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Achtes Kapitel.

Es wurde immer herbstlicher; bald begannen auch die düsteren Tage des Londoner Winters.

Adrian saß täglich bei seiner Arbeit in seinem Atelier, malte ein Pendant zu der Lady von Shalott und machte sich weniger Bewegung, als für ihn selbst und seine Arbeit gut war. Seine Verlobte war in Windsor und lernte Griechisch bei Miß Cairns und Musik bei Jack. In der Kapellmeisterangelegenheit hatte sie den Sieg über Mrs. Beatty davongetragen; Jack war aufgefordert worden, sich um die Stellung zu bemühen. Als er aber erfuhr, daß ein Hauptteil seiner Obliegenheiten darin bestand, die Offiziere des Regiments während ihres Mittagsmahls mit anregender Musik zu erfreuen, wies er das Angebot in einem etwas gar zu temperamentvollen Briefe an den Adjutanten zurück, und zwar mit der Begründung, daß er sich geweigert hätte, als Organist dem Stellvertreter Gottes unterstellt zu sein, und daß er es demgemäß auch von sich weisen müßte, als Kapellmeister sich zum Mietling professioneller Totschläger herzugeben. Als Miß Cairns dies erfuhr, überhäufte sie ihn in der Hitze ihrer ersten Enttäuschung mit Vorwürfen, weil er sich den Oberst unnötig zum Feinde gemacht habe – weil er Mrs. Beattys Abneigung nur noch verschärft und Mary deren Unwillen ausgesetzt habe. Hierauf hin wandte Jack Newton Villa im Zorn den Rücken. Am folgenden Tage aber hörte Miß Cairns mit Genugtuung, daß er dem Oberst ein Dankschreiben hätte zukommen lassen. In diesem Schreiben wies er darauf hin, daß seine neuerliche Korrespondenz mit dem Adjutanten unglücklicherweise auf das Gebiet der Würde des musikalischen Berufs hinübergespielt hätte, und bat, seinen Brief völlig von den persönlichen Empfindungen zu trennen, denen er nunmehr Ausdruck zu geben wünsche. Auch an Miß Cairns schrieb er ein paar Zeilen, daß es ihm eingefallen wäre, Miß Sutherland könnte vielleicht den Wunsch hegen, sich an der Singklasse zu beteiligen, und daß er hoffe, man würde ihr in diesem Sinne eine Aufforderung zukommen lassen. Miß Cairns empfand ein wahres Triumphgefühl angesichts dieser beiden Zugeständnisse, die sie ihm entlockt hatte. Mary hingegen fühlte sich durch den mißlungenen Versuch ihrer Unterstützung sehr zurückgesetzt, verweigerte den Beitritt und zeigte sich gegen alle Überredungskünste unzugänglich, bis Jack eines Tages mit ihr auf der Straße zusammentraf und sie anredete. Er erkundigte sich nach Charlie und forderte sie schließlich auf, einer der Gesangsübungen beizuwohnen. Sie war froh, auf diese Weise einen Vorwand für ihre Nachgiebigkeit gefunden zu haben, trat nicht nur der Musikklasse bei, sondern bat ihn auch, ihr beim Studium der Harmonielehre behilflich zu sein, mit deren Selbststudium sie an der Hand eines Leitfadens erst kürzlich begonnen hatte. Das Ende vom Liede war, daß er sie hierbei mehr verwirrte, als er ihr behilflich gewesen wäre. Wenn er auch eine gewisse natürliche Begabung für die Verwendung der Akkorde besaß, so vermochte er doch keinen vernünftigen Versuch zu deren Benennung und Klassifizierung zu machen. Die Übungsstücke, die sie nach den Angaben im Leitfaden komponiert hatte, versetzten ihn in helle Verzweiflung.

Mittlerweile erlernte Magdalen Brailsford mit manchem Seufzer der Ungeduld die englische Zunge mit Reinheit und deutlicher Aussprache vorzutragen. Und sie begann gewisse Ausdrucksweisen, derentwillen sie in ihrer Unwissenheit manch berühmten Bühnenkünstler belacht hatte, als beneidenswerte Grundbedingungen für die Tatsachen anzusehen, daß jene so himmelweit über ihr standen. Sie fand nicht sonderlich viel Gefallen an ihren Studien, denn Jack war über alle Maßen anspruchsvoll: Der romantische Hauch ihres ersten Zusammentreffens in Paddington Station war durch die Furcht, die er ihr als Lehrer einflößte, längst in alle Winde zerstoben.

Nach ihrer ersten Unterrichtsstunde verließ sie das Haus in Church Street in einem Zustande völliger Erschöpfung. Als sie sich schon längst daran gewöhnt hatte, seine Kritik ohne Ermüdung eine Stunde lang über sich ergehen zu lassen, vermochte sie dennoch ihre Tränen oft nicht zurückzuhalten, wenn er ihr ihre Fehler durch eine etwas ärgerlich nachahmende Mimik deutlich zu Gemüte führte. Hierin lag sicherlich der unangenehmere, aber keineswegs weniger zuträgliche Teil seines Lehrsystems. Er war sehr genau, selbst wenn er sich in guter Laune befand, und über alle Maßen heftig, wenn er sich ärgerte. Aber er blieb unermüdlich und scheute keine Anstrengung, um sie bei ihren Anstrengungen, die liederlichen Angewohnheiten der Unterhaltungssprache zu überwinden, zur nachhaltigsten Ausdauer zu zwingen. Je mehr Fortschritte sie machte, desto weniger vermochte sie ihm Genüge zu tun. Sein Gehör war unvergleichlich schärfer als das ihre. Er verlangte Schönheit im Tonfall, die sie nicht auffassen konnte, und Verfeinerung in der Aussprache, die sie nicht zu unterscheiden imstande war. Er wiederholte ihr Klangfarben, die er für ebenso verschieden erklärte wie Tag und Nacht, und geriet in maßlose Wut, wenn sie keinen Unterschied herauszuhören vermochte. Er behauptete, sie krächzte ihr Stimmorgan in Fetzen, wenn sie die Worte kaum hörbar herauszubringen wagte. Wenn sie zuweilen sehnsüchtig das Ende der Stunde und ihre Entlassung erwartete, so hielt er sie so lang zurück, bis Mrs. Simpson, die stets zugegen war, es nicht länger aushalten konnte und sich trotz der wilden Schimpfreden, zu denen ein unterbrechendes Wort von ihr ihn während des Unterrichts unweigerlich reizte, zugunsten der ermüdeten Schülerin ins Mittel legte. Magdalen hätte, um der drückenden Last seiner Unterrichtsmethode entgehen zu können, ihren Plan längst aufgegeben – wäre es nicht um der Furcht vor der Mißachtung willen gewesen, die er – wie sie wohl wußte – sicherlich für sie an den Tag gelegt haben würde, wenn sie sich schließlich als kleinmütig und abtrünnig erwiesen hätte. So mühte sie sich ohne ein Wort der Ermutigung und Anerkennung von ihm unentwegt weiter ab; er aber zwang sie mit grimmer Hartnäckigkeit, bei der Stange zu bleiben – bis zu einem Tage kurz vor Weihnachten: sie war etwas früher als gewöhnlich in Church Street angelangt und hatte, ehe ihm von ihrer Anwesenheit Mitteilung gemacht wurde, eine längere Unterredung mit Mrs. Simpson. Als er von seinem Dachstübchen herunterkam, schraubte sie ihre Willenskraft bis zum Mute der Verzweiflung herauf und machte ihm die Mitteilung, daß sie ein Engagement für eine kleine Rolle in der Eröffnungsszene einer Pantomime in Nottingham erhalten hätte. Statt wütend aufzubrausen, starrte er sie einen Augenblick lang an; er kratzte sich etwas verwirrt den Kopf und sagte dann:

»Na ja, na ja – irgendwie müssen Sie ja anfangen – je eher, desto besser. Einige Zeitlang werden Sie vielleicht minderwertige Arbeit in minderwertiger Gesellschaft tun müssen, aber Sie dürfen den Glauben an sich nicht verlieren und vor der Plackerei der ersten zwei Jahre nicht zurückschrecken. Sorgen Sie dafür, daß die Flamme auf dem Altar immer glüht – und jeder Raum, den Sie betreten, wird Ihnen wie ein Tempel erscheinen. Seien Sie auch nicht kleinlich, grapsen Sie weder nach Geld, noch nach günstigen Gelegenheiten, noch nach äußeren Effekten. Sie können schon besser sprechen als neunundneunzig unter hundert von Ihnen – denken Sie immer daran! Wenn Sie jemals auf den Gedanken kommen, es jenen nachzutun – dann geht Ihr Gehör zum Teufel – und das ist ein Zeichen, daß Ihr Empfindungsleben auch zum Teufel geht. Wollen Sie mir das glauben, was?«

»Jawohl,« entgegnete Madge gehorsam.

Er warf ihr einen recht mißtrauischen Blick zu und ließ eine Art Gegrunze hören.

»Wenn Sie bei Gelegenheit ausgezischt werden,« fügte er dann hinzu, »so wird Ihnen dies sehr zuträglich sein. Indes werden Sie wahrscheinlich Applaus bekommen und demgemäß verdorben werden. Vergessen Sie das nicht, was ich Sie gelehrt habe – den Nutzen davon werden Sie erst erkennen, wenn Sie anfangen, Ihren Beruf zu verstehen.«

Magdalen protestierte emphatisch gegen jegliche Möglichkeit des Vergessens und befleißigte sich, ihre Dankbarkeit für die Mühe, die er sich mit ihr gegeben, zum Ausdruck zu bringen. Sie bat ihn, er möchte ihren Aufenthaltsort niemand verraten, da sie gezwungen wäre, ihrer Familie noch einmal davonzulaufen, um ihr Engagement einhalten zu können. Er entgegnete des Sinnes, daß ihre Privatangelegenheiten ihn nichts angingen, und riet ihr gleichzeitig zu eingehendem Nachdenken, ehe sie ein luxuriöses Heim gegen den unsicheren Beruf unstäten Wanderns eintauschte. Schließlich empfahl er ihr noch Mrs. Simpson als eine geborene Theatermutter, deren Hilfe ihr bei jeglicher Angelegenheit, die Diskretion und Verlogenheit erfordere, im höchsten Grade dienlich sein würde.

»Wenn Sie meiner Hilfe bedürfen,« setzte er hinzu, »so können Sie ja kommen und mich darum angehen.«

»Sie kann kommen und darf dafür bezahlen. Gedankt braucht nicht erst zu werden,« meinte Mrs. Simpson, die bis zum Platzen geladen war.

Jack wandte sich ihr zu; er war purpurrot und die Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Madge warf sich zwischen sie. Dann verließ er plötzlich das Zimmer. Und während sie, am ganzen Leibe zitternd, sich schweigend anstarrten, hörten sie ihn die Treppe zu seinem Dachzimmer hinaufsteigen.

»O Polly, wie haben Sie das nur tun können?« sagte Madge schließlich fast im Flüsterton.

»Ich möchte nur wissen, was er holt,« meinte Mrs. Simpson. »Oben ist nichts, womit er einem etwas zuleide tun könnte. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht.«

Bald darauf betrat Jack mit einer alten Waschlederbörse in der Hand das Zimmer.

»Da –,« wandte er sich zu Madge.

Ohne irgendeine weitere Erklärung wußte sie sehr gut – es war das Geld, das sie ihm für den Unterricht gegeben hatte.

»Mr. Jack,« stammelte sie, »ich kann unmöglich ...«

»Nehmen Sie nur ruhig,« sagte er. »Sie hat ganz recht. Die Leute in Windsor bezahlen für meine Bedürfnisse. Ich brauche nicht doppelt über das Maß des Notwendigen unterhalten zu werden. Hat sie Ihnen irgend etwas für die Benutzung des Zimmers berechnet?«

»Nein,« entgegnete Madge.

»Desto schamloser von mir, Ihnen etwas für die Stunden zu berechnen,« erwiderte Jack. »Das nächste Mal werde ich besser wissen, was ich zu tun habe. Da – nehmen Sie das Geld und lassen Sie uns nicht mehr daran denken. Adieu! Ich glaube, ich kann jetzt ein Stückchen Arbeit hinter mich bringen, wenn ich mich sofort daran mache.«

Er händigte ihr die Börse ein, die sie nicht zurückzuweisen wagte. Dann schüttelte er ihr die Hand mit seinen beiden und ging hastig und sichtlich bedrückt hinaus. – –

Drei Tage später wurde Adrian Herbert in seiner Tätigkeit vor seiner Staffelei von Mr. Brailsford gestört, der im Zustand höchster Erregung im Atelier erschien.

»Mr. Brailsford – ich freue mich wirklich sehr – Was ist denn geschehen?«

»Wissen Sie irgend etwas von Magdalen? Sie ist wieder auf und davon.«

Herbert nahm eine Miene bekümmerter Teilnahme an.

»Herbert – ich flehe Sie an – wenn sie Ihnen ihre Pläne mitgeteilt hat, so geben Sie sie nicht aus unangebrachter Rücksicht auf ihre albernen Heimlichkeiten dem Verderben preis!«

»Ich versichere Ihnen, ich bin genau so erstaunt wie Sie. Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß ich eingeweiht bin?«

»Während Ihrer letzten Besuche bei uns waren Sie viel mit ihr zusammen, und Sie sind gerade einer von der Sorte von Männern, denen ein junges Frauenzimmer irgendeinen überspannten Plan anvertrauen würde. Sie beide haben viel miteinander geredet.«

»Je nun – im Verlauf der letzten sechs Wochen haben wir uns zweimal länger unterhalten – und das kam jedesmal ganz zufällig. Wir haben lediglich von meinen Angelegenheiten gesprochen. Sie wissen es doch – Miß Sutherland ist eng mit ihr befreundet. Sie bildete unsern Hauptgesprächsstoff.«

»Das ist sehr hart, Herbert, verflucht hart sogar.«

»Es ist fatal – es tut mir wirklich leid, daß ich nichts weiß.«

»Jawohl, jawohl – ich dachte es mir gleich, daß Sie wahrscheinlich nichts wüßten – es war eben nur ein letzter Strohhalm zum Anklammern. Das sage ich Ihnen, Herbert, wenn ich das Mädel wiederkriege, dann schließe ich sie ein und lasse sie nicht eher wieder aus dem Zimmer, bis sie in die Ehe geht.«

»Wann ist sie denn fortgelaufen?«

»Gestern abend. Wir haben sie erst heute morgen vermißt. Zum zweitenmal ist sie an irgendein verdammtes Provinztheater oder zu sonstigem ähnlichen Halunkengesindel in Schimpf und Schande hineingerannt. Und dabei ist sie zu Haus immer mit der größten Nachsicht behandelt worden. Sie ist ganz und gar nicht wie andere Mädchen, die den Wert eines komfortabeln Heimes nicht zu schätzen wissen. In jenen Tagen, als ich als Mann der Feder gegen die Welt zu Felde zog, hat sie Gelegenheit genug gehabt, den Wert des Geldes kennen zu lernen.«

Während Brailsford sprach, blieb er unaufhörlich in Bewegung. Er zerrte an seinem Kragen herum, als ob er ein Blumenstengel wäre, der immer wieder aufgerichtet werden müßte; er fuchtelte mit seinen Handschuhen in der Luft umher.

»Ich stehe der ganzen Situation völlig machtlos gegenüber,« fügte er hinzu. »Ich kann mir nicht den geringsten Anhaltepunkt verschaffen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als still zu sitzen und mein Kind seiner Wege gehen zu lassen.«

»Ist es Ihnen bekannt,« meinte Herbert nachdenklich, »daß sie während der letzten Monate bei einem Musiklehrer Unterricht in schauspielerischer Vortragskunst genommen hat?«

»Nein, mein Herr, davon habe ich ganz gewiß keine Ahnung,« entgegnete Brailsford wütend. »Nehmen Sie es mir nicht übel, mein lieber Herbert – aber sie ist ein verdammt undankbares Mädel, und ihr Verlust geht mir sehr nahe. Ich hatte gewiß keine Ahnung von alledem – und sie hätte ihren Plan nicht zur Ausführung bringen können, wenn ihre Mutter ein wachsames Auge auf sie gehabt hätte.«

»Allerdings, so verhält es sich wohl. Ich war selbst höchlichst verwundert, als Miß Sutherland mir davon erzählte – um so mehr, als ich über die Persönlichkeit einigermaßen unterrichtet bin, die Ihre Tochter sich als Lehrer angestellt hat.«

»Vielleicht, daß er etwas weiß? Wie heißt er und wo kann man ihn ausfindig machen?«

»Sein Name ist etwas eigentümlich – Jack.«

»Jack? Den Namen habe ich schon irgendwo gehört. Jack? Mein Gedächtnis ist ein altes Wrack. Aber wir verlieren unsere Zeit. Sie kennen doch hoffentlich seine Adresse?«

»Ich glaube, ich habe sie hier zwischen einigen alten Briefen. Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick, ich werde danach suchen.«

Herbert ging ins Vorzimmer hinüber. Mr. Brailsford setzte seine nervöse Beweglichkeit fort; er biß sich auf die Nägel; er versetzte dem Bild einen Klaps mit seinem Handschuh und verschmierte es. Die Entdeckung, daß er mutwilligerweise Unheil angerichtet hatte, war dazu angetan, ihn etwas zu ernüchtern. Bald darauf kam Adrian mit einem von Jacks Briefen zurück.

»Church Street, Kensington,« sagte er. »Wollen Sie hingehen?«

»Sofort, Herbert, sofort! Kommen Sie mit?«

»Wenn Sie es wünschen,« entgegnete Adrian zögernd.

»Sicherlich – Sie müssen mitkommen! Das ist ein gemeiner Schuft, der dem Kind das Geld aus der Tasche gezogen und ihr aufgebunden hat, sie wäre eine zweite Sarah Siddons. Ich habe selbst vor langer Zeit Stunden bei dem großen Young gehabt, und er hielt große Stücke auf mich – wenn auch nicht mehr, als ich auf ihn hielt. Ich lenke Sie vielleicht von Ihrer Arbeit ab, mein lieber Freund?«

»Es ist ohnedies heute zu dunkel, um viel tun zu können. Jedenfalls ist die Angelegenheit viel zu ernst, als daß sie hinter meiner alltäglichen Arbeit zurückstehen sollte.« –

Eine Viertelstunde später klopfte Mrs. Simpsons Dienstmädchen an Jacks Dachkammertür und teilte ihm mit, daß zwei Herren unten im Salon auf ihn warteten.

»Wie sehen sie denn aus?« fragte Jack. »Wissen Sie auch bestimmt, daß sie zu mir wollen?«

»Sicher und gewiß,« entgegnete das Mädchen. »Der eine von ihnen ist ein hübscher junger Mann mit einem flachsblonden Bart, der andere ist wohl sein Vater, denke ich. Ein eklig feiner Kerl, sage ich Ihnen.«

»Geben Sie mir meine Stiefel und sagen Sie, ich käme gleich.«

Das Mädchen erschien vor Mr. Brailsford und Adrian, sagte: »Mr. Jack kommt im Moment,« und entschwand.

Bald darauf betrat Jack den Raum. Im selben Augenblick leuchteten Brailsfords Augen auf, als ob er das Wirrsal des ganzen Komplotts durchschaute. Er erhob sich mit einer theatralischen Gebärde. Jack entbot Herbert, der die Bewegung seines Begleiters mit sichtbarer Unruhe verfolgte, einen zeremoniellen Gruß.

»Ich nehme an, Sie kennen mich, mein Herr,« begann Brailsford drohend.

»Ich erinnere mich Ihrer ganz genau,« entgegnete Jack verbissen. »Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen?«

Herbert schob Brailsford hastig einen Stuhl hin und brachte ihn gerade noch zur rechten Zeit mit dessen Kniekehlen in Berührung, um sogleich zu Anfang der Unterredung einem heftigen Wortwechsel vorzubeugen. Sie setzten sich alle drei nieder. Adrian begann:

»Wir haben Sie aufgesucht, Mr. Jack – in der Hoffnung, Sie könnten vielleicht etwas Licht in eine Angelegenheit bringen, die für Mr. Brailsford eine Quelle der größten Beunruhigung ist. Miß Brailsford ist verschwunden ...«

»Was?« rief Jack, »wieder durchgebrannt? Haha, das habe ich mir ja gedacht!«

»Wollen Sie sich gütigst etwas mäßigen,« meinte Herbert, da Mr. Brailsford eine Gebärde unvermittelter Heftigkeit sichtbar werden ließ. »Gestatten Sie, daß ich zuerst spreche. Mr. Jack, ich glaube, Sie sind in letzter Zeit mit der jungen Dame oft zusammengekommen ...«

»Ich habe sie während der letzten vier Monate unterrichtet – wenn Sie das damit sagen wollen.«

»Wollen Sie bitte im Auge behalten, daß wir Ihnen in der ganzen Angelegenheit nicht den geringsten Vorwurf machen. Wir möchten lediglich etwas über Miß Brailsfords Aufenthaltsort feststellen – und wir dachten, Sie könnten uns vielleicht dabei behilflich sein. Wenn Sie dazu in der Lage sind, so werden Sie gewiß nicht zögern, diesem Herrn alle Auskünfte, die für Sie im Bereich der Möglichkeit liegen, zukommen zu lassen.«

»Beruhigen Sie sich also,« meinte Jack. »Sie hat ein Engagement an einem Theater und ist jetzt abgereist. Das hat sie mir vor einigen Tagen gesagt, als sie mich aufsuchte, um den Unterricht abzubrechen.«

»Wir möchten aber besonders gern ausfindig machen, wohin sie gereist ist,« sagte Herbert langsam.

»Dann müssen Sie das ausfindig machen, so gut Sie eben können,« entgegnete Jack mit einem forschenden Blick. »Mir hat sie den Ort genannt, aber sie hat mich gebeten, ihn niemand zu sagen. Und es ist daher nicht meine Sache, es zu tun.«

»Herbert,« schrie Mr. Brailsford, »Herbert ...«

»Einen Augenblick,« unterbrach Adrian, »gestatten Sie mir nur ein Wort ...«

»Herbert,« bestand der andere, »dies ist der Kerl, von dem ich Ihnen erzählt habe, während wir in der Droschke saßen. Er ist ihr Helfershelfer. Sie wissen sehr gut, daß Sie es sind!« setzte er, zu Jack gewandt, mit erhöhter Stimme hinzu. »Wollen Sie vielleicht noch immer leugnen, daß Sie ihr Agent sind?«

Jack starrte ihn mit unerschütterlicher Ruhe an.

»Das ist eine Verschwörung – ein Komplott!« rief Mr. Brailsford. »Vom ersten Tage an war es eine abgekartete Sache. Und Sie sind der treibende Urheber bei der ganzen Geschichte. Sie werden mich nicht einschüchtern, mein Herr. Ich werde Sie schon zum Sprechen bringen.«

»Da geht's schon wieder los,« meinte Jack. »Bringen Sie den Mann hinaus, Mr. Herbert.«

Adrian trat hastig zwischen sie, da er fürchtete, sein Begleiter könnte sich zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen. Ehe aber ein weiteres Wort gesprochen werden konnte, wurde die Tür von Mrs. Simpson aufgerissen. Sie blieb stehen und starrte verwundert vor sich hin, als sie Besuch im Zimmer bemerkte.

»Ich bitte sehr um Entschuldigung – ach, das ist ja Mr. Brailsford!« Sie errötete. »Hoffentlich geht es Ihnen recht gut, mein Herr,« fuhr sie fort, indem sie mit freundlich versöhnlicher Miene einige Schritte auf ihn zu tat. »Es ist mir eine große Ehre, Sie in meinem Hause zu sehen.«

»Nicht möglich,« entgegnete der alte Herr mit einem Blick, der sie erbeben ließ. »Sie also haben Miß Magdalen mit diesem Mann bekannt gemacht? Herbert – mein lieber Junge – die Sache ist so klar wie die liebe Sonne. Ihre Schwester ist es gewesen, die Madge auf ihrer ersten Flucht begleitet hat. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß es alles ein Komplott ist.«

»Großer Gott im Himmel,« rief Mrs. Simpson, »Miß Magdalen ist doch nichts geschehen?«

»Wenn ihr etwas geschehen ist, so sollen Sie dafür verantwortlich gemacht werden! Wo ist sie hin?«

»Ach, Sie wollen mir doch nicht sagen, daß die liebe, süße Miß Magdalen wieder auf und davon gegangen ist?«

»Sehen Sie es jetzt, wie sie sich gegenseitig widersprechen, Herbert?« Mrs. Simpson warf einen mißtrauischen Blick auf Jack. Er grinste sie mit ironischer Bewunderung an.

»Ich weiß ja nicht, was Mr. Jack Ihnen für eine Meinung über mich beigebracht hat, mein Herr,« begann sie vorsichtig, »aber ich versichere Ihnen, ich weiß nichts von Miß Magdalens Plänen und Handlungen. Ich habe sie den ganzen letzten Monat nicht gesehen.«

»Sie werden natürlich begreifen, daß dies nicht wahr ist,« bemerkte Jack. »Mrs. Simpson ist stets während der Unterrichtsstunden Ihrer Tochter anwesend gewesen. Sie weiß sehr gut, daß Miß Brailsford an ein Theater gegangen ist. Sie hat es selbst gehört, als ...«

»Wollen Sie sich nicht gefälligst um Ihre eigenen Sachen kümmern, Mr. Jack,« entgegnete die Wirtin in scharfem Tone.

»Wenn das Lügen notwendig wird, um Miß Brailsford dienlich zu sein, dann können Sie meinetwegen reden,« entgegnete Jack. »Bis wir soweit sind, halten Sie gefälligst Ihren Mund. Es ist mir ganz klar, Mr. Herbert – Sie wünschen die Adresse dieser unglücklichen jungen Dame, um den Versuch zu machen, sie aus einem ehrenwerten Beruf zu einer albernen, nutzlosen Existenz, die ihr verhaßt ist, gewaltsam zurückzuführen. Aus diesem Grunde werde ich Ihnen keinerlei Auskunft erteilen. Wenn sie in ihrer neuen Karriere kein Glück und keinen Erfolg hat, so wird sie schon aus eigenem Antrieb zurückkommen.«

»Ich fürchte, wir erreichen mit unserm längeren Hierbleiben nichts,« meinte Herbert, den die Gegenwart Mrs. Simpsons peinlich berührte.

»Sie haben ganz recht,« entgegnete Mr. Brailsford. »Ich verzichte darauf, mich fürderhin an diese beiden zu halten. Wir werden andere Schritte unternehmen. Sie werden die Rolle, die Sie bei dieser Sache gespielt haben, noch bereuen, Mrs. Simpson. Und was Sie betrifft, mein Herr, so kann ich nur sagen – ich hoffe bestimmt, dies wird unser letztes Zusammentreffen sein.«

»Ich habe nichts zu bereuen!« rief Mrs. Simpson. »Warum sollte ich ihr nicht behilflich sein, diesem hübschen ...«

»Halt,« unterbrach Jack, »wir haben genug gesprochen. Adieu, Mr. Herbert.«

Adrian errötete und wandte sich der Tür zu.

»So oft Sie mich zu sehen wünschen, sollen Sie mir willkommen sein,« fügte Jack hinzu. »Für den Augenblick aber nehmen Sie wohl besser diesen Herrn mit sich fort.«

Herbert verbeugte sich leicht und schritt hinaus. Er ärgerte sich über die unvermittelte Entlassung und noch mehr über den Versuch, seine Wirkung etwas abzuschwächen. Brailsford schritt in steifer Haltung hinter ihm her und warf empörte Blicke auf Mrs. Simpson und ihren Mieter. Die Komik in dieser Demonstration begann auf Jack zu wirken, der bisher eine unverkennbare Würde zur Schau getragen hatte; er rieb sich die Nase mit der Handfläche und grinste seine Besucher durch die Finger in abscheulicher Weise an.

»Ich habe es Ihnen ja schon einmal gesagt,« bemerkte Brailsford, indem er sich auf der Schwelle noch einmal umwandte, »Sie sind ein ganz gemeiner Seelenverkäufer. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr Gewerbe an den Pranger gestellt und daß der Sache ein Ende gemacht wird.«

»Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt,« entgegnete Jack, indem er seine Hand von der Nase wegzog, »Sie sind ein alter Hanswurst, und ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«

»Scht!« zischte Mrs. Simpson, als Mr. Brailsford seine Handschuhe drohend in der Luft schwang und dann verschwand, »Sie dürfen so nicht zu einem alten Herrn sprechen.«

»Sein Alter gibt ihm nicht das Recht, ungezogen zu sein und mich zu beschimpfen.«

»Hm,« entgegnete die Pensionswirtin, »Ihre eigene Sprache und Ihr Temperament ist auch nicht gar zu süß. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, ich würde mich nicht so verblüfft stellen, wenn ich andere Leute dasselbe tun sehe, wie mich selbst.«

»Was Sie sagen? Und was meinen Sie, was das für ein Gefühl wäre, wenn Sie in meiner Haut steckten, Frau Lügenmaul?«

»Ich würde wenigstens andere Leute nicht vor ihren eigenen Augen als Lügner hinstellen, Mr. Jack.«

»Sie haben es wahrscheinlich lieber, wenn man die Wahrheit hinter Ihrem Rücken sagt. Ich habe mich schon oft gefragt, welcher Teil meiner Musik den Einfluß Ihrer Gesellschaft auf mich an sich tragen wird. Vielleicht meine Giulietta Guicciardi.«

»Ich verbitte mir alle weiteren Anzüglichkeiten und Namennennungen,« entgegnete Mrs. Simpson kurz. »Ich brauche mir dergleichen nicht gefallen zu lassen.«

Jack verließ langsam das Zimmer, als ob er sie bereits ganz vergessen hätte.

Währenddessen klagte Brailsford ihn bei Herbert an:

»Vom ersten Augenblick an, wo ich ihn zu Gesicht bekommen habe, konnte ich mich einer instinktiven Antipathie gegen den Mann nicht erwehren. Ein bösartigeres Gesicht habe ich noch nie gesehen. Und auch noch keine bösartigere Veranlagung.«

»Ich habe sicherlich nichts für ihn übrig,« entgegnete Herbert. »Er hat sich die Kunst als Geschäftsbetrieb angeeignet und weiß nichts von den Prüfungen, die der echte Künstler in seiner Laufbahn durchzumachen hat. Kein Zweifel an sich selbst – keine Neigung, sie aufkeimen zu lassen – nichts als eine eigensinnige, beschränkte Selbstzufriedenheit. Ich könnte ihn fast darum beneiden.«

»So ein junger Lümmel,« rief Mr. Brailsford, ohne auf Adrian zu hören, »so ein Grünschnabel wagt es, mich zu beleidigen! Er soll mir schon daran glauben. Ich habe schon anderen Leuten eine Kugel auf den Pelz gebrannt – sogar einem Herrn von gesellschaftlicher Stellung – und zwar für viel weniger. Und Magdalen – meine Tochter – in intimem, freundschaftlichem Verkehr mit ihm – sie besucht ihn! Neuerdings gehen die Mädel alle zum Teufel, Herbert – schnurstracks zum Teufel gehen sie! Sie wird mir nicht noch einmal entwischen, wenn ich sie zu fassen kriege.«

Mr. Brailsford kriegte Magdalen aber nicht zu fassen. Ihr anmutiges Äußere und die Knüttelverse, die ihr in der Pantomime zufielen, verschafften ihr die Gunst der Nottinghamer Theaterbesucher. Dank diesem Applaus wurde sie es nicht müde, sechs Wochen lang allabendlich ihre minderwertige Rolle herzuleiern. Dies hielt sie auch für das Mißbehagen und die Erniedrigung schadlos, mit einer Sorte Menschen zusammen zu leben, die sie notwendig als unter ihr stehend betrachten mußte, und mit denen sie zusammen zu arbeiten gezwungen war, um ordinäre Menschen mit ordinären Scherzen zu unterhalten und mit einer darstellerischen Entfaltung ihrer Anmut zu bezaubern – nicht nur mit den Reizen ihres Antlitzes, sondern mit denen eines größeren Teiles ihrer Persönlichkeit, als man in Kensington Palace Gardens gemeiniglich zu erblicken gewohnt war. Ihr Kostüm gab ihr anfänglich einen tüchtigen Stoß; aber sie entschloß sich, sich ohne weitere Bedenken damit abzufinden – einmal, weil es einfach ein Teil des Berufs einer Schauspielerin war, derartige Dinge an ihrem Leibe zu tragen, und dann auch, weil sie es deutlich empfand, daß eine Weigerung eine unbescheidene Eingebildetheit in sich schließen würde. Zudem litt sie an keiner moralischen Überzeugung, daß das, was sie tat, unrecht war, während sie keinerlei Zweifel darüber hegte, daß Röcke überhaupt ein Unsinn wären. Doch konnte sie sich nicht dazu bringen, den Verkehr, den ihr das Pantomimen-Ensemble zu bieten vermochte, mit derselben Freimütigkeit anzunehmen. Miß Lafitte, die Hauptdarstellerin, war beim Publikum sehr beliebt – auf Grund ihres lebhaften Temperaments, ihrer Geschicklichkeit im Holzschuhtanz und ihrer Beherrschung des Slang, den sie mit einer schrillen Stimme im rassigsten Whitechapel-Akzent hervorbrachte. Sie faßte eine Art Neigung für Magdalen, die ihr anfänglich aus dem Wege ging. Aber Miß Lafitte – im bürgerlichen Leben Mrs. Cohen – war bereits so gut daran gewöhnt, ihr Lebensschifflein mit ruhiger Kontinuität durch alle Art ihr entgegengebrachter Aversionen hindurchzusteuern, daß sie Magdalens Wesen als Schüchternheit ansah – was es auch tatsächlich war. Sie war eine kraftvolle Persönlichkeit mit einer lauten Sprache, stets voll von allerhand animalischen Neigungen und beim Publikum zu beliebt, um neidisch zu sein. Magdalen, die durch das besondere Entgegenkommen der Erlaubnis, die beste Garderobe mit ihr teilen zu dürfen, sehr peinlich berührt gewesen war, erkannte sehr bald den Vorteil, eine gutmütige und gut angeschriebene Kollegin ihr eigen nennen zu dürfen. Die etwas alkoholfreundliche alte Frau, die dem Theater als Garderobiere zuerteilt war, mußte durch systematisches Anschnauzen und deutliches Schimpfen in Tätigkeit gehalten werden, welches beides Magdalen ihr nicht in genügend wirkungsvoller Weise zukommen zu lassen imstande war. Miß Lafitte dagegen leistete auf dem Gebiet des Anschnauzens geradezu Unerreichtes. Hin und wieder pflegte einer der Schauspieler die Garderobe mit seinem Besuch zu beehren – offenbar ohne die geringste Ahnung, daß Magdalen lieber allein ihre Schuhe anziehen, ihr Haar aufstecken oder ihr Rouge auflegen würde. Miß Lafitte, die, soweit sie selbst in Frage kam, niemals etwas gegen die Anwesenheit der Herren einzuwenden gehabt hätte, pflegte sie jetzt, sobald sie erschienen, zum Verlassen des Zimmers aufzufordern. Hierüber waren sie zwar höchlichst erstaunt; da sie aber keineswegs zudringlich zu sein beabsichtigten, so zogen sie sich gehorsam wieder zurück.

»Machen Sie sich's nur bequem und lassen Sie sich das nicht anfechten, mein Engel,« pflegte sie Magdalen zu beruhigen. »Ich werde schon auf Sie aufpassen. Donnerwetter ja, ich weiß ja, was Sie sind – Sie sind eine Dame! Aber sie werden sich schon an Sie gewöhnen – sie denken sich nichts dabei.«

Magdalen mußte unwillkürlich daran denken, was wohl Jack zu Miß Lafittes Vokalisierung gesagt haben würde, und verwahrte sich gegen jede Art von Prätention, als ob sie irgendwie mehr Dame sein wollte, als irgendeine der anderen, mit denen sie arbeitete. Wenngleich Miß Lafitte die junge Novize sozusagen moralisch freundschaftlich auf die Schulter klopfte und um des lieben Friedens willen allem beipflichtete, so machte sie doch nach wie vor einen Unterschied zwischen ihrem Benehmen in Magdalens Gegenwart und den ungebundenen Demonstrationen ihrer Liebebereitschaft, der sie sich anderswo unumschränkt hinzugeben pflegte.

Am Premierenabend der Weihnachtsvorstellung, während Magdalen damit beschäftigt war, ihre Nerven für ihr Auftreten vor der etwas tumultuarischen Zuhörerschaft zu stählen, machte Miß Lafitte ihr die Mitteilung, daß sie sehr schön aussähe. Sie ermahnte sie mit herzerquickender Freundlichkeit, die Nase hoch zu halten und nicht abzuklappen; sie zog ihre Angst, ihr Gesicht mit gar zu viel Schminke zu bedecken, ins Lächerliche und beschmierte selbst ihre Wangen, zog den Rand ihrer Augenlider mit so viel Schwarz nach, daß die Novize noch durch die Farbstoffmaske zu erröten schien. Als die Glocke ertönte, ging sie mit ihr in die Kulissen, schob sie im richtigen Moment auf die Szene hinaus und überschüttete sie mit enthusiastischen Lobeserhebungen, als sie zurückkehrte. Madge, die kaum wußte, was eigentlich vorgegangen war, zeigte sich für diese Komplimente sehr dankbar und versuchte, sie Miß Lafitte zurückzugeben, als diese in die Garderobe zurückkehrte – völlig erhitzt von der anstrengenden Vorführung eines aktuellen Couplets mit sieben Dakapo-Versen und einer Tanzeinlage zwischen einem jeden derselben.

»Ich bin daran gewöhnt,« meinte Miß Lafitte. »Meine Kenntnisse des ganzen Variétérummels sind es, die mich zu dem machen, was ich bin. Mich bekämen Sie auf der Schauspielbühne nicht zu sehen, das kann ich Ihnen sagen – nur hält nämlich mein Mann in seiner Art auch ein bißchen auf sich – hierin würden Sie sich sehr gut mit ihm verständigen – und er hält das Theater für respektabler. Rentieren tut es sich ja nicht so gut, das kann ich Ihnen sagen – aber es ist natürlich sicherer und hält länger aus.«

»Waren Sie aufgeregt bei Ihrem ersten Auftreten?« fragte Magdalen.

»Na ob und nicht wenig! Ich habe geheult, als ich heraus mußte. Ich war nicht kaltblütig und mutig wie Sie. Aber ich habe mich schneller damit abgefunden. Ihre Sorte kenne ich. Sie werden Ihr ganzes Leben lang aufgeregt sein. Jetzt schere ich mich keinen Deut um irgendein Publikum – noch habe ich's jemals wieder getan nach meinem zweiten Auftreten.«

»Ich mag wohl kaltblütig und mutig ausgesehen haben,« meinte Madge erstaunt, »ich habe mich aber niemals in meinem Leben jämmerlicher gefühlt.«

»Ja, es ist gräßlich! Haben Sie die kleine Lefanu gehört – aufgeblasene kleine Kröte! Ihr Lied wird morgen gestrichen werden. Was sie ist, das ist so die rechte philiströse Gans. Sie tut Gott weiß wie und erzählt allen möglichen Leuten, daß sie niemals in ihrem Leben gewöhnt war, sich mit unseresgleichen abzugeben. Ich weiß ganz genau, was sie ist. Ihr Vater ist Apotheker in Bayswater. Sie wäre überhaupt nur zur Gouvernante zu gebrauchen. Sie sind fünfzigmal mehr wert als sie – auf den Brettern und sonstwo.«

Madge antwortete nicht. Sie überlegte, daß sie daran gedacht hatte, Miß Lafittes Gesellschaft auszuweichen und sich mehr zu Miß Lefanu zu halten, die ein sehr anständiges junges Mädchen war.

»Sie sieht so fade aus, wie ein fünfmal gewaschenes Kattunkleid,« fuhr Miß Lafitte unbeirrt fort. »Und von Sprechen hat sie keine Ahnung. Sie – Sie sprechen reizend – beinah so gut wie ich. Wenn Sie nur ein bißchen mehr damit herauskommen wollten. Bei wem haben Sie gelernt?«

Derweil die Pantomime vierzehn Tage lang im Gange gewesen war, erkannte Madge ihre mißachtende Gleichgültigkeit gegen Miß Lefanu und ihre Zuneigung zu Miß Lafitte. Als diese sie zu einem Souper in ihrer Wohnung einlud, konnte sie es nicht gut abschlagen, wenngleich sie die Aufforderung nicht ohne eine gewisse mißtrauende Besorgnis annahm. Die Sache stellte sich als eine sehr angeregte Abendunterhaltung heraus – es war fast eine Orgie. Einige der »Damen« tranken viel Champagner, redeten in den höchsten Tönen und kreischten, wenn sie lachten. Die Männer machten ihnen mit witzigen Komplimenten den Hof und beantworteten ihre Scherze mit unzweideutigen Sarkasmen. Madge vertrug sich am besten mit den jüngeren und weniger bedeutenden Schauspielern – lauter etwas unzulängliche Gentlemen mit einer schwachen dilettantischen Neigung für Gesang und Darstellung, die auf den Gedanken der Schauspiel-Karriere gefallen waren, nicht, weil sie dazu geeignet gewesen wären, sondern weil sie die menschliche Gesellschaft nicht für etwas anderes geeignet gehalten hatte. Sie simpelten Fach und redeten Kulissengeschwätz als Beigabe zu den landläufigen Gesprächsstoffen, deren sich junge Herren auf Bällen bedienen, und sie beschützten Magdalen nachdrücklich vor dem giftigen Hauch, der von den freieren Gästen herüberwehte. Zuweilen drang doch eine ungewöhnlich gemeine Redensart an ihr Ohr und verursachte ihr eine Empfindung des Ekels und der Erniedrigung. Wenngleich sie sich auch entschloß, weiteren Soupers nicht mehr beizuwohnen, so vermochte sie ihrer Gastgeberin am folgenden Tage dennoch mit ungekünstelter Aufrichtigkeit zu versichern, daß ihr durch die Erfahrungen des gestrigen Abends keine Perle aus der Krone gefallen wäre und daß sie sich bei keiner Soiree in Kensington jemals besser amüsiert hätte. Darob sah sich Miß Lafitte veranlaßt, sie zu umarmen und ihr zu erzählen, daß sie die Königin des Abends gewesen wäre und daß Laddie – eine alttestamentarisch-unisraelitische Abkürzung für Lazarus, den Namen ihres Gatten – sie als eine wirkliche Lady anerkannt und außerordentlich viel Gefallen an ihr gefunden habe. Dann fragte sie Madge, ob sie Laddie nicht für einen sehr hübschen Mann halte. Madge entgegnete, um ihr gefällig zu sein, daß seine dunklen Haare und Augen einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hätten und daß seine Manieren geradezu elegant wären.

»Mit einer Sache kann ich mich noch nicht so recht abfinden,« setzte sie hinzu. »Ich nenne Sie im Theater immer Miß Lafitte – bei Ihnen zu Hause aber sollte ich Sie doch wohl bei Ihrem wirklichen Namen nennen. Ich bin eben in Etikettenfragen noch nicht ganz sicher, nicht wahr?«

»Nennen Sie mich Sal,« entgegnete Mrs. Cohen mit einem Kuß.

Als die Pantomime vom Repertoire verschwand, zerstob das ganze Ensemble in alle Winde. Das einzige Mitglied, dessen Abreise Madge als einen Verlust empfand, war Miß Lafitte. In Zukunft aber verfiel sie nicht wieder in den Fehler, unverbesserliches Rowdietum in Verbindung mit Whitechapel-Akzent mit tatsächlicher Unfähigkeit für den Verkehr in der menschlichen Gesellschaft in einen Topf zu werfen.

Miß Lafittes Rat folgend, nahm Madge ein Engagement als ständiges Mitglied des Nottinghamer Theaters mit einer – für eine Anfängerin recht erheblichen – Gage von zwei Pfund wöchentlich an. Hierfür hatte sie schwer zu arbeiten. Allabendlich mußte sie in zwei Londoner Zugstücken, einer Posse und einem Lustspiel, heraus. Wie bei der Pantomime, so spielte sie auch hier zwei Wochen lang dieselbe Rolle. Dann kamen drei Wochen Shakespeare und regelrechtes Schauspiel, bei dem sie und der Rest des Ensembles einen bedeutenden Tragöden zu unterstützen hatten – einen sehr heftigen und anspruchsvollen Herrn, der von einem Tag zum anderen eine vollständige Kenntnis langer Rollen verlangte. Wenn sie hierbei seinen Ansprüchen nicht genügten – was gewöhnlich der Fall war – so hielt er sie vom Vormittag bis zur Vorstellung auf der Probe und ließ ihnen kaum genügend Pause zum Mittagessen. Der Regisseur, die Musiker, die Dekorationsmaler und sogar die Bühnenarbeiter murrten in verhaltenem Zorn, daß es fast unmöglich wäre, ihm Genüge zu tun. Er verlangte von den Schauspielern kein Eindringen in den Geist ihrer Rolle – man nahm bei ihm eine gewisse Eifersucht auf ihre schauspielerischen Darstellungsversuche an, die außerdem sicherlich nicht immer sonderlich zuträglich waren – aber er wurde von dem unbeugsamen Entschluß geleitet, sie rollenfest und in den Bewegungen und Posen, die er ihnen angab, verläßlich zu wissen. Seine Unzufriedenheit machte sich entweder in Spötteleien oder in Flüchen Luft. Wenn Madge sich auch durch ihre tiefe Empörung allmählich eine unwandelbare Nervenstärke angeeignet hatte, so konnte sie sich doch zuweilen ihrer Tränen nicht erwehren, wie auch bei vielen ihrer Kollegen – bei weiblichen und männlichen – die Widerstandsfähigkeit nach Übermüdung und unaufhörlicher Schikane nachzugeben pflegte. Sie übte sich fleißig auf ihre Rollen ein, die glücklicherweise nicht übermäßig lang waren, um auf diese Weise der Erniedrigung seines Tadels zu entgehen. Einige Male aber hatte er es vermocht, Angst und Haß bei ihr in solchem Maße zu steigern, daß sie bereits im Begriff stand, das Theater gehen und stehen zu lassen und ihren ganzen Beruf an den Nagel zu hängen. Das war viel schlimmer als alles, was sie bei Jack hatte durchmachen müssen; ihm gegenüber war ihre Unterordnung freiwillig gewesen; dem Tragöden gegenüber aber wußte sie sich nicht zu helfen, da sie dafür bezahlt wurde, ihm nach Kräften behilflich zu sein, und nicht wußte, wie sie sich dieser Aufgabe in angemessener Weise entledigen sollte.

Gegen Ende der zweiten Woche gestaltete sich ihre Aufgabe durch die Wiederholung der Stücke etwas leichter. Sie kam im ›Hamlet‹ als Darstellerin der Königin im Schauspiel, als Kammerfrau im ›Macbeth‹ und als Witwe König Eduard des Vierten heraus und begann zum ersten Male eine Art Respekt vor der ernsten, schweigend lauschenden Zuhörerschaft zu empfinden, die das dicht besetzte Haus füllte. Es war eine unbestimmte, dumpfe Vorahnung des Gefühls, daß das Verhältnis, in dem sie als Schauspielerin dem Volke gegenüberstand, weit über alle sonstigen, ihr zugänglichen seelischen Wechselwirkungen emporragte. Hatte der Tragöde etwas Ähnliches als zwischen der Zuhörerschaft und den Darstellern bestehend gefühlt, deren er ja selbst nur ein Teilbestand war, er hätte diese dazu begeistert, die Dramen dem Volke greifbar zu versinnbildlichen. Aber er war nun einmal der »Star« und anerkannte keine Rolle und keinen Einfluß auf die Zuhörerschaft außer dem seinigen.

Sie und ihre Kollegen wurden zu Nullen herabgewürdigt und völlig außer Fassung gebracht; ihre Szenen wurden zusammengestrichen und durchgehetzt; der reisige Kämpe, der als Richmond und Macduff den Star wohl dreimal im blutigen Männerkampfe zu Boden streckte, war der einzige, der sich mit ihm der Ehre eines Hervorrufes vor die Gardine erfreuen konnte. Daß sie einen unüberwindlichen Ekel vor Shakespeare empfanden, war selbstverständlich; und da die Zuhörerschaft dem Tragöden sichtlich den Vorzug vor dem Dichter gab, so hatte sie natürlich auch nichts dagegen einzuwenden, wenn er dem Hause Cibbersche und Garricksche Lesarten fälschlich als echten Shakespeare darbot.

Am zweiten Sonnabend, als Madge sich bereits beglückwünschte, weil sie den nationalen Barden nur noch sechs Tage über sich ergehen zu lassen hatte, verstauchte sich die Hauptdarstellerin den Fuß; sämtliche Arrangements für die kommende Woche wurden über den Haufen geworfen. Am Sonntagvormittag erschien der Regisseur in Madges Wohnung und teilte ihr mit, daß sie sich bereithalten müßte, im Laufe der folgenden Woche die Ophelia, die Lady Anna und die Marion de Lorme in Lyttons Richelieu zu spielen. Das war – wie er noch hinzufügte – für sie eine ganz außerordentliche Chance. Madge war völlig verzweifelt. Immer und immer wieder erklärte sie sich hierzu völlig außerstande und unterfing sich schließlich, den Regisseur darauf aufmerksam zu machen, daß sie nicht für Hauptrollen engagiert wäre. Diesen Einwand überwand er, indem er ihr für die Woche zehn Schilling extra zugestand und sie nachdrücklich darauf hinwies, daß sie als Ophelia geradezu entzückend aussehen würde – daß der Tragöde darauf bestanden hätte, die Rolle ihr zukommen zu lassen, weil er an ihrer Aussprache Gefallen fände – daß seine ganze Bösartigkeit nur so Angewohnheit von ihm sei, die nichts bedeute – daß er sich bereits einverstanden erklärt hätte, den ›Hamlet‹ und ›Richelieu‹ für ›Viel Lärm um Nichts‹ und ›Othello‹ einzuschieben, weil er viel zu rücksichtsvoll wäre, sie um die Darstellung der Beatrice oder Desdemona anzugehen – schließlich, daß er außer sich sein würde, falls sie sich weigern sollte. Sie könne sich doch sicherlich ebenso bereitwillig zeigen, wie die alte Mrs. Walker – setzte der Regisseur hinzu – die doch auch ohne einen Augenblick zu zögern die Lady Macbeth übernommen habe. Madge schämte sich, einer unumgänglichen Notwendigkeit aus dem Wege zu gehen; da sie sich aber gleichzeitig fürchtete, dem Tyrannen bei den Proben zu mißfallen, so widerstand sie den beharrlichen Bitten des Regisseurs, bis sie von einer Art hysterischen Weinkrampfs befallen wurde. Und dann stimmte sie in einem Anfall der Verzweiflung zu und machte nur den Vorbehalt, vom Auftreten in den Possen entbunden zu werden.

Den Sonntag verbrachte sie mit dem Studium der Opheliarolle; es gelang ihr, ehe sie sich von der Kopfarbeit völlig benommen und von der Angst vor dem kommenden Tage ganz elend zu Bett legte, sie zu bewältigen und sich die Selbstüberzeugung beizubringen, daß die anderen beiden Rollen nur eine geringe Zeit zum Lernen in Anspruch nehmen würden. Der ›Hamlet‹ war schon zweimal gegeben worden, so daß nur die Rollen der Ophelia und die der Königin im Schauspiel noch einmal neu geprobt zu werden brauchten.

Am Montagvormittag war der Tragöde nachdenklich und würdevoll, aber sehr schwer zu befriedigen. Bei seiner Szene mit Ophelia hielt er Madge über eine Stunde fest. Sie wollte sich denken, daß sie wirklich Ophelia wäre und er tatsächlich Hamlet; als aber die Zeit heranrückte, wo sie diese etwas primitive Theorie der Schauspielkunst in die Tat umsetzen sollte, wagte sie es nicht, sich selbst für einen Augenblick zu vergessen. Sie mußte ihre Schritte zählen und ihren Auftritt viermal wiederholen, ehe es ihr gelang, sich im richtigen Moment genau auf den Platz zu stellen, in dessen Richtung der Tragöde zu blicken beliebte, wenn er die Worte ausrief: »Still! Die reizende Ophelia!« Längere Zeit hindurch war sie außerstande, ihm das Bündel Briefe in befriedigender Weise zu überreichen. Und als diese Schwierigkeit beseitigt war, erfaßte sie Grauen und Entsetzen, als sie auf seine Worte: ›Ich liebte dich nicht‹, anstatt des richtigen: ›Um so mehr wurde ich betrogen‹, ein: ›In der Tat, mein Prinz, Ihr machtet's mich glauben‹ sagte. Als das Fürchterliche geschah, fuhr er erschreckt zusammen; er starrte sie einen Augenblick lang an und murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen. Dann wandte er sich unvermittelt von der Bühne und ließ sie in sprachloser Verwunderung zurück. Plötzlich wurde sie sich dessen bewußt, was sie begangen hatte. Es zuckte ihr unheilverkündend in den Bäckchen. Doch gewährte es ihr eine tiefgehende Erleichterung, als Hamlet zurückkehrte und, außerstande, seine Empfindungen in Worte zu kleiden, seine Rede wiederholte, ohne ihren Schnitzer weiter mit einem sprachlichen Kommentar zu versehen. Diesmal brachte sie die richtige Antwort heraus, und die Probe nahm ihren Fortgang.

Die neue Königin des Schauspiels hatte weniger zu leiden als Madge eine Woche früher über sich ergehen lassen mußte, insofern der Tragöde sie mit kurzer, trockner Mißachtung behandelte. In der Schauspielszene war er sehr genau, soweit Ophelias Stuhl und Fächer in Frage kam. Sobald aber dies alles zur Befriedigung erledigt war, verließ er das Theater, ohne sich weiter um die Szene zu kümmern, in der er selbst nicht auftrat. Madge war während der Probe dieses Teils der Tragödie fast gänzlich ihrer eigenen Erfindungsgabe überlassen; bald empfand sie den Mangel seiner peremptorischen Führerschaft und bedauerte seine Abwesenheit fast ebenso, wie sie sich dadurch erleichtert fühlte. Die Königin, die wie alle anderen Schauspielerinnen auf Madges raschen Aufstieg neidisch war, benahm sich geradezu unerhört; der König probte mit offenkundiger Unaufmerksamkeit, da er schlechter Laune war, weil er überhaupt proben mußte. Jeder der Anwesenden zeigte deutlich, daß er der Szene nicht die geringste Wichtigkeit beimaß; und Madge sang ihr Liedchen im herzbrechenden Bewußtsein ihrer kollegialen Unbeliebtheit und Lächerlichkeit.

Die Vorstellung selbst hielt sie für die Unbilden der Proben schadlos. Der Tragöde übertraf sich selbst. Madge mußte ihn bewundern, wenn er auch bereits im fünfzigsten Jahre stand und persönlich unliebenswürdig mit ihr war. Für die Art, in der sie sich des ihrer gemeinsamen Szene folgenden Monologes entledigte, erhielt sie als eine Abschlagszahlung auf den Enthusiasmus, den er hervorgerufen hatte, eine Applaussalve, die ihr um so mehr wohltat, als sie nicht auf den Gedanken kam, er könne den besseren Teil bereits für sich vorweg genommen haben. Ophelias Wahnsinnsszene folgte das Auditorium mit Wohlwollen; weder ihr tiefer Ernst, der eine Folge ihrer nervösen Unruhe war, noch ihr liebliches Aussehen verfehlte seinen Eindruck auf das Publikum.

Am nächsten Tage hatte sie Zeit genug, die Rolle der Prinzessin Anna in der Cibberschen Bearbeitung des »Richard der Dritte« zu studieren. Die Probe hierzu fand am Mittwoch statt. Diesmal war der Tragöde derartig hochfahrend, verbesserte sie so häufig und in so unwirscher Weise, daß sie, als er ihr sein Schwert hinreichte und sie bat, ihn niederzustoßen, ihn am liebsten beim Wort genommen hätte. In der Szene, die Richards häuslichem Leben gewidmet ist und in der er seine Gattin von seiner Abneigung gegen sie in Kenntnis setzt, sprach er die Textworte nicht nur mit einer kaltherzigen Wildheit, die ihr einen Schauder über den Rücken jagte, sondern überschüttete sie auch noch in höchst überflüssiger Weise mit einer Anzahl in den Bart gemurmelter Flüche und Schimpfworte. Schließlich konnte sie nicht umhin, ihrem Ärger durch einen Blick der Empörung Ausdruck zu verleihen, der jedoch angesichts seines Stirnrunzelns sofort in nichts zerfloß. Als die Probe, die trotz ihrer Unvollständigkeit von elf bis vier Uhr gedauert hatte, schließlich zu Ende war, fühlte sich Madge sehr unwillig und abgespannt. Als sie abtrat, ging sie nahe an Richard vorbei, der in liebenswürdigster Weise sich mit dem Regisseur und einem der Schauspieler unterhielt. Erst am Abende vorher hatte er mit augenblicklichem Verlassen der Bühne gedroht, weil jener sein königliches Gefolge um zwei Mann schmälern wollte. Dem andern hatte er eine absichtliche Beleidigung vorgeworfen, weil er ohne Sporen auf der Bühne erschienen war.

»Wer ist diese kleine Person?« fragte er laut mit einer Gebärde auf Madge.

Der Regisseur schien über diese Erkundigung etwas erstaunt und gab eine Antwort, die ihr Ohr nicht erreichte, insofern seine Stimme und Ausdrucksweise etwas weniger volltönend und deutlich war als die des Tragöden.

»Unfraglich hat sie mit mir gemimt – dessen bin ich mir inne. Wes ist ihr Name und Sippschaft?«

Der Regisseur teilte ihm das Gewünschte mit.

»Komm einmal her!« wandte er sich in seiner großspurigen Art an Madge. Sie errötete und blieb stehen. »Komm her!« wiederholte er etwas nachdrücklicher. Sie besaß zu wenig Erfahrung, als daß sie sich ihres Rechts auf eine etwas respektvollere Behandlung bewußt gewesen wäre, und so näherte sie sich ihm langsam. »Wer hat dich sprechen gelehrt?«

»Ein Herr in London,« entgegnete sie etwas kühl, »ein Herr Jack.«

»Jack?« Der Tragöde hielt inne. »Jack?« Dann setzte er mit einem Lächeln und einer graziösen Aktion seines Handgelenkes hinzu: »Von dem vernahm ich nichts.«

Die beiden anderen Männer lachten.

»Möchtest du mit mir eine Tour durch die Provinz machen – allabendlich mit mir mimen?«

»Oho,« unterbrach der Regisseur aufgeräumt, »da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden! Ich kann sie nicht entbehren.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben,« entgegnete Madge, deren ganze Erregung plötzlich in einem ärgerlichen Wortschwall explodierte, »ich denke nicht daran, meinen Kontrakt zu brechen – besonders jetzt nicht, wo der unangenehmste Teil davon vorüber ist.«

Dann schritt sie hochrot und mit schmollender Empörung von dannen.

Am folgenden Tage machte ihr der Regisseur die Mitteilung, daß sie Unheil heraufbeschworen und sich ihre ganze Karriere verdorben hätte, da sie die Liebenswürdigkeit, die ihr, einer Anfängerin, von dem größten Tragöden der modernen Bühne zuteil geworden wäre, in so undankbarer Weise abgewiesen habe. Hierauf erwiderte sie, daß sie sich nicht bewußt wäre, von dem größten Tragöden der modernen Bühne etwas anderes als Grobheiten in Empfang genommen zu haben und daß sie sehr froh wäre, falls er sich über sie geärgert hätte. Der Regisseur schüttelte verständnislos das Haupt und zog sich zurück, während er allerhand des Sinnes vor sich hin murmelte, daß eine einzige Woche Führende-Rollen-Spiels ihr den Kopf verdreht hätte. Der Tragöde, der – als furchtgebietende Persönlichkeit, die er nun einmal bedeutete – durch ihren Angriff tief verwundet und völlig außer Fassung gebracht worden war, kümmerte sich fürderhin nicht mehr um sie, verlangte keine neue Probe der Ophelia und ließ ihr in der kleinen Rolle der Marion de Lorme nur einige kurze Befehle zukommen. Schließlich wandte er Nottingham den Rücken; und am selben Tage legte sich Madge zum ersten Male seit seiner Ankunft frei von Sorge zum nächtlichen Schlummer nieder.

Ihre nächste Rolle war die eines Landmädchens in einem irischen Melodrama. Sie sah in ihrem Connemara Cloak und kurzen Rock sehr niedlich aus; aber sie fühlte sich durch den notwendigen irischen Bühnendialekt sehr behindert, insofern er ihre Aussprache geradezu unangenehm englisch erscheinen ließ. Während dieser Epoche wurde sie durch die andauernde Gegenwart eines jungen Herrn im Parkett sehr geärgert, der sich damit beschäftigte, ihr Buketts zuzuwerfen; er ging ihr bis zu ihrer Wohnung nach; schließlich schrieb er ihr einen Brief, in dem er sie als ein märchenhaftes Rotkäppchen bezeichnete, seine Stellung und Aussichten klarlegte und sie bat, seine Frau zu werden. Madge zögerte eine Weile hinsichtlich der Zweckdienlichkeit einer Beachtung seines Ersuchens und beantwortete sein Schreiben mit einigen Zeilen, in denen sie sein Anerbieten dankend ablehnte, und ihn in seinen Blumengaben Einhalt zu tun bat, da diese – wie sie schrieb – für sie nur eine Quelle der Unzuträglichkeiten und nicht der Freude wären. Von diesem Augenblick an saß der junge Mann – statt wie früher zu applaudieren – mit verschränkten Armen und düsterer Miene auf seinem Parkettsitz. Madge hatte sich inzwischen hinlänglich an die Bühne gewöhnt, um die Gesichter im Publikum erkennen zu können; sie bemühte sich, nicht in seiner Richtung zu sehen; nach Verlauf einer Woche stellte er daher seine Theaterbesuche ein und ward von ihr nicht mehr gesehen.

Das irische Melodrama wanderte in die nächste Stadt weiter; für vierzehn Tage trat eine englische Operngesellschaft an seine Stelle. Während dieser Zeit empfand Madge die Muße als eine Last, insofern sie an den Aufführungen nicht teilnahm, wenngleich sie aus alter Gewohnheit täglich ins Theater ging. Sie war froh, als sie in einem modernen Stück wieder zu tun hatte, mit dem eine populäre Schauspielerin eine Provinztournee unternahm. Diese Künstlerin war eine liebenswürdige Dame. Schließlich stellte Madge die Celia in ›Was Ihr wollt‹ zu ihrer Benefizvorstellung dar, und zwar ohne jegliches Wiederauftauchen der Shakespearefurcht, die der Tragöde in ihre Seele zu verpflanzen gewußt hatte. Nach und nach begann sie auf den weltbedeutenden Brettern mit zwangloser Leichtigkeit einherzugehen. Anfänglich hatte sie der Zwang, sich pünktlich in gewisse szenische Situationen einzufügen und ihren Auftritt und Abgang an der vorgeschriebenen Bühnenseite vorzunehmen, derartig präokkupiert, daß alle ungezwungene Aufmerksamkeit und Identifizierung mit der Rolle, die sie darstellte, ihr völlig unmöglich gewesen wäre. Sich der gestellten Aufgabe an Worten und Bewegungen mit peinlicher Genauigkeit zu entledigen – das war das meiste, was sie zu leisten hoffen konnte. Jetzt aber begannen die mechanischen Nebenbestandteile ihrer Kunst sie nicht nur nicht mehr abzulenken, sondern sie setzten sie sogar in die Lage, sich vorher einen Plan auszuarbeiten, der der Beeinträchtigung durch die Proben erfolgreich Widerstand leisten konnte. Sie gewöhnte sich daran, das Studium nicht nur an der Hand der Textbücher vorzunehmen, sondern mit der ausgeschriebenen Rolle. Sie prägte sich erst ihre Partie ins Gedächtnis und fand erst nachträglich heraus, worum es sich eigentlich handelte. Sie war, was die Schauspieler eine schnelle Lernerin nennen. In Nottingham, wo außer dem Hauptstück allabendlich noch eine, oft sogar zwei Possen gegeben wurden, fehlte es ihr nicht an Übung. Nach vier Monaten stand sie in Routine nur dem Komiker und der komischen Alten nach und war dem Rest des ständigen Ensembles bei weitem überlegen, dessen zahlreichere Mitglieder weder natürliches Talent noch irgendwelche Neigung für die Bühne besaßen und sich auf den Brettern nur den Lebensunterhalt erwarben, weil ihre Eltern am Theater gewesen und sie so gleichermaßen in ihren Beruf hineingeboren worden waren.

Magdalens künstlerische Erfahrung gestaltete sich in der Folgezeit abwechslungsreich, wenngleich ihr tägliches Leben an Monotonie nichts zu wünschen übrig ließ. Andere Tragöden kamen nach Nottingham, aber keiner war halb so furchtgebietend, noch – wie sie zögernd zugab – annähernd so talentiert wie jener, der sie die Szene mit Hamlet gelehrt hatte. Einige von ihnen weigerten sich überhaupt, sich der Mühe einer Probe zu unterziehen, und schickten ihre Substituten, die sie in jeder geringfügigsten Bewegung nachahmten und das Ensemble so auf das Spiel mit dem Darsteller selbst eindrillten. Gelegentlich gab auch eine Rolle in einem modernen Salonstück Madge Gelegenheit, ihre Kenntnis der fashionablen Gesellschaft und ihren guten Geschmack in modernen Toiletten auszunutzen. In der darauf folgenden Woche hatte sie ebenfalls wieder in einem sensationellen Melodrama zu tun und, von duftigem weißen Musselin umhüllt, in den Armen eines Taschendiebes in Manchestersammet und mit sorgfältig besudelten Kleidern und Händen einen Ringkampf durchzumachen. Einmal auch mußte sie mit dem Wrack einer ehemals berühmten Schauspielerin zusammen spielen, die niemals ganz frei von den Folgeerscheinungen des Kognaks war und die Madge höchlichst in Erstaunen versetzte, insofern sie auf der Bühne kerzengerade einherschritt, während sie doch außerhalb derselben nicht gerade zu stehen vermochte.

Dann kam wieder Shakespeare, Sensationsdrama, irisches Melodrama, Operette oder Pantomime und neues Londoner Lustspiel – immer und immer wieder dasselbe mit der unweigerlich zugehörigen einaktigen Posse. Rollenstudium, Probe, Vorstellung wurden ein Teil ihrer täglichen Gewohnheiten. Ihr früherer Enthusiasmus für die Scheinaffekte der Bühne ließ allmählich nach; dafür erwachte der Wunsch, sich eine größere Geschicklichkeit in der Handhabung der Sprache anzueignen, und zwar durch eine Reichhaltigkeit in der Abtönung nach Sinn und Gedanken, wie Jack ihr eine solche, soweit das rein Sprachliche in Frage kam, mit auf den Weg gegeben hatte – ferner dadurch, daß sie den bereits erlernten effektvollen Gebärden noch möglichst viele gleichartige hinzufügte. So oft sie im Theater nichts zu tun hatte, hielt sie sich in ihrer Wohnung auf, übte sich in der Handhabung der Schleppe, in der anmutigen Anordnung der Röcke beim Hinsetzen, oder sie versuchte ihre Gesichtszüge vor dem Spiegel dem Wechsel der Seelenstimmung nach in die entsprechende Lage zu bringen. Dieser letzte Bestandteil ihrer Berufsfertigkeit war der bei weitem mühsamste. Zu ihrem großen Erstaunen hatte sie von Jack gelernt, daß sie mit ihrem Gesicht keineswegs lediglich dadurch Ärger oder Verachtung zum Ausdruck bringen konnte, daß sie Ärger oder Verachtung empfand. Der Erfolg einer solchen Methode bestand einzig und allein in einem gezwungenen Stirnrunzeln, das durchaus keinen erfreulichen Anblick bot; sie brauchte daher auch geraume Zeit, ehe sie sich völlige Herrschaft über ihre Gesichtszüge und ein künstlerisches Verständnis in deren Verwendung aneignete. Zuweilen verfiel sie irrtümlich in Übertreibung und es mißlang ihr, die Anstrengung zu verbergen, die solch einstudiertes Agieren voraussetzte. Dann wieder verfiel sie ins Gegenteil übermäßiger Zahmheit und der Konventionellität. Und wenn sie hiervon wieder abkam und eine Modifikation der ersten Darstellungsweise anstrebte, so gefiel ihr auch diese nicht und sie änderte sie von neuem.

Erst nach zwei Jahren andauernden Studiums und Übens fühlte sie sich Herrin eines nahezu umfassenden Systems – und damit fühlte sie sich denn auch tatsächlich als Schauspielerin. Sie belächelte die Ansicht, daß das Gefühl irgend etwas mit der Kunst zu tun habe und ging ernstlich mit dem Gedanken um, eine Schülerin anzunehmen, da sie sich zutraute, aus irgendeinem Mädchen eine Schauspielerin zu machen, insofern die ganze Sache eben nur auf Übung beruhe.

Als diese neuerliche Entwicklungsphase vier Monate angedauert hatte, begann sie eine Liebelei mit dem jungen Direktor einer auf der Tournee begriffenen Gesellschaft. Als unmittelbare Folge hiervon gingen ihr plötzlich die Augen zu der Erkenntnis auf, daß das Publikum ihr umfassendes System nicht mehr gebührend würdige und daß sie es demzufolge auch selbst satt habe. Sie warf es augenblicklich von sich und jagte es für ewige Zeiten in alle Winde. Die Mühe des Studiums, die es sie gekostet hatte, setzte sie tief unterm Werte an und erklärte – gleichsam aus Wut gegen ihre frühere Ansicht – daß Studium und Übung völlig wertlos wären und die einzig haltbare Methode darin bestünde, Geist und Herz zu pflegen und die Art der Darstellung sich selbst zu überlassen. Sie pflegte ihren Geist, indem sie bedeutende Schriftsteller las und so bedeutsam dachte, wie sie hierzu imstande war. Und was die Pflege des Herzens betraf, so eröffnete ihr der Theaterdirektor, daß das Geheimnis dieser Kunst in der Liebe läge.

Nun wollte es aber das Schicksal, daß dieser Direktor zwar ein recht hübscher und gutmütiger Mensch, aber keineswegs begabt noch sehr ernst veranlagt, noch in der Lage war, irgendwelcher Versuchung auf dem reizvollen Gebiete der Liebe zu widerstehen. Madge vermochte sich nicht darüber klar zu werden, wer von ihnen beiden sich zuerst in den Netzen der Liebe verfangen hätte. In Wahrheit hatten sie sich beide verfangen, und Madge gelangte zu der Erkenntnis, daß ihr die Liebe in jeder Hinsicht sehr gut bekam. Sie steigerte ihr körperliches Wohlbefinden; sie weitete die Kenntnis ihrer selbst und der Welt; sie erhöhte das Verständnis für die Rollen, öffnete den Quell der Gefühlsfähigkeit, der zuvor weder auf noch von der Bühne frei einhergeflossen war, entfernte die Scheidewand, die sie bisher von ihresgleichen getrennt hatte und vertauschte ihr unbestimmtes Sehnen, Fürchten, Zweifeln und die Anfälle von moralischem Katzenjammer mit einer gehobenen Lebensfreudigkeit, in der sie sich endgültig als vollgültiges Weib fühlte.

Indes sollte sich auch das zärtliche Zugehörigkeitsgefühl zu dem unbewußten Werkzeug der durchgreifenden, an ihr vollzogenen Veränderung als vergänglich erweisen. Die intellektuellen Hilfsmittel des Direktors waren nur spärlicher Art: als seine Courmacherei abflaute, wurde er unerträglich langweilig. Abermals nach einer Weile rissen die beruflichen Pflichten sie voneinander, und seine Korrespondenz endigte mit einem völligen Niederbruch. Madge ging die Trennung nicht sonderlich nahe. Die Liebeleerheit erfüllte sie mit einem gewissen Behagen. Und ehe diese voll ausgekostet war, träumte sie bereits von einer neuen Liebe – und zwar in Gestalt eines jugendlichen Operettenlibrettisten, den sie völlig bezauberte und behexte und der, aus Reue, sie behext zu haben, zeitweilig näher daran war, seinem Dasein vermittelst einer Schußwaffe ein jähes Ende zu bereiten, als sie solches jemals ahnte. Seine Liebe zu ihr war nahezu widerlich in ihrer Unterwürfigkeit. Da Madge ihren Aufenthaltsort aber schließlich veränderte und das Briefschreiben an ihn sehr bald einstellte, so gelang es seinen Eltern – allerdings erst nach unsäglicher Mühe – ihn davon zu überzeugen, daß sie ihn nicht mehr liebe.

Doch soll hiermit keineswegs der Annahme Raum gegeben werden, als ob diese Erlebnisse Madge ihre Selbstachtung gekostet hätten. Nach Maßgabe ihres angeborenen Instinkts hielt sie auf ihre Anständigkeit, nahm keine Geschenke an, duldete keine Annäherung von Männern, bei denen nicht wirklich eine Saite der Neigung in Schwingung geraten war, beschränkte ihr Temperament auf die Kunst, so oft andere der Berücksichtigung würdige Ansprüche fehlten, verkaufte sich niemals und warf sich niemals weg – und wäre jederzeit bereit gewesen, sich mit Poesie ohne Liebe zufrieden zu geben, statt eine Liebe ohne Poesie über sich ergehen zu lassen. Für ihre verheirateten Kolleginnen empfand sie ein gewisses Mitleid, insofern diese, wie sie sehr wohl wußte, sich nicht in der Lage befanden, so widerwärtig, abstoßend und zurückhaltend zu sein, wie ihr solches instinktiv als zu einer großen Künstlerin gehörig erschien. Die sogenannte bessere Gesellschaft gab vor, ihr mit Achtung zu begegnen, wenn sie darum angegangen wurde, bei Basaren oder Wohltätigkeitskonzerten zu rezitieren. Anderweitig kam sie mit ihr nicht in Berührung, noch kümmerte sie sich um ihre Konformität mit ihren Gesetzen, da sie als Schauspielerin von vornherein außerhalb der guten Gesellschaft stand. Der Ostrazismus, der solche Frauen besonders hart trifft, deren ganzer Ehrgeiz darin besteht, Leute von allgemein zugestandener Stellung zu kennen und von ihnen gekannt zu werden – diese Ausschließung reicht andererseits nicht an die Frau heran, die in einer, in gemeinsamer Arbeit zusammen wirkenden Genossenschaft ihr Betätigungsfeld findet und vom Publikum allabendlich zum mindesten dies oder jenes Wort oder Zeichen des Willkommens erhält.

Soweit die Kirche in Frage kam, so hatte diese niemals irgendwelche Gewalt über Madge besessen, sie deuchte sie eine recht ermüdende Heuchelei, die mit ihrem Leben selbst in keinerlei Verbindung stand. Ihre religiöse Anschauungsweise äußerte sich im Glauben an die Bibel, weil diese Moses von Gott unmittelbar diktiert worden war – und im Kirchenbesuch als einer Pflicht, deren Erfüllung die Respektabilität ihres Vaters von ihr forderte. Da sie von ihrem schulgeistlichen Unterricht wußte, daß der Bibelglaube ebenso veraltet wäre wie der Hexenglaube, da sie ferner die Respektabilität so verachtete, wie nur solche Menschen sie verachten können, die von ihrer Süßigkeit gekostet haben – so war sie aller frömmlerischen Skrupel frei. Gewohnheit, Vorurteil und angeborene moralische Feigheit beeinflußten sie jedoch ausreichend, um sie zur Aufrechterhaltung eines angemessenen Scheins anzuhalten und von jeglichem Widerspruch gegen die normalgültige Voraussetzung zu bewahren, daß ihre kleinen heimlichen Intermezzos der Liebes- und Poesieleidenschaft Sünde wären. Doch durchlebte sie keinen einzigen Augenblick echter Reue, nachdem sie einmal die Entdeckung gemacht hatte, daß solche Sünden als Bestandteile ihrer vollgültigen Leistungsfähigkeit als Schauspielerin gelten mußten. Sie hatten Töne in ihre Stimme gelegt, die Jacks Unterricht sie niemals hätte lehren können, und sie vermochte sich jetzt durch ihre beruflichen Kenntnisse selbst derartig zutreffend zu beurteilen und abzuschätzen, daß schon dies allein für sie einen Zuwachs und keinen Verlust an Selbstachtung bedeutete.

Nur wenn sie schlecht spielte, fühlte sie sich gedrückt. Hätte einer der Geistlichen, die sie zuweilen mit ausgiebigen Komplimenten um eine Rezitation bei einem Schulfest oder etwas dergleichen angingen, sie statt dessen gefragt, welchen Nutzen es ihr bringen könne, die ganze Welt zu gewinnen und an ihrer Seele Schaden zu nehmen – sie würde mit ungekünstelter Aufrichtigkeit geantwortet haben, daß sie die ganze Welt des ›Was werden die Leute sagen‹ aufgegeben und ihre eigene Seele gewonnen habe, und daß dieser Tauschhandel – ganz gleich, ob der Herr Geistliche ihre Äußerung für angebracht halte – ihr in erklecklichem Umfang zum Nutzen gereicht habe.

Alles dies aber gehörte einer späteren Periode an, die erst nach den zweieinhalb Jahren ihres in Nottingham begonnenen Noviziats eintrat. Die dreißig Monate gingen keineswegs ohne Anfälle von Entmutigung vorüber, während derer sie am Erfolge verzweifelte und ihren Beruf haßte.

In Nottingham blieb sie bis zum Juli, bis das Theater für einige Zeit nicht spielte. Sie schloß sich einer Reisegesellschaft an, besuchte verschiedene Städte und erhielt schließlich in Leeds ein festes Engagement. Von dort ging sie nach Liverpool, woselbst sie drei Monate verblieb; nach Ablauf dieser Zeit folgte sie dem Anerbieten des Direktors eines Edinburgher Theaters – und zwar mit einer Gage von fünf Pfund wöchentlich, der höchsten, die sie bisher für ihre Leistungen erhalten hatte.

Dort harrte sie bis zum August des zweiten Jahres ihres beruflichen Lebens aus – bis sie zum erstenmal in London auftrat und über die abweisende Kühle des hauptstädtischen Publikums, das sich zudem zu jener Jahreszeit recht spärlich eingefunden hatte, empört war. Mit Freude kehrte sie daher in die Provinz zurück, wenngleich sie hier zu ihrem großen Leidwesen ihre alte Bekanntschaft mit dem Tragöden auffrischen mußte, mit dem sie gleich auf der ersten Probe in einen sehr leidenschaftlichen und für sie siegreichen Wortwechsel geriet. Jetzt wagte sie sich als erste Liebhaberin auch an die Rollen der Beatrice, Portia und Lady Macbeth – mit einem Achtungserfolg in der ersten, mit durchschlagendem Erfolg in der zweiten – in der dritten mit der knappen Umschiffung eines gründlichen Durchfalls, der sich von ihrer unbedeutenden Darstellungsweise herleitete.

Um diese Zeit hatte sie sich bei den Provinzialdirektoren den Ruf einer verläßlichen, fleißigen jungen Person erworben, die in nicht gar zu tragenden Hauptrollen sehr gut verwendbar war und von der man annehmen konnte, daß sie sich mit mehr Routine verbessern würde. Ihrer eigenen Meinung nach zollte man ihr nicht die genügende Anerkennung für die nach ihrer Ansicht langsame und mühevolle Arbeit, die ihre Fortschritte sie gekostet hatten. Und in diesen Tagen baute sie sich auch ihr umfassendes System auf, das, wenngleich es sich nur als sehr kurzlebig erwies, doch den Hauptbestandteil ihrer Fähigkeiten ausmachte. Sie hatte sich erschöpfend mit der Bildung ihrer Kunst abgeben müssen, bevor sie an eine höhere Arbeit gehen konnte – an die Bildung des eigenen Ichs als die Quelle jener Kunst.

Nicht lange nach ihrer Flucht aus London war sie durch ihren einundzwanzigsten Geburtstag in die Lage versetzt worden, der Einmischung ihrer Familie die Stirn bieten zu können. Sie setzte ihren Vater brieflich von ihrem Aufenthaltsort in Kenntnis und teilte ihm ihre Absicht mit, unter allen Umstanden bei der Bühne zu bleiben. Er ließ ihr durch seinen Rechtsanwalt antworten und sagte sich formell von ihr los. Madge schenkte dieser Tatsache keine Beachtung. Demzufolge überwies ihr der Anwalt einen Scheck über hundert Pfund, kündigte ihr diese Summe als das einzige an, was sie von ihrem Vater zu erwarten hätte, und ersuchte sie, jegliche Annäherungsversuche an diesen von vornherein zu unterlassen. Madge trug sich mit dem Gedanken, das Geld zurückzuschicken, wovon ihr jedoch aufs leidenschaftlichste von Mrs. Cohen abgeraten wurde, die sich damals noch in Nottingham aufhielt. Später, als die Notwendigkeit einer Bühnengarderobe an sie herantrat, erwies dieser Rat sich als sehr nützlich.

Madge schrieb, ohne die Weisungen des Anwalts innezuhalten, ihrem Vater, dankte ihm für das Geld und machte ihm seinen Widerstand gegen ihre Pläne zum Vorwurf. Er antwortete in einem ausführlichen Schreiben. Mit der Zeit entspann sich hieraus eine monatliche Korrespondenz. Die Familie fand sich im geheimen mit Madges Schauspielerinnenberuf ab, erzählte jedoch zur Begründung ihrer Abwesenheit in der Öffentlichkeit allerhand Lügengeschichten. Im folgenden Jahre wiederholte sich die Schenkung von hundert Pfund; manche Schauspielerin, der die Familie eher zur Last fiel statt sie zu unterstützen, beneidete Madge um ihre Unabhängigkeit.

Auch an Jack schrieb sie einen Brief. Sie erzählte ihm, daß sie ihren ganzen Erfolg, insbesondere ihren frühzeitigen Aufstieg von der Königin im Schauspiel zur Ophelia der Art des Versesprechens verdanke, wie sie sie von ihm erlernt habe. Nach langer Zwischenzeit antwortete er ihr mit einem Schreiben, in dem gute Wünsche und Ermutigungen aufs seltsamste mit unzusammenhängenden Aphorismen wechselten. Dieser Brief erforderte keine Antwort, und so schrieb sie ihm denn auch nicht mehr, wenngleich sie den Wunsch dazu oft verspürte.

Solchermaßen vollzog sich die Wirklichkeit, die für Madge die Stelle ihrer Phantasien vom Schauspielerinnenleben einnahm.


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