit Gefühlsaufwallungen einer Art zu verwirren, an die ich Dich bisher niemals gewöhnt habe.

Und dann noch eins. Diese Versicherung meiner Liebe – mein letztes Wort – soll Dich erreichen, wenn jegliche Möglichkeit, daß irgendein Gemeinplatz des Lebens die Nachdrücklichkeit ihrer ungekünstelten Aufrichtigkeit abschwächen könnte, völlig ausgeschlossen ist.

Ich weiß, daß ich zuviel gesagt habe – ich fühle aber auch, daß ich nicht genug sagen kann. Die Niederschrift dieses Briefes war wahrlich eine schwierige Aufgabe! Trotz meiner Federgewandtheit habe ich niemals – nicht einmal bei meinen ersten Versuchen – mit soviel Mühe, mit einer derartig deutlichen Empfindung für das Unvollständige …«

An dieser Stelle brach das Handschreiben ab – der Brief war nicht beendigt worden.


 << zurück weiter >>