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Als der Herbst einsetzte, hielt Alice sich in Schottland auf und lernte Jagen; Lydia war in Wiltstocken, um die Briefe und Memoiren ihres Vaters zur Veröffentlichung vorzubereiten. Sie betrieb ihre schriftlichen Arbeiten nicht im Schlosse. Sämtliche Zimmer dieses Bauwerks waren kuppelförmig, gewölbeartig, goldstrotzend, mit Galerien versehen, dreikantig, sechswinklig – alles, nur nicht viereckig; sie suggerierten einem unwillkürlich etwas aus Tausendundeine Nacht und standen zu den Ideenassoziationen des Lebens ihres Vaters in keinerlei Verhältnis. In der Suche nach einem zur Arbeit zweckdienlichen Raum, verfiel sie wieder auf den Gedanken, in der Ulmenallee eine Art Pavillon errichten zu lassen. Doch hatte sie andrerseits keine Lust, durch die Anwesenheit von Maurern und Handwerkern gestört zu werden; infolgedessen wurde Warren Lodge gesäubert und frisch getüncht, und die Küche in ein bequemes Bibliothekzimmer umgewandelt; hier saß sie, mit dem Gesicht zur Tür, in der Mitte des Raums an ihrem Schreibtisch, sah durch ein Fenster auf die Ulmenallee hinaus und überblickte durch ein zweites einen Strich Wiesen und Waldland, den die Chaussee und ein Gewässer durchquerten, jenseits dessen das Panorama in einen fernen, grünen, zur Schafweide dienenden Abhang auslief. Die übrigen Räumlichkeiten gewährten zwei weiblichen Dienstboten Aufenthalt, die das Haus reinigten und abstäubten, Miß Carews Frühstück bereiteten, ihrem Klingelzeichen gehorchten und den Verkehr mit dem Schlosse aufrecht erhielten. Falls keine dieser Obliegenheiten an sie herantrat, saßen sie draußen in der Sonne und lasen Romane.
Als Lydia in dieser Zurückgezogenheit fast zwei Monate lang tagtäglich gearbeitet hatte, bewegten sich ihre Gedanken derartig nachhaltig im Kreise der Erinnerungen aus ihrem ehemaligen Leben an der Seite ihres Vaters, daß jede Unterbrechung durch die diensttuenden Mädchen sie jedesmal in unliebsamer, rauher Weise zum erkennenden Bewußtsein der Gegenwart zurückrief.
Am zwölften August trat Phöbe, eins der Mädchen, ins Arbeitszimmer und sagte:
»Mit Verlaub, Miß, Bashville fragt, ob er einen Augenblick stören darf?«
Da die Erlaubnis erteilt wurde, erschien der Diener in der Tür. Seit seinem Ringkampf mit Cashel hatte er seine frühere unerschütterliche Gelassenheit nie mehr ganz wiedergefunden. Sein Benehmen und seine Redeweise waren genau so zuvorkommend und respektvoll wie ehedem; sein Selbstbewußtsein aber war keineswegs noch ebenso unbeirrbar. Mit dem Haushofmeister stand er auf gespanntem Fuße, da dieser ihm wegen Errötens hatte einen Tadel zukommen lassen.
Jetzt kam er, um die Erlaubnis zu bitten, sich für den Nachmittag entfernen zu dürfen. Er ersuchte sehr selten um Vergünstigungen dieser Art und erhielt daher nie eine abschlägige Antwort.
»Heute sind mehr Menschen als sonst auf der Straße,« bemerkte Lydia, als er sich bedankte. »Wissen Sie vielleicht warum?«
»Nein, Madam,« entgegnete Bashville errötend.
»Am Zwölften beginnt allerdings die Jagd,« setzte sie hinzu, »aber das kann wohl nichts damit zu tun haben. Ist denn ein Rennen oder Jahrmarkt oder etwas dergleichen in der Nachbarschaft?«
»Nicht, daß ich wüßte, Madam.«
Lydia tauchte ihre Feder in die Tinte und dachte nicht mehr an die ganze Angelegenheit. Bashville kehrte ins Schloß zurück und kleidete sich wie ein Gutsbesitzer mit sportlichen Neigungen, ehe er von dannen ging, seinen freien Tag zu genießen.
Der Vormittag floß ruhig dahin. Kein Geräusch war in Warren Lodge für Lydia vernehmbar – nur das geschäftige Kratzen ihrer Feder, das Ticktack ihrer Lieblingsuhr, dann und wann ein Klappern des Geschirrs in der Küche, und von außen her die Stimmen der Vögel oder Mädchen. Als die Frühstücksstunde herannahte, wurde Lydia etwas unruhig. Sie unterbrach ihre Arbeit, um nach der Uhr zu sehen, und entfernte mit der Feder ihres Gänsekieles ein Stäubchen vom Löschpapier. Dann blickte sie gedankenverloren durchs Fenster die Ulmenallee entlang, allwo sie ja einstmals, wie sie sich zu jener Zeit einbildete, einen Waldgott erschaut hatte. Diesmal erschaute sie eine weniger romantische Erscheinung – einen Schutzmann. Sie blickte noch einmal ungläubig in der Richtung: er stand wirklich und wahrhaftig noch da, ein schwarzbärtiger, behelmter Mann, der sich wie ein dunkler Klecks von der grünen Perspektive abhob und die Landschaft mit vorsichtigen Blicken musterte. Lydia klingelte und bat Phöbe, sich nach den Wünschen des Polizisten zu erkundigen.
Bald darauf kehrte das Mädchen atemlos mit der Nachricht zurück, daß sich noch ein weiteres Dutzend Schutzleute auf der Straße verborgen hielte und daß der von ihr befragte jegliche Auskunft verweigert und sich nach der Anzahl der Ausgangstüren des Parks erkundigt habe. Ob sie alle verschlossen wären – hatte er nachgeforscht – ob sie viele Leute in der Umgegend bemerkt hätte. Offenbar müßte jemand in der Nähe ermordet worden sein, meinte sie. Lydia zuckte die Achseln und bestellte ihr Frühstück, währenddessen Phöbe eifrig durchs Fenster spähte und ihre Herrin sich selbst bedienen ließ.
»Phöbe,« sagte Lydia, als alles abgetragen war, »Sie können ans Pförtnerhäuschen gehen und dort nachfragen, was die Polizisten wollen. Gehen Sie aber nicht weiter. Halt! Ist Ellen mit den Sachen ins Schloß gegangen?«
Phöbe gab dies zögernd zu.
»Schön. Sie brauchen nicht zu warten, bis sie zurückkommt. Beeilen Sie sich aber tunlichst, damit jemand da ist, wenn ich rufe.«
»Jawohl, Miß,« flüsterte Phöbe entschwindend.
Sobald Lydia allein war, nahm sie ihre Arbeit mit Muße wieder zur Hand; von Zeit zu Zeit hielt sie inne, warf einen Blick auf das waldige Land und beobachtete mit vorübergehendem Interesse eine Herde Schafe auf dem Abhang oder einen Zug Vögel über den Baumkronen.
Plötzlich geschah etwas bei weitem Bedeutsameres. Ein offenbar halb nackter Mann, der einen schwarzen Gegenstand unterm Arme trug, sprang mit der Behendigkeit eines Rehs über eine entfernte Lichtung und verschwand dann wieder. Lydia nahm an, daß er während eines Bades im Bach gestört worden sei und mit seiner Garderobe unterm Arm die Flucht ergriffen habe. Sie mußte unwillkürlich bei dem Gedanken lachen, wandte sich wieder ihrem Manuskript zu und begann von neuem zu schreiben.
Jetzt wurde draußen ein Rascheln hörbar; dann eilige Schritte. Der Riegel flog heftig in die Höhe – und Cashel Byron stürzte bis auf die Schwelle herein. Hier machte er halt; er war von Lydias Gegenwart und von der Veränderung im Aussehen des Zimmers völlig verblüfft.
Cashel war noch immer derselbe – aber doch ganz anders. Er trug eine Jacke, die ihm offenbar nicht gehörte; sie reichte ihm kaum auf die Hüften, und die Ärmel waren so kurz, daß seine Unterarme nur zur Hälfte bedeckt wurden, woraus sich ergab, daß er unter dem erborgten Kleidungsstück nichts anhatte. Seine weißen Kniehosen waren von Erde und grünen Flecken zerdrückten Grases besprenkelt. Die Beinkleider hatten vorn einen breiten Latz, unter den hindurch und um seine Hüften sich ein hochroter Seidenschal wand. Von dem Knie bis zu den Socken, deren Rand über die Schnürstiefel herabgesunken war, traten seine nackten Beine mit ihrer mächtigen Muskulatur zutage. Sein Gesicht bedeckte eine Maske von Schweiß, Staub und Blut, die stellenweise in schwarzumränderten Streifen vermittelst eines Schwammes entfernt worden war. Unterhalb des linken Auges erhob sich eine fast walnußgroße Beule bläulichen Fleisches. Dieselbe Wange und die gegenüberliegende Backe schien arg zerschunden; an einem Mundwinkel war die Lippe gespalten. Einen Hut hatte er nicht; das kurze Haar hing wirr durcheinander; seine Ohren glühten, als ob sie mit grobem Sandpapier gerieben worden wären.
Einige Sekunden lang starrten sie sich sprachlos an. Er versuchte etwas zu äußern. Die Stimme versagte ihm, und er sank in einen Stuhl.
»Ich wußte nicht, daß jemand hier war,« flüsterte er heiser und nach Atem ringend. »Die Polizei ist hinter mir her. Ich habe eine Stunde lang gefochten und bin über eine Meile gerannt. Ich bin todmüde – ich kann nicht weiter. Darf ich mich im Hinterzimmer verbergen? Sagen Sie ihnen dann, bitte, daß Sie niemand gesehen haben – wollen Sie?«
»Was haben Sie getan?« fragte Lydia, die ihr Schwächegefühl gewaltsam zu überwinden suchte und sich erhob.
»Nichts!« entgegnete er mit einem jedesmaligen Stöhnen, wenn er Atem schöpfte. »Mein Gewerbe – das ist alles.«
»Warum verfolgt Sie die Polizei? Warum sind Sie in diesem entsetzlichen Zustand?«
Bei dieser Frage zuckte Cashel zusammen. Im Deckel der Papierschatulle auf dem Schreibtisch befand sich ein Spiegel. Er nahm ihn auf, betrachtete sich mit angstvoller Unruhe, fühlte sich aber bei dem Anblick, der sich ihm bot, sofort erleichtert. »Alles in bester Ordnung,« meinte er. »Das gibt kein bleibendes Mal. Diese Maus ist morgen wieder weg,« rief er mit einem Hinweis auf die Beule unterm Auge. »Eigentlich sehe ich noch ganz passabel aus – nach alledem. Zunächst muß ich meine Blasebälge wieder in Ordnung haben. Uff! Mein Herz ist mir geschwollen wie ein Bullenherz – nach der Lauferei!«
»Sie ersuchen mich. Sie bei mir aufzunehmen?« sagte Lydia jetzt in strengem Tone. »Was haben Sie getan? Haben Sie einen Mord begangen?«
»Nein!« rief Cashel, der sich seine Augen vor Staunen weit aufzureißen bemühte, was ihm jedoch nur mit dem einen gelang, da das andere sich zunehmend zu schließen begann. »Ich sage's Ihnen ja – ich habe geboxt. Das ist gesetzlich verboten. Ihnen liegt doch nichts daran, daß ich ins Gefängnis komme, nicht wahr? Verfluchter Hund,« meinte er, da er mit plötzlicher Wut auf den Inhalt ihrer Frage zurückkam. »Nicht mit einem Dampfhammer wäre er umzubringen. Da kann man ebensogut auf einen Sack voll Nägel losdreschen! All mein Geld, meine Zeit, mein Training und die Mühe und Arbeit des heutigen Tages – futsch für nichts und wieder nichts! Das ist ja rein zum Heulen!«
»Entfernen Sie sich!« befahl Lydia mit unüberwindlichem Ekel. »Und lassen Sie mich nicht sehen, welchen Weg Sie einschlagen. Wie können Sie es wagen, bei mir Schutz zu suchen?«
Die Schwammale auf Cashels Zügen wurden weißer; er begann wieder heftig nach Atem zu ringen. »Wie Sie wünschen,« sagte er, »ich gehe. Kein Pferdejunge in Ihrem Stall würde mich in solcher Weise preisgeben.«
Bei diesen Worten öffnete er die Tür; unwillkürlich aber schloß er sie fast im selben Augenblick wieder. Lydia blickte durchs Fenster und sah einen Haufen Polizisten und andere Leute die Ulmenallee entlanglaufen. Cashels Augen schweiften in die Runde – halb flehentlich, halb verzweifelt, wie die eines gehetzten Tiers.
Dem vermochte Lydia nicht zu widerstehen. »Schnell!« rief sie, indem sie eine der Innentüren öffnete. »Gehen Sie da hinein, und halten Sie sich ruhig – wenn Sie können.« Als er verdrossen einen Augenblick zögerte, stampfte sie heftig mit dem Fuße auf. Er schob sich durch die Öffnung. Sobald sie die Tür geschlossen hatte, nahm sie ihren Platz am Schreibtisch wieder ein: ihr Herz schlug ihr so wild, wie sie es seit jener Zeit nicht mehr verspürt hatte, wo sie noch in ihrer frühen Kindheit schuldbeladene Geheimnisse vor ihrer Bonne verbarg.
Trampelnde Fußtritte und wirre Stimmen wurden draußen laut. Dann folgte ein zweimaliges peremptorisches Klopfen an der Tür.
»Herein!« sagte Lydia mit mehr Fassung, als sie selbst wußte. Doch wurde diese Aufforderung nicht erst abgewartet. Noch ehe sie das Wort ganz ausgesprochen hatte, trat ein Polizist in die Tür und blickte rasch forschend im Zimmer umher. Er prallte sichtlich staunend zurück und berührte schließlich seinen Helm, um seinen Respekt vor Lydia zu erkennen zu geben. Als er seinen Mund zum Sprechen öffnete, drängte sich Phöbe, vom Laufen noch ganz erhitzt, an ihm vorbei; dann legte sie die Hand auf die Tür und fragte ihn schnippisch nach seinem Begehr.
»Gehen Sie von der Tür weg, Phöbe,« sagte Lydia. »Bleiben Sie hier, bis ich Ihnen gestatte, sich zu entfernen,« fügte sie hinzu, als sie das Mädchen sich der Innentür nähern sah. Dann wandte sie sich höflich an den Polizisten: »Womit kann ich Ihnen also dienen?«
»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Miß,« entgegnete der Schutzmann freundlich. »Haben Sie vielleicht vor kurzem jemand hier vorbeikommen sehen?«
»Meinen Sie einen nur teilweise bekleideten Mann, der eine schwarze Jacke trägt?«
»Das ist er, Miß!« erwiderte der Konstabler voll Eifer. »Wohin hat er sich gewandt?«
»Ich werde Ihnen zeigen, wo ich ihn gesehen habe,« sagte Lydia, indem sie sich erhob und zur Tür schritt. Draußen stieß sie auf einen Haufen Landleute und fünf Polizisten, die zwei Männer in ihrer Mitte unter Bewachung hielten: der eine von ihnen war Mellish – ohne Jacke; der andere ein Mensch mit einer Hakennase, wie Lydia seinesgleichen auf Rennbahnen des öfteren zu Gesicht bekommen hatte. Sie zeigte jetzt auf die Lichtung hinüber, die vorhin in eiligem Lauf von Cashel durchquert worden war; eine seltsame Empfindung überkam sie, als ob das Schuldbewußtsein der Täuschung eine Fiber ihres Herzens aus ihrer natürlichen Lage reiße. Doch sprach sie mit offenkundiger Sicherheit, und die hohe Polizei schöpfte nicht den geringsten Argwohn.
Jetzt traten einige Landleute vor, von denen ein jeder ganz genau zu wissen behauptete, wohin Cashel sich von der Lichtung aus gewandt haben müsse. Während die Auseinandersetzung ihren Fortgang nahm, gesellten sich zahlreiche Persönlichkeiten, die dem hakennasigen Häftling in ihrer Gesamterscheinung ähnelten, verstohlen zur Menge und warfen den Vertretern des Gesetzes feindselige Seitenblicke zu. Bald darauf wurde ein zweites Polizeidetachement sichtbar und hierzu ein weiterer Gefangener mit der zugehörigen Volksmenge. Unter dieser letzteren befand sich auch Bashville.
»Sie gehen besser ins Haus, Miß,« meinte der Konstabler, der zuerst mit Lydia gesprochen hatte. »Wir müssen uns nahe aneinander halten, da wir nur in der Minderzahl sind. Und der da ist für Sie kein passender Anblick.«
Lydia aber hatte schon hingesehen und in der Person des zuletzt angelangten Gefangenen Herrn Paradise erkannt, wenngleich sein über alle Maßen beschädigtes Äußere fast über die Möglichkeit der Erkennbarkeit hinaus zugerichtet war. Sein Kostüm glich völlig dem Cashels, nur daß er ein blaues Tuch mit weißen Tupfen als Gürtel trug. Seine Schultern waren in eine alte Pferdedecke gehüllt, aus deren Falten der nackte Oberkörper hervorlugte und in allen einer bösen Beule verfügbaren Farbentönungen schillerte. Was das Gesicht betraf, so deuteten eine Furche und ein Loch inmitten einer Anhäufung hautloser Fleischfetzen auf das Vorhandensein eines Auges oder Mundes hin: der Rest seiner Züge entzog sich einer unterschiedlichen Bestimmung. Offenbar vermochte er noch einigermaßen zu sehen: er bewegte seine geschwollene, zerschundene Hand, um seine Umhüllung zu ordnen, und fragte heiser und in sehr behindernder Tonbildung, ob die Dame einem armen Boxer, der für seine Wetter sein Bestes getan hätte, etwas zu trinken ›schmeißen‹ wollte. Im Anschlusse hieran brachte jemand eine Flasche zum Vorschein; nur Mellish erklärte sich, vorbehaltlich einer temporären Rückerstattung seiner Bewegungsfreiheit, bereit, den Inhalt des Gefäßes durch Paradises Schlund zu befördern. Kaum hatte der Branntwein das Gehege seiner geschwollenen Lippen durchflossen, als er erst einige vorbereitende Töne von sich gab und dann laut brüllte:
»Er hat die Polizei rufen lassen, weil er keinen neuen Gang mehr durchgehalten hätte! Meinetwegen kann's jetzt weitergehen!«
Der Konstabler befahl ihm Stillschweigen und stellte sich nahe an ihn heran, um ihn vor Lydia zu verbergen, die, ohne ihre geteilten Gefühle von Mitleid und Abscheu über seinen Zustand sichtbar werden zu lassen, ihn ins Schloß zu bringen und dort einer einstweiligen Behandlung zu unterziehen anempfahl. Sie fügte hinzu, daß die ganze Versammlung daselbst mit einigen Erfrischungen traktiert werden könne. Der Wachtmeister, der bereits recht müde und durstig war, schwankte in seinem Entschluß einer Fortsetzung der Verfolgung. Für Lydia aber war die Angelegenheit wie gewöhnlich mit der Äußerung ihres Wunsches bereits abschließend erledigt.
»Bashville,« sagte sie, »zeigen Sie ihnen, bitte, den Weg und sorgen Sie dafür, daß sie alle genug bekommen.«
»Mir hat ein Dieb meinen Rock geklemmt,« wandte Mellish sich ärgerlich an den Diener. »Wenn Sie mir einen leihen wollen, Herr, und diese elenden Polizisten gütig genug sind, ihn mir nicht vom Leibe zu reißen, so werde ich Ihnen das Ding nächster Tage zurückschicken. Ich bin ein anständiger Mann und war auch seinerzeit der Lady ihr Mieter.«
»Ihr Spießgeselle braucht einen Rock nötiger als Sie,« mischte sich der Wachtmeister ein. »Wenn irgendein alter Kutschermantel oder etwas dergleichen vorhanden ist, was man ihm umhängen kann, so will ich für die Rückerstattung schon sorgen. Ich möchte ihn nicht wie einen wilden Indianer in einer Pferdedecke in der Gegend spazieren führen.«
»Ich habe drinnen noch einen alten Umhang,« meinte Bashville, »den werde ich Ihnen holen.« Ehe Lydia einen passenden Vorwand finden konnte, um ihn zurückzuhalten, war er bereits verschwunden; sie hörte ihn durch die Hintertür ins Haus eintreten. Ihr war es, als ob sich plötzlich tiefes Stillschweigen über die ganze Szene ausbreite, als ob ihre Täuschung schon entdeckt wäre. Da ergriff aber Mellish das Wort, der längst auf eine Gelegenheit eines Protestes gegen die letzte Äußerung des Konstablers gewartet hatte.
»Wen nennen Sie da meinen Spießgesellen?« rief er. »Ich will auf der Stelle tot umfallen und ein Lügenhund sein, wenn ich den Mann schon jemals in meinem Leben mit meinen Augen gesehen habe!«
Lydia warf ihm einen Blick zu wie eine Märtyrerin dem Unglücksgefährten, an den sie mit Ketten gefesselt werden soll. Er tat jetzt dasselbe, was sie getan hatte – er log. Und nun erschien Bashville mit einem alten Livreemantel überm Arm; er hatte die hinteren Räume durchschritten, und trat durch die Innentür ins Bibliothekzimmer.
»Ziehen Sie ihm das an,« sagte er, »und kommen Sie jetzt mit mir zum Schloß. Vom südlichen Turm aus können Sie die Wege auf fünf Meilen in der Runde überblicken und jeden Menschen durchs große Fernrohr genau erkennen. Wenn Madam gestatten – ich meine, Phöbe könnte besser mit uns gehen, um zu helfen.«
»Gewiß,« entgegnete Lydia, indem sie ihn ruhig ansah.
»Im Schloß werde ich dem Mann die Kleider, die er braucht, verschaffen,« fügte er hinzu; er versuchte ihren Blick zu erwidern, doch ließ er errötend davon ab. »So, meine Herrschaften – nun vorwärts!«
»Meinen verbindlichsten Dank, Mylady,« sagte der Wachtmeister. »Das war ein anstrengender Vormittag. Für den Augenblick können wir nicht mehr tun, als auf Ihr Wohl trinken.« Er berührte salutierend seinen Helm, und Lydia dankte mit einem Neigen des Kopfes. »Haltet euch nahe aneinander, Leute!« befahl er, als die Menge sich unter Bashvilles Führung verzog.
»Nahe aneinander halten – wie die Gänse!« schimpfte Mellish. »Nette Zustände sind hier im Lande eingerissen, wenn ein freier Bürger ins Loch gesteckt wird, weil er auf der Straße stehen bleibt, um sich einen Menschenauflauf anzusehen!«
»Schon gut,« meinte der Wachtmeister. »Ich habe ja das Bündel gefärbter Taschentücher, das Sie wahrscheinlich wohl zum Verkauf bei sich hatten. Und den andern Mann werde ich finden, ehe Sie vierundzwanzig Stunden älter sind. Nachdem Sie sich sonst so manierlich betragen und keinen Widerstand entgegengesetzt haben, ist es eigentlich sehr schade, daß Sie nicht zufällig wissen, wo die Seile und Pflöcke versteckt worden sind. Ich würde für jeden, der mich auf die richtige Spur weisen wollte, bei der Verhandlung gern ein gutes Wort einlegen.«
»Ha, ha! Seile und Pflöcke! Ein alter Hut! Von Seilen und Pflöcken war nichts da. Die ganze Sache war doch nur eine Schlägerei – ich meine, wenn überhaupt geboxt worden ist. Ich habe kein Boxen gesehen. Sie können ja was gesehen haben. Dann sind Sie eben sehr schlau – und ich nicht.«
Mittlerweile war der letzte Nachzügler der Gesellschaft Lydias Blicken entschwunden; sie hatte in der Tür von Warren Lodge gestanden und ihrem Abzug nachgesehen. Als sie sich wieder dem Innern des Hauses zuwandte, sah sie Cashel vorsichtig aus dem Zimmer treten, in dem er sich verborgen gehalten hatte. Seine Erregung hatte sich verflüchtigt: ihn schien zu frieren und er erweckte einen ängstlichen Eindruck, als ob sich bei ihm eine Art Reaktion bemerkbar mache.
»Sind sie alle fort?« fragte er. »Ihr Diener ist ein guter Kerl. Er hat mir versprochen, mir Kleider zu bringen. Und Sie – ja, Sie sind besser als – Was ist denn? Wo wollen Sie hin?«
Lydia hatte ihren Hut aufgesetzt und warf jetzt hastig ihr Tuch um. Rosige Blutwellen jagten in rascher Folge über ihre Wangen; ihre Augen und Nasenflügel, die sonst in so gleichmäßiger Ruhe verharrten, weiteten und blähten sich.
»Wollen Sie nicht mit mir sprechen?« fragte er unsicher.
»Nur eins will ich Ihnen sagen,« entgegnete sie mit verhaltener Leidenschaft. »Daß Sie sich niemals wieder vor mir blicken lassen! Die ganzen Grundlagen meiner Existenz geraten ins Wanken – ich habe gelogen! Ich habe meinen Diener – einen ehrlichen Menschen – zum Mitschuldigen dieser Lüge gemacht! Wir sind ja noch schlimmer als Sie! Selbst Ihr Raubtierhandwerk ist ein weit geringeres Übel, als eine Lüge mehr in diese Welt zu bringen. Das ist es also, was mir schließlich aus der Bekanntschaft mit Ihnen erwachsen ist! Ich habe Ihnen einen Schlupfwinkel gewährt. Behalten Sie ihn! Ich werde diesen Raum nie wieder betreten!«
Cashel taumelte in sprachlosem Staunen zurück – wie ein Kind, das Süßigkeiten von einem hohen Bort hat naschen wollen und sich den ganzen Geschirrschrank über den Kopf reißt. Er rührte sich nicht und brachte keinen Laut hervor, während sie aus dem Hause ins Freie trat.
Im Schloß suchte sie unverzüglich ihr Boudoir auf, wo sie ihre Jungfer, die französische Dame, anfand. Aus deren indignierter Schilderung der Vorgänge in den unteren Räumlichkeiten entnahm sie, daß die Hüter des Gesetzes mit Roastbeef, Käse, Brot und Bier bewirtet wurden. Der Hilfeleistungen eines Wundarztes hatte man sich begeben, da Paradises Verletzungen von Mellish mit großem Geschick behandelt worden waren. Lydia befahl der Jungfer, Bashville nach Warren Lodge zu senden, damit er sich dort vom Abzug aller unberufenen Fremden überzeugen sollte; bis zu seiner Rückkehr dürfte keiner der weiblichen Dienstboten sich daselbst etwas zu schaffen machen.
Dann ließ sie sich in einen Sessel nieder und versuchte an nichts zu denken. Da sie sich aber gegen ihre Gedankentätigkeit nicht zu verwahren vermochte, so gab sie sich schließlich zufrieden und bemühte sich, die vergangene Katastrophe ihrem vollen Umfange nach an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen zu lassen.
Ein einziger Gedanke bemächtigte sich mit ausschließender Gewalt ihrer ganzen Phantasie: sie hatte das stützende Gerüst aller bestehenden Dinge aus den Fugen gerissen, indem sie einem irrigen Glauben zum Dasein verhalf. Wenn sie sich aus ihrem vielen Lesen eine Überzeugung gebildet hatte, so bestand diese darin, daß die Verschleierung einer Wahrheit mit dem sich hieraus ergebenden Irrglauben Unheil hervorbringen mußte, selbst wenn der Anfang dieses Unheils ebenso wenig deutlich erkennbar sein mochte wie dessen Abschluß. Zwischen dem subtilsten philosophischen Sophismus und der gemeinsten Lüge ließ sie nicht den geringsten Unterschied zu. Das Unheil in Cashels Verhaftung war meßbar, das Unheil irgendeiner Lüge unermeßlich. Und sie hielt an der Tatsache dieses Unheils keineswegs weniger überzeugungstreu fest, weil sie für den Augenblick noch keine schlimmen Folgeerscheinungen, die sich mit einiger Möglichkeit aus ihrer Handlungsweise ergeben konnten, vorauszusehen imstande war. Wie eine drückende Last senkten sich ihre zweifelnden Besorgnisse auf sie hernieder: ihr Vater, ein unbeirrbarer Skeptiker hatte sie aller jener Trostmittel bar zurückgelassen, wie sie die Theologie für den Übeltäter in Bereitschaft hält. Ihre Pflichten standen ihr klar vor Augen: sie mußte den Polizisten kommen lassen und die Täuschung, die sie ihm gegenüber ins Werk gesetzt hatte, der Wahrheit aufopfern. Aber das vermochte sie nicht! Ihr Wollen drängte sie, aller ihrer Vernunft zum Trotze, in die entgegengesetzte Richtung. Und in dieser Paralyse ihrer moralischen Kräfte sah sie den Anfang des aus der Lüge fließenden Unheils. Sie hatte ihr das Leben gegeben – die Natur verbot ihr, das Scheusal zu erwürgen!
Nach einiger Zeit kehrte die Kammerjungfer zurück, um ihr mitzuteilen, daß die canailles sich entfernt hätten. Sobald sie sich wieder allein befand, erhob sie sich und schritt langsam im Zimmer auf und ab; in der ruhelosen Geschäftigkeit ihrer Gedanken wurde sie die Flucht der Zeit nicht gewahr – bis sie von neuem gestört wurde, diesmal von Bashville.
»Nun?«
Der Ton ihrer Stimme erschreckte ihn; er hatte sie noch niemals herrisch mit einem Dienstboten sprechen hören. Einstweilen war es ihm noch nicht klar, daß gewissermaßen eine subjektive Veränderung mit ihm vorgegangen war, daß er jetzt die Stellung ihres Mitschuldigen einnahm.
»Er hat sich freiwillig ausgeliefert.«
»Was soll das heißen?« fragte sie bestürzt.
»Byron, Madam. Ich wollte ihm Kleider nach Warren Lodge hinüberbringen; als ich dort anlangte, war er fort. Ich ging weiter zur Einfahrt, um ihn dort zu suchen – und fand ihn in den Händen der Polizei. Sie sagten mir, er hätte sich gerade freiwillig gestellt. Irgend welche Rechenschaft über sein Verbleiben wollte er nicht geben. Er sah – na, wie soll ich sagen, grimmig und niedergeschlagen aus.«
»Was werden sie denn mit ihm anfangen?« fragte sie erbleichend.
»Vorigen Monat hat einer wegen desselben Vergehens sechs Wochen Gefängnis bekommen. Wahrscheinlich steht ihm dasselbe in Aussicht. Wenig genug für das, was er getan hat – wie Sie wohl selbst sagen würden, Madam, wenn Sie es mit angesehen hätten.«
Lydia wurde ernst und streng.
»Deswegen also haben Sie sich einen freien Nachmittag erbeten – um diesem –« sie stockte bei dem Worte, »um diesem Faustkampf beizuwohnen?«
»Jawohl, Madam, allerdings,« bestätigte Bashville mit einiger Bitterkeit. »Ich habe Lord Worthington und zahlreiche andere adlige und vornehme Herren dort gesehen.«
Lydia schwebte eine schroffe Antwort auf den Lippen; sie unterdrückte sie; dann sagte sie in ihrer gewohnten ruhigen Weise:
»Das ist noch immer kein Grund, warum Sie dabei gewesen sein müßten.«
Bashville verfärbte sich von neuem und mußte seiner Stimme wiederum Zwang antun.
»Es liegt einmal in der menschlichen Natur begründet. sich zu solchen Dingen hingezogen zu fühlen,« sagte er. »Aber einmal genügt – mir wenigstens. Sie werden entschuldigen, Madam, daß ich es überhaupt erwähne: wenn Sie das gesehen hätten, wie Lord Worthington und die übrigen von Byrons Wettern sich in Flüchen und Beschimpfungen gegen den andern Mann ergingen, und wie die Gegenpartei dasselbe mit Byron tat – nein, ich mag kein vornehmer Herr sein, aber ich hoffe, ich kann mich wenigstens wie ein Mensch aufführen, selbst wenn ich Geld verliere.«
»Dann gehen Sie eben nicht wieder zu solchen Schaustellungen, Bashville. Es steht mir nicht zu, Ihnen über die Art Ihrer Zerstreuungen Vorhaltungen zu machen; ich glaube aber nicht, daß Sie sich einen Gefallen damit erweisen, daß Sie Lord Worthingtons Liebhabereien nachäffen.«
»Ich äffe keines Lords Liebhabereien nach,« erwiderte Bashville errötend. »Sie haben dem Mann, der selbst geboxt hat, einen Schlupfwinkel gewährt, Miß Carew. Warum blicken Sie jetzt auf einen Mann herunter, der lediglich ein unbeteiligter Zuschauer war?«
Auch Lydias Farben wurden lebhafter. Ihr erster Impuls trieb sie, diesen Gefühlsausbruch als Auflehnung gegen ihre Autorität zu behandeln und zu unterdrücken. Dann aber hielt sie ihr stets wachsamer Gerechtigkeitssinn davon ab.
»Würden Sie einen Flüchtling verraten haben, Bashville, der unter unserm Dach Schutz suchte. Sie haben ihn ja auch nicht verraten.«
»Nein,« sagte der Diener, dessen Gesichtsausdruck und Haltung plötzlich einer Regung wehmütigen Stolzes nachgab. »Wenn ich von einem Besseren aus dem Felde geschlagen werde, so besitze ich Mut genug, ihm aus dem Wege zu gehen und mir keinen hinterlistigen Vorteil über ihn zu verschaffen.«
Lydia verstand ihn nicht und sah ihn fragend an. Er machte eine Gebärde, als ob er eine drückende Last von sich schleudern wollte, und fuhr dann unbekümmert in gleichgültigem Wagemut in seiner Rede fort:
»Bis auf das eine bin ich ebensoviel wert wie er, sogar noch mehr. Ein herrschaftlicher Diener steht im allgemeinen höher als ein Preisboxer. Er hat Ihnen gesagt, daß er Sie liebt! Und wenn dies jetzt mein letztes Wort sein soll, so will ich Ihnen sagen, daß das Bändchen an Ihrem Hals mir teuerer ist, als Sie, Ihre ganze Person an Seele und Leib, ihm und seinesgleichen jemals teuer sein können. Als er sich über mich einen ungerechtfertigten Vorteil aneignete und sich als Gentleman ausgab, da erzählte ich Herrn Lucian von ihm und stellte ihn als das hin, was er ist. Als ich ihn aber heute im Hinterzimmer von Warren Lodge versteckt fand, da war es mir nicht um einen Vorteil zu tun, wenngleich ich wohl wußte, daß Sie ihn niemals verborgen hätten, wenn er Ihnen nicht mehr gewesen wäre, als irgendein Mann seines Standes. Sie selbst wissen am besten, warum er sich freiwillig der Polizei gestellt hat, nachdem Sie sein heutiges Tagewerk doch nun einmal mit eigenen Augen gesehen hatten. Ich will seinem Glück gewiß nicht im Wege stehen. Er ist der bessere von uns beiden – der bessere soll auch das Spiel gewinnen. Und nun,« fügte Bashville hinzu, indem er seine gewohnheitsmäßige, zuvorkommende, sanfte Art – allerdings mit sichtlicher Anstrengung – wieder aufnahm, »und nun tut es mir aufrichtig leid, Ihnen durch eine kurze Kündigung Ungelegenheiten bereiten zu müssen. Ich würde es aber als eine ganz besondere Vergünstigung erachten, noch heute abend gehen zu dürfen.«
»Ich halte es auch für das beste,« entgegnete Lydia, indem sie sich mit vollkommener Ruhe erhob und mit entschlossener Festigkeit die seltsam erregende Rückwirkung eines eigenartigen Gefühls von sich fernhielt – des Gefühls, sich mit einem unerwarteten Schlage erstaunt, beleidigt und geliebt zu wissen. »Es will mir nicht ratsam erscheinen, wenn Sie noch länger im Hause bleiben – nach dem, was Sie soeben –«
»Das wußte ich, als ich es sagte,« warf Bashville hastig und verbissen ein.
»Durch Ihren Abgang entscheiden Sie sich für genau dieselbe Maßregel, wie sie von jedem Gentleman nach einer Äußerung dieser Art ergriffen werden würde. Ich fühle mich durch Ihre Eröffnung keineswegs verletzt. Ich erkenne Ihr Recht zu einer solchen Erklärung an. Wenn Sie auf mein Zeugnis Wert legen, um hiermit Ihren zukünftigen Plänen dienlich zu sein, so werde ich jederzeit mit Freuden bestätigen, daß ich Sie für einen Mann von Ehre halte.«
Bashville verbeugte sich und erklärte in hochgradiger Nervosität und mit gedämpfter Stimme, daß er nicht die Absicht hege, fürderhin in Dienst zu treten, daß er sich aber stets mit Stolz an Lydias gute Meinung erinnern werde.
»Sie sind zu etwas Besserem geschaffen,« erwiderte sie. »Sollten Sie an irgendein Unternehmen herantreten, das ausgiebigere Mittel erfordert als Sie besitzen, so will ich gern die Bürgschaft für Sie übernehmen. Ich danke Ihnen für die unwandelbare Höflichkeit, mit der Sie sich mir gegenüber Ihrer Obliegenheiten entledigt haben. Leben Sie wohl.«
Sie verabschiedete sich durch ein Neigen des Kopfes und verließ das Zimmer. Von Bewunderung hingerissen erwiderte er ihren Gruß so gut er konnte; dann stand er, nachdem sie entschwunden war, eine Weile regungslos da. Gleichsam auf Zehenspitzen wagten sich seine Gedanken langsam vor, um das zu erfassen, was soeben geschehen war. Was er vor allem empfand, war ein Gefühl der Erleichterung. Er wagte es nicht länger, sich in seiner Einbildungskraft als zu einem weiblichen Wesen solcher Art in Liebe hingezogen zu sehen. Die Tatsache, daß sie ihn plötzlich als Bewerber überhaupt ins Gebiet des Möglichen eingereiht hatte, brachte ihm die Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit für eine solche Rolle mit überwältigender Deutlichkeit zum Bewußtsein. Er erblickte sich nunmehr als einen sehr jugendlichen, sehr tiefstehenden, sehr unwissenden Menschen, dem eine angenehme Stellung und eine freundliche Herrin den Kopf verdreht hatten.
Er schlich sich von dannen, um seinen Koffer zu packen und sich's zurechtzulegen, wie er seine plötzliche Abreise den dienstlichen Kollegen und Kolleginnen am unauffälligsten erklären könnte.